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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Reichstag und Verfassung

könne. Mit dem konstituierenden Reichstage des Norddeutschen Bundes hatte
die eigentümliche, den deutschen Verhältnissen entsprechende Handhabung des
konstitutionellen Verfassungslebens begonnen, die sichtbaren Früchte der ersten
Tagung erhöhten die Schaffensfreudigkeit der folgenden, und die guten Nach¬
wirkungen davon zeigten sich noch im deutschen Reichstage bis zu Ende der
siebziger Jahre, wo sie erschlafft waren und nach und nach dem heute niemand
erfreulichen Zustande des Parlamentarismus Platz gemacht haben.

Von den Umwälzungen, die vor mehr als einem Jahrhundert von Frank¬
reich ausgingen, sind den Staaten und den Völkern des europäischen Festlandes
namentlich die Verfassungen und die Parlamente geblieben, die ihre Wanderungen,
Rußland ausgenommen, durch alle Länder genommen haben, denn auch die
Türkei hat vor fünfundzwanzig Jahren unter Mithcid Pascha eine parlamentarische
Episode gehabt. Man darf darum das neunzehnte Jahrhundert mit gutem Recht
das Jahrhundert der Verfassungen und Parlamente nennen. Anfangs überall
mit Begeisterung aufgenommen, zogen sie in allen Völkern die bedeutendsten
Köpfe an, waren der Schauplatz beachtenswerter geistiger Kämpfe, sind aber
überall nach und nach an Gehalt und Tätigkeit zurückgegangen. Das ist eine
allgemeine Erscheinung, deren beschämenden Wahrheit sich unsre so fortgeschrittne
Zeit nicht verschließen kann. Sogar in England, das in der parlamentarischen
Entwicklung seinen ältern eignen Weg gegangen ist, tritt sie hervor; jedoch trägt
dort, wie sonst höchstens nur noch in Deutschland, das parlamentarische Leben
den gesellschaftlichen Formen der gebildeten Kreise Rechnung und weicht in beiden
Ländern nur selten davon ab. Aber doch ist in neuerer Zeit das prachtvolle
Reichstagsgebäude in Berlin schon der Schauplatz von Auftritten gewesen, die an
Volksversammlungen erinnerten, und die sich um des Ansehens der obersten Ver¬
tretung eines gebildeten Volkes willen nicht wiederholen dürfen. Sie werden auch
aller Voraussicht uach nicht wiederkehren, aber die Erinnerung daran läßt nur mit
Wehmut daran zurückdenken, daß das junge Deutsche Reich schon eine glänzende
parlamentarische Zeit gesehen hat, die kaum ein Menschenalter hinter uns liegt,
und die an nationaler Höhe und politischer Größe nicht von den gepriesensten
Perioden des englischen Parlaments im vorigen Jahrhundert übertroffen wird.
Das deutsche Volk ist vollkommen dafür geeignet und hätte heute noch die
Männer dazu, auch im parlamentarischen Leben an der Spitze der Kultur¬
staaten stehn zu können, wenn nur manches anders wäre.

Die Tatsache des Rückgangs wird in Deutschland allgemein empfunden
und hat auch schon Vorschläge zur Abhilfe hervorgerufen, von denen der
häufigste aber auch bedenklichste auf Einschränkung des Wahlrechts hinausläuft.
Für eine so einschneidende Änderung der Verfassung liegt noch kaum ein aus¬
reichender Grund vor, Mißbrüuche sind bei jedem Wahlrecht möglich und
können eine den wirklichen Interessen des Volks nicht dienende Volksvertretung
zur Folge haben; die während der preußischen Konfliktszeit nach dem Drei¬
klassenwahlrecht gewählten zweiten Kammern, die sich grundsätzlich über ihre
Macht täuschten und die politische Lage trotz allen Winken und Hinweisen nicht
erkennen wollten, sind doch der sprechendste Beweis dafür. Seit jener Zeit hat
dasselbe Wahlgesetz in Preußen ganz andre Resultate ergeben. Es kommt


Reichstag und Verfassung

könne. Mit dem konstituierenden Reichstage des Norddeutschen Bundes hatte
die eigentümliche, den deutschen Verhältnissen entsprechende Handhabung des
konstitutionellen Verfassungslebens begonnen, die sichtbaren Früchte der ersten
Tagung erhöhten die Schaffensfreudigkeit der folgenden, und die guten Nach¬
wirkungen davon zeigten sich noch im deutschen Reichstage bis zu Ende der
siebziger Jahre, wo sie erschlafft waren und nach und nach dem heute niemand
erfreulichen Zustande des Parlamentarismus Platz gemacht haben.

Von den Umwälzungen, die vor mehr als einem Jahrhundert von Frank¬
reich ausgingen, sind den Staaten und den Völkern des europäischen Festlandes
namentlich die Verfassungen und die Parlamente geblieben, die ihre Wanderungen,
Rußland ausgenommen, durch alle Länder genommen haben, denn auch die
Türkei hat vor fünfundzwanzig Jahren unter Mithcid Pascha eine parlamentarische
Episode gehabt. Man darf darum das neunzehnte Jahrhundert mit gutem Recht
das Jahrhundert der Verfassungen und Parlamente nennen. Anfangs überall
mit Begeisterung aufgenommen, zogen sie in allen Völkern die bedeutendsten
Köpfe an, waren der Schauplatz beachtenswerter geistiger Kämpfe, sind aber
überall nach und nach an Gehalt und Tätigkeit zurückgegangen. Das ist eine
allgemeine Erscheinung, deren beschämenden Wahrheit sich unsre so fortgeschrittne
Zeit nicht verschließen kann. Sogar in England, das in der parlamentarischen
Entwicklung seinen ältern eignen Weg gegangen ist, tritt sie hervor; jedoch trägt
dort, wie sonst höchstens nur noch in Deutschland, das parlamentarische Leben
den gesellschaftlichen Formen der gebildeten Kreise Rechnung und weicht in beiden
Ländern nur selten davon ab. Aber doch ist in neuerer Zeit das prachtvolle
Reichstagsgebäude in Berlin schon der Schauplatz von Auftritten gewesen, die an
Volksversammlungen erinnerten, und die sich um des Ansehens der obersten Ver¬
tretung eines gebildeten Volkes willen nicht wiederholen dürfen. Sie werden auch
aller Voraussicht uach nicht wiederkehren, aber die Erinnerung daran läßt nur mit
Wehmut daran zurückdenken, daß das junge Deutsche Reich schon eine glänzende
parlamentarische Zeit gesehen hat, die kaum ein Menschenalter hinter uns liegt,
und die an nationaler Höhe und politischer Größe nicht von den gepriesensten
Perioden des englischen Parlaments im vorigen Jahrhundert übertroffen wird.
Das deutsche Volk ist vollkommen dafür geeignet und hätte heute noch die
Männer dazu, auch im parlamentarischen Leben an der Spitze der Kultur¬
staaten stehn zu können, wenn nur manches anders wäre.

Die Tatsache des Rückgangs wird in Deutschland allgemein empfunden
und hat auch schon Vorschläge zur Abhilfe hervorgerufen, von denen der
häufigste aber auch bedenklichste auf Einschränkung des Wahlrechts hinausläuft.
Für eine so einschneidende Änderung der Verfassung liegt noch kaum ein aus¬
reichender Grund vor, Mißbrüuche sind bei jedem Wahlrecht möglich und
können eine den wirklichen Interessen des Volks nicht dienende Volksvertretung
zur Folge haben; die während der preußischen Konfliktszeit nach dem Drei¬
klassenwahlrecht gewählten zweiten Kammern, die sich grundsätzlich über ihre
Macht täuschten und die politische Lage trotz allen Winken und Hinweisen nicht
erkennen wollten, sind doch der sprechendste Beweis dafür. Seit jener Zeit hat
dasselbe Wahlgesetz in Preußen ganz andre Resultate ergeben. Es kommt


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[0647] Reichstag und Verfassung könne. Mit dem konstituierenden Reichstage des Norddeutschen Bundes hatte die eigentümliche, den deutschen Verhältnissen entsprechende Handhabung des konstitutionellen Verfassungslebens begonnen, die sichtbaren Früchte der ersten Tagung erhöhten die Schaffensfreudigkeit der folgenden, und die guten Nach¬ wirkungen davon zeigten sich noch im deutschen Reichstage bis zu Ende der siebziger Jahre, wo sie erschlafft waren und nach und nach dem heute niemand erfreulichen Zustande des Parlamentarismus Platz gemacht haben. Von den Umwälzungen, die vor mehr als einem Jahrhundert von Frank¬ reich ausgingen, sind den Staaten und den Völkern des europäischen Festlandes namentlich die Verfassungen und die Parlamente geblieben, die ihre Wanderungen, Rußland ausgenommen, durch alle Länder genommen haben, denn auch die Türkei hat vor fünfundzwanzig Jahren unter Mithcid Pascha eine parlamentarische Episode gehabt. Man darf darum das neunzehnte Jahrhundert mit gutem Recht das Jahrhundert der Verfassungen und Parlamente nennen. Anfangs überall mit Begeisterung aufgenommen, zogen sie in allen Völkern die bedeutendsten Köpfe an, waren der Schauplatz beachtenswerter geistiger Kämpfe, sind aber überall nach und nach an Gehalt und Tätigkeit zurückgegangen. Das ist eine allgemeine Erscheinung, deren beschämenden Wahrheit sich unsre so fortgeschrittne Zeit nicht verschließen kann. Sogar in England, das in der parlamentarischen Entwicklung seinen ältern eignen Weg gegangen ist, tritt sie hervor; jedoch trägt dort, wie sonst höchstens nur noch in Deutschland, das parlamentarische Leben den gesellschaftlichen Formen der gebildeten Kreise Rechnung und weicht in beiden Ländern nur selten davon ab. Aber doch ist in neuerer Zeit das prachtvolle Reichstagsgebäude in Berlin schon der Schauplatz von Auftritten gewesen, die an Volksversammlungen erinnerten, und die sich um des Ansehens der obersten Ver¬ tretung eines gebildeten Volkes willen nicht wiederholen dürfen. Sie werden auch aller Voraussicht uach nicht wiederkehren, aber die Erinnerung daran läßt nur mit Wehmut daran zurückdenken, daß das junge Deutsche Reich schon eine glänzende parlamentarische Zeit gesehen hat, die kaum ein Menschenalter hinter uns liegt, und die an nationaler Höhe und politischer Größe nicht von den gepriesensten Perioden des englischen Parlaments im vorigen Jahrhundert übertroffen wird. Das deutsche Volk ist vollkommen dafür geeignet und hätte heute noch die Männer dazu, auch im parlamentarischen Leben an der Spitze der Kultur¬ staaten stehn zu können, wenn nur manches anders wäre. Die Tatsache des Rückgangs wird in Deutschland allgemein empfunden und hat auch schon Vorschläge zur Abhilfe hervorgerufen, von denen der häufigste aber auch bedenklichste auf Einschränkung des Wahlrechts hinausläuft. Für eine so einschneidende Änderung der Verfassung liegt noch kaum ein aus¬ reichender Grund vor, Mißbrüuche sind bei jedem Wahlrecht möglich und können eine den wirklichen Interessen des Volks nicht dienende Volksvertretung zur Folge haben; die während der preußischen Konfliktszeit nach dem Drei¬ klassenwahlrecht gewählten zweiten Kammern, die sich grundsätzlich über ihre Macht täuschten und die politische Lage trotz allen Winken und Hinweisen nicht erkennen wollten, sind doch der sprechendste Beweis dafür. Seit jener Zeit hat dasselbe Wahlgesetz in Preußen ganz andre Resultate ergeben. Es kommt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/647>, abgerufen am 23.12.2024.