Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.Reichstag und Verfassung verwirrend, denn das durch keine Kenntnis der Verfassung und der Staats¬ So wenig tief solche Erregungen nun auch gehn, so eigentümlich ist ihnen Reichstag und Verfassung verwirrend, denn das durch keine Kenntnis der Verfassung und der Staats¬ So wenig tief solche Erregungen nun auch gehn, so eigentümlich ist ihnen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0642" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/88120"/> <fw type="header" place="top"> Reichstag und Verfassung</fw><lb/> <p xml:id="ID_2731" prev="#ID_2730"> verwirrend, denn das durch keine Kenntnis der Verfassung und der Staats¬<lb/> einrichtungen gesicherte Gemüt des deutschen Volks gerät über jede von der<lb/> Presse oft aus sehr durchsichtigen Gründen aufgebauschte Kleinigkeit in Er¬<lb/> regung, die zwar bald wieder verfliegt, aber meist nur um einer andern Platz<lb/> zu machen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2732"> So wenig tief solche Erregungen nun auch gehn, so eigentümlich ist ihnen<lb/> allen, daß sie mit einemmal ganze Vevölkerungsschichten ergreifen, denn wir<lb/> modernen Menschen sind nur allzu bereit, auf einen Anstoß hin gleich einer<lb/> Herde alle dasselbe zu tun, dasselbe zu empfinden. Niemand zieht eine Lehre<lb/> aus der Erfahrung, daß doch alle diese Zeitungsgeschichten bisher immer den¬<lb/> selben Ausgang genommen haben: „Das weiß man gewöhnlich nicht, gibt es<lb/> nicht zu, ärgert sich daran, glaubt es nicht; aber es kann alles dieses nichts<lb/> helfen, so ists," wie schon Fichte gesagt hat. Die aufgebauschte Tatsache, um<lb/> derentwillen man sich geärgert und aufgeregt hat, sinkt rasch auf ihre geringe<lb/> Bedeutung zurück, nur die Erinnerung an den gehabten Ärger bleibt; eine Er¬<lb/> innerung summiert sich aber zur andern, und schließlich muß das eintreten, was<lb/> man im allgemeinen „Reichsverdrossenheit" nennt. Dazu war ja Deutschland<lb/> von jeher das Land der angeblichen Politiker, die sich mit stolzer Ruhe und<lb/> tiefer Befriedigung, als hätten sie eine große wissenschaftliche Aufgabe gelöst,<lb/> über die Erbärmlichkeit des Bestehenden und die Unmöglichkeit jeder Besserung<lb/> in großen Worten ergehn. Solche verkümmerte Käuze gibt es wohl in jedem<lb/> Volke, aber in Deutschland erlaubt ihnen die öffentliche Meinung, sich als<lb/> Politiker und Patrioten zu gebärden und auch denen, die noch eine Freude<lb/> an der Sedanfeier und an andern vaterländischen Ereignissen empfinden, der¬<lb/> gleichen als Byzantinismus „nach oben" auszureden. „Es ist so leicht, sagte<lb/> Fürst Bismarck am 29. Januar 1886 im Reichstage, alles schlecht zu finden<lb/> — jedes Ding hat ja zwei Seiten — und sicher zu sein, daß man nie auf<lb/> die Probe gestellt werden kann, selbst zu versuchen, es besser zu machen."<lb/> Wollte das deutsche Volk die Angelegenheiten seines Landes weniger dilettcmten-<lb/> haft, weniger abhängig von einer in der Regel nur politischen Fraktionen<lb/> dienenden, darum in den meisten Fällen nicht sachlich schreibenden Presse selbst<lb/> wahrnehmen, so müßte es sich wirklich um den Wortlaut und Sinn seiner<lb/> Verfassung bekümmern, dann würde es solchen Anzapfungen und der Aus¬<lb/> beutung seiner Gutmütigkeit gefesteter gegenüberstehn und nicht auf jede poli¬<lb/> tische Sensation hineinfallen. So lange die Deutschen freilich ihre Beteiligung<lb/> am politischen Leben mit der bisherigen Harmlosigkeit betreiben, wird sich an<lb/> den hergebrachten Zuständen schwerlich etwas ändern, sicher nicht viel bessern<lb/> lassen. Unzufriedenheit allein tuts nicht, die verschlimmert nur das Übel.<lb/> „Die Massen, welche mit irgend etwas unzufrieden sind, mit etwas, dem auch<lb/> die Sozialdemokratie nicht würde abhelfen können, stimmen bei den Wahlen<lb/> für die Sozialdemokraten, weil sie ihrer Unzufriedenheit durch eine anti-<lb/> gouvernementale Abstimmung eben Ausdruck geben wollen." So schilderte<lb/> Fürst Bismarck schon am 18. Mai 1889 im Reichstage die innere Lage und<lb/> die Stimmung, in der wir nach mehr als fünfzehn Jahren noch mitten drin<lb/> sind. Es war des Altreichskanzlers letzte Rede „im Dienst."</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0642]
Reichstag und Verfassung
verwirrend, denn das durch keine Kenntnis der Verfassung und der Staats¬
einrichtungen gesicherte Gemüt des deutschen Volks gerät über jede von der
Presse oft aus sehr durchsichtigen Gründen aufgebauschte Kleinigkeit in Er¬
regung, die zwar bald wieder verfliegt, aber meist nur um einer andern Platz
zu machen.
So wenig tief solche Erregungen nun auch gehn, so eigentümlich ist ihnen
allen, daß sie mit einemmal ganze Vevölkerungsschichten ergreifen, denn wir
modernen Menschen sind nur allzu bereit, auf einen Anstoß hin gleich einer
Herde alle dasselbe zu tun, dasselbe zu empfinden. Niemand zieht eine Lehre
aus der Erfahrung, daß doch alle diese Zeitungsgeschichten bisher immer den¬
selben Ausgang genommen haben: „Das weiß man gewöhnlich nicht, gibt es
nicht zu, ärgert sich daran, glaubt es nicht; aber es kann alles dieses nichts
helfen, so ists," wie schon Fichte gesagt hat. Die aufgebauschte Tatsache, um
derentwillen man sich geärgert und aufgeregt hat, sinkt rasch auf ihre geringe
Bedeutung zurück, nur die Erinnerung an den gehabten Ärger bleibt; eine Er¬
innerung summiert sich aber zur andern, und schließlich muß das eintreten, was
man im allgemeinen „Reichsverdrossenheit" nennt. Dazu war ja Deutschland
von jeher das Land der angeblichen Politiker, die sich mit stolzer Ruhe und
tiefer Befriedigung, als hätten sie eine große wissenschaftliche Aufgabe gelöst,
über die Erbärmlichkeit des Bestehenden und die Unmöglichkeit jeder Besserung
in großen Worten ergehn. Solche verkümmerte Käuze gibt es wohl in jedem
Volke, aber in Deutschland erlaubt ihnen die öffentliche Meinung, sich als
Politiker und Patrioten zu gebärden und auch denen, die noch eine Freude
an der Sedanfeier und an andern vaterländischen Ereignissen empfinden, der¬
gleichen als Byzantinismus „nach oben" auszureden. „Es ist so leicht, sagte
Fürst Bismarck am 29. Januar 1886 im Reichstage, alles schlecht zu finden
— jedes Ding hat ja zwei Seiten — und sicher zu sein, daß man nie auf
die Probe gestellt werden kann, selbst zu versuchen, es besser zu machen."
Wollte das deutsche Volk die Angelegenheiten seines Landes weniger dilettcmten-
haft, weniger abhängig von einer in der Regel nur politischen Fraktionen
dienenden, darum in den meisten Fällen nicht sachlich schreibenden Presse selbst
wahrnehmen, so müßte es sich wirklich um den Wortlaut und Sinn seiner
Verfassung bekümmern, dann würde es solchen Anzapfungen und der Aus¬
beutung seiner Gutmütigkeit gefesteter gegenüberstehn und nicht auf jede poli¬
tische Sensation hineinfallen. So lange die Deutschen freilich ihre Beteiligung
am politischen Leben mit der bisherigen Harmlosigkeit betreiben, wird sich an
den hergebrachten Zuständen schwerlich etwas ändern, sicher nicht viel bessern
lassen. Unzufriedenheit allein tuts nicht, die verschlimmert nur das Übel.
„Die Massen, welche mit irgend etwas unzufrieden sind, mit etwas, dem auch
die Sozialdemokratie nicht würde abhelfen können, stimmen bei den Wahlen
für die Sozialdemokraten, weil sie ihrer Unzufriedenheit durch eine anti-
gouvernementale Abstimmung eben Ausdruck geben wollen." So schilderte
Fürst Bismarck schon am 18. Mai 1889 im Reichstage die innere Lage und
die Stimmung, in der wir nach mehr als fünfzehn Jahren noch mitten drin
sind. Es war des Altreichskanzlers letzte Rede „im Dienst."
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