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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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eitern herangebildet werden sollen, schon auf der Universität mit wissenschaft¬
licher Gründlichkeit die Lehre von der Reallast vorgetragen würde, die die
Praxis am meisten beschäftigt: das Krebsübel der Bauernwirtschaften, das
man als "Ausgedinge," "Leibzucht," "Altenteil" bezeichnet, die Quelle zahl¬
reicher Streitigkeiten, die das Familienglück des Bauern stören und ihn oft
an den Bettelstab bringen. Verkauft nämlich der Bauer sein Grundstück,
namentlich an seinen Sohn oder seinen Schwiegersohn, so bedingt er sich aus¬
nahmslos das "Altenteil" aus, das neben dem Recht auf freie Wohnung auf
dem verkauften Grundstück zahlreiche das Grundstück belastende Leibrenten,
also Reallasten enthält, so der zumeist vierteljährlich wiederkehrenden Lieferung
von Bargeld, von Brennholz, von Fleisch-, Obst- und Getreidevorrütcn, von
lebenden Schlachttieren, Gewährung von Fuhrwerken, von Ackerstücken zum
Nießbrauch, von "eisernem Vieh" und ähnlichem. In den ostelbischen Pro¬
vinzen sind Streitigkeiten aus dem Altenteil -- also einer Zusammenfassung
zahlreicher Reallasten sowie Dienstbarkeiten -- im wahrsten Sinne des Worts
das "tägliche Brot" für Gerichte und Rechtsanwälte. Von den Rechtsver¬
hältnissen aus dieser Reallast erführe der Student so gut wie nichts; es wird
ihm nur gesagt, daß das bäuerliche Ausgedinge Reallasten enthalte; und doch
gibt kaum ein Rechtsverhältnis in dem Maße, wie das Altenteil, Gelegenheit,
den Studenten in die Kunst der Rechtsanwendung einzuführen. Durch die
Darstellung dieses Rechtsstoffs konnte der Student am besten in die Vor¬
schriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs eingeführt werden, wonach Verträge so
auszulegen und Schuldverhültnisse so zu erfüllen sind, wie "Treu und Glauben
es mit Rücksicht auf die Verkchrssitte erfordern." Denn überaus zahlreiche
Vorschriften des allgemeinen bürgerlichen Rechts können auf das geschilderte
Altenteilsverhültnis nicht Anwendung finden, weil Treu und Glauben, die
Verkehrssitte, die Auffassung der Bauern, die Natur der Sache dem entgegen¬
steht. Während nach dem allgemeinen bürgerlichen Recht der Gläubiger beim
Fehlen besondrer Abrede über die Beschaffenheit der geschuldeten Sachen solche
mittlerer Art und Güte verlangen kann, der Gläubiger ferner vom säumigen
Schuldner nicht schlechthin statt der geschuldeten Sache deren Wert als
Schadenersatz beanspruchen kann, der Berechtigte weiter Sicherungsleistung
nur beanspruchen kann, wenn der Schuldner sich zur Bestellung der Sicherung
verpflichtet hat, zufälliger Untergang der Nießbrauchsache die Beendigung des
Nießbrauchs zur Folge hat, der Nießbraucher die auf der Nießbrauchsache
haftenden Lasten selbst zu tragen hat, gilt beim Altenteilsvertrag nach der
Auffassung der Beteiligten in allen diesen Stücken das Gegenteil: der Alt-
sitzer muß sich mit Erzeugnissen der Art begnügen, wie sie auf dem Grundstück
gewonnen sind (denn er soll aus dem Grundstück seinen Unterhalt empfangen);
er kann bei Verzug des Hofbesitzers statt der geschuldeten Nahrungsmittel
sofort deren Wert beanspruchen (denn da die Leistung zum Unterhalt des Alt-
sitzers während eines bestimmten Zeitabschnitts dienen soll, kann eine verspätete
Leistung diesen Zweck nicht mehr erfüllen), er kann auch ohne besondre Abrede
die Eintragung seines Altenteilsrechts verlangen (denn dieses soll nach der
Absicht der Beteiligten ein dingliches Recht sein), und er kann, wenn die


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eitern herangebildet werden sollen, schon auf der Universität mit wissenschaft¬
licher Gründlichkeit die Lehre von der Reallast vorgetragen würde, die die
Praxis am meisten beschäftigt: das Krebsübel der Bauernwirtschaften, das
man als „Ausgedinge," „Leibzucht," „Altenteil" bezeichnet, die Quelle zahl¬
reicher Streitigkeiten, die das Familienglück des Bauern stören und ihn oft
an den Bettelstab bringen. Verkauft nämlich der Bauer sein Grundstück,
namentlich an seinen Sohn oder seinen Schwiegersohn, so bedingt er sich aus¬
nahmslos das „Altenteil" aus, das neben dem Recht auf freie Wohnung auf
dem verkauften Grundstück zahlreiche das Grundstück belastende Leibrenten,
also Reallasten enthält, so der zumeist vierteljährlich wiederkehrenden Lieferung
von Bargeld, von Brennholz, von Fleisch-, Obst- und Getreidevorrütcn, von
lebenden Schlachttieren, Gewährung von Fuhrwerken, von Ackerstücken zum
Nießbrauch, von „eisernem Vieh" und ähnlichem. In den ostelbischen Pro¬
vinzen sind Streitigkeiten aus dem Altenteil — also einer Zusammenfassung
zahlreicher Reallasten sowie Dienstbarkeiten — im wahrsten Sinne des Worts
das „tägliche Brot" für Gerichte und Rechtsanwälte. Von den Rechtsver¬
hältnissen aus dieser Reallast erführe der Student so gut wie nichts; es wird
ihm nur gesagt, daß das bäuerliche Ausgedinge Reallasten enthalte; und doch
gibt kaum ein Rechtsverhältnis in dem Maße, wie das Altenteil, Gelegenheit,
den Studenten in die Kunst der Rechtsanwendung einzuführen. Durch die
Darstellung dieses Rechtsstoffs konnte der Student am besten in die Vor¬
schriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs eingeführt werden, wonach Verträge so
auszulegen und Schuldverhültnisse so zu erfüllen sind, wie „Treu und Glauben
es mit Rücksicht auf die Verkchrssitte erfordern." Denn überaus zahlreiche
Vorschriften des allgemeinen bürgerlichen Rechts können auf das geschilderte
Altenteilsverhültnis nicht Anwendung finden, weil Treu und Glauben, die
Verkehrssitte, die Auffassung der Bauern, die Natur der Sache dem entgegen¬
steht. Während nach dem allgemeinen bürgerlichen Recht der Gläubiger beim
Fehlen besondrer Abrede über die Beschaffenheit der geschuldeten Sachen solche
mittlerer Art und Güte verlangen kann, der Gläubiger ferner vom säumigen
Schuldner nicht schlechthin statt der geschuldeten Sache deren Wert als
Schadenersatz beanspruchen kann, der Berechtigte weiter Sicherungsleistung
nur beanspruchen kann, wenn der Schuldner sich zur Bestellung der Sicherung
verpflichtet hat, zufälliger Untergang der Nießbrauchsache die Beendigung des
Nießbrauchs zur Folge hat, der Nießbraucher die auf der Nießbrauchsache
haftenden Lasten selbst zu tragen hat, gilt beim Altenteilsvertrag nach der
Auffassung der Beteiligten in allen diesen Stücken das Gegenteil: der Alt-
sitzer muß sich mit Erzeugnissen der Art begnügen, wie sie auf dem Grundstück
gewonnen sind (denn er soll aus dem Grundstück seinen Unterhalt empfangen);
er kann bei Verzug des Hofbesitzers statt der geschuldeten Nahrungsmittel
sofort deren Wert beanspruchen (denn da die Leistung zum Unterhalt des Alt-
sitzers während eines bestimmten Zeitabschnitts dienen soll, kann eine verspätete
Leistung diesen Zweck nicht mehr erfüllen), er kann auch ohne besondre Abrede
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/610>, abgerufen am 22.12.2024.