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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Subalterne Juristen

treffende Entscheidung überein, so ist die sich an die Anwaltsvorträge an¬
schließende Beratung des "Gerichtshofs" in? allgemeinen eine leere Form.
Denn die drei Richter des Senats, die in der Sache gar nicht vorbereitet
sind, würden doch unklug und unangemessen handeln, wenn sie "dreinreden"
wollten. Schlimm aber ist es, wenn der Vorsitzende und der Berichterstatter
über die zu treffende Entscheidung verschiedner Ansicht sind; dann muß die
Entscheidung des Widerstreits erfolgen durch diese drei Richter, die sich auf
die Entscheidung der Rechtsfrage gar nicht vorbereitet haben und darum ihr
Votum sicher nicht nach dem Gewicht besserer Gründe abgeben können, sondern
sich so oder auch anders entscheiden. In solchen Fällen könnte man -- so
meinte einst ein witziger Rechtsanwalt -- lieber um die Entscheidung "trödeln."

Dazu kommt nun, daß gerade der gewissenhafte Richter leicht geneigt ist,
ein SÄizrit'iczio äsll' wtsllstto zu bringen, durch das die Selbständigkeit der
Rechtsfindung keineswegs gefördert wird. Unsre Gerichte sollen nämlich ihre
Entscheidungen allein nach ihrer besten Überzeugung treffen; sie sind nicht
an die Meinung höherer Gerichte gebunden, können vielmehr auch von den
Entscheidungen dieser abweichen. Aber was sollte wohl herauskommen, wenn
sich die Gerichte ihrer Freiheit zu sehr bewußt wären und demgemäß ver¬
führen? Was sollte dann aus der Rechtseinheit, der Voraussetzung jedes
geordneten Rechtsverkehrs, werden? Zwar der Amtsrichter wird wenig Neigung
haben, sich bei seinen Entscheidungen der Ansicht anzuschließen, die die Zivil¬
kammer des ihm vorgeordneten Landgerichts ausgesprochen hat. Denn die
Richter des Landgerichts sind, obwohl ihre Berufungsurteile in bürgerlichen
Rechtsstreitigkeiten endgiltig sind, die Berufungskammer also ein "kleines
Reichsgericht" ist, nicht befähigter als der Amtsrichter, und von einer Ständig¬
keit der Rechtsprechung des "kleinen Reichsgerichts" kann keine Rede sein,
weil die Richter zu oft wechseln und der Landgerichtsbezirk zu klein ist, eine
häufigere Entscheidung ein und derselben Rechtsfrage zu ermöglichen. Anders
aber liegt die Sache, wenn das Landgericht oder das Oberlandesgericht von
der Rechtsprechung des vorgeordneten Gerichts abweichen will. Die Möglich¬
keit, daß das vorgeordnete Gericht sich von seiner Ansicht durch Ausführungen
des untergeordneten Gerichts abbringen läßt, ist ja wohl vorhanden, aber sie
ist gering. Wollte nun das untergeordnete Gericht dem zuwider dennoch die
vom höhern Gericht aufgestellte Rechtsansicht als unrichtig "reprobieren," so
wird der unterliegende Streitteil das Urteil des höhern Gerichts anrufen, das
dann voraussichtlich doch wieder abändernd eingreift, also bei seiner frühern
Rechtsansicht bleiben wird, sodaß durch ein solches Verfahren nur unnötige
Verzögerungen und Kosten entstehn. Ist aber gar die vom Untergericht zu
treffende Entscheidung eine solche, gegen die kein Rechtsmittel möglich ist
(die Urteile der Oberlandesgerichte unterliegen der Revision des Reichsgerichts
nur uuter gewissen Voraussetzungen), so müßte die Partei es geradezu als
Rechtsverweigerung empfinden, wenn ihr vom Oberlandesgericht endgiltig ein
Anspruch aberkannt würde, der ihr nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts
zusteht. Gerade der wohlwollende Richter, der überall die Interessen des
Rechtsverkehrs zu berücksichtigen geneigt ist, wird somit geneigt sein, hier das


Subalterne Juristen

treffende Entscheidung überein, so ist die sich an die Anwaltsvorträge an¬
schließende Beratung des „Gerichtshofs" in? allgemeinen eine leere Form.
Denn die drei Richter des Senats, die in der Sache gar nicht vorbereitet
sind, würden doch unklug und unangemessen handeln, wenn sie „dreinreden"
wollten. Schlimm aber ist es, wenn der Vorsitzende und der Berichterstatter
über die zu treffende Entscheidung verschiedner Ansicht sind; dann muß die
Entscheidung des Widerstreits erfolgen durch diese drei Richter, die sich auf
die Entscheidung der Rechtsfrage gar nicht vorbereitet haben und darum ihr
Votum sicher nicht nach dem Gewicht besserer Gründe abgeben können, sondern
sich so oder auch anders entscheiden. In solchen Fällen könnte man — so
meinte einst ein witziger Rechtsanwalt — lieber um die Entscheidung „trödeln."

Dazu kommt nun, daß gerade der gewissenhafte Richter leicht geneigt ist,
ein SÄizrit'iczio äsll' wtsllstto zu bringen, durch das die Selbständigkeit der
Rechtsfindung keineswegs gefördert wird. Unsre Gerichte sollen nämlich ihre
Entscheidungen allein nach ihrer besten Überzeugung treffen; sie sind nicht
an die Meinung höherer Gerichte gebunden, können vielmehr auch von den
Entscheidungen dieser abweichen. Aber was sollte wohl herauskommen, wenn
sich die Gerichte ihrer Freiheit zu sehr bewußt wären und demgemäß ver¬
führen? Was sollte dann aus der Rechtseinheit, der Voraussetzung jedes
geordneten Rechtsverkehrs, werden? Zwar der Amtsrichter wird wenig Neigung
haben, sich bei seinen Entscheidungen der Ansicht anzuschließen, die die Zivil¬
kammer des ihm vorgeordneten Landgerichts ausgesprochen hat. Denn die
Richter des Landgerichts sind, obwohl ihre Berufungsurteile in bürgerlichen
Rechtsstreitigkeiten endgiltig sind, die Berufungskammer also ein „kleines
Reichsgericht" ist, nicht befähigter als der Amtsrichter, und von einer Ständig¬
keit der Rechtsprechung des „kleinen Reichsgerichts" kann keine Rede sein,
weil die Richter zu oft wechseln und der Landgerichtsbezirk zu klein ist, eine
häufigere Entscheidung ein und derselben Rechtsfrage zu ermöglichen. Anders
aber liegt die Sache, wenn das Landgericht oder das Oberlandesgericht von
der Rechtsprechung des vorgeordneten Gerichts abweichen will. Die Möglich¬
keit, daß das vorgeordnete Gericht sich von seiner Ansicht durch Ausführungen
des untergeordneten Gerichts abbringen läßt, ist ja wohl vorhanden, aber sie
ist gering. Wollte nun das untergeordnete Gericht dem zuwider dennoch die
vom höhern Gericht aufgestellte Rechtsansicht als unrichtig „reprobieren," so
wird der unterliegende Streitteil das Urteil des höhern Gerichts anrufen, das
dann voraussichtlich doch wieder abändernd eingreift, also bei seiner frühern
Rechtsansicht bleiben wird, sodaß durch ein solches Verfahren nur unnötige
Verzögerungen und Kosten entstehn. Ist aber gar die vom Untergericht zu
treffende Entscheidung eine solche, gegen die kein Rechtsmittel möglich ist
(die Urteile der Oberlandesgerichte unterliegen der Revision des Reichsgerichts
nur uuter gewissen Voraussetzungen), so müßte die Partei es geradezu als
Rechtsverweigerung empfinden, wenn ihr vom Oberlandesgericht endgiltig ein
Anspruch aberkannt würde, der ihr nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts
zusteht. Gerade der wohlwollende Richter, der überall die Interessen des
Rechtsverkehrs zu berücksichtigen geneigt ist, wird somit geneigt sein, hier das


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[0606] Subalterne Juristen treffende Entscheidung überein, so ist die sich an die Anwaltsvorträge an¬ schließende Beratung des „Gerichtshofs" in? allgemeinen eine leere Form. Denn die drei Richter des Senats, die in der Sache gar nicht vorbereitet sind, würden doch unklug und unangemessen handeln, wenn sie „dreinreden" wollten. Schlimm aber ist es, wenn der Vorsitzende und der Berichterstatter über die zu treffende Entscheidung verschiedner Ansicht sind; dann muß die Entscheidung des Widerstreits erfolgen durch diese drei Richter, die sich auf die Entscheidung der Rechtsfrage gar nicht vorbereitet haben und darum ihr Votum sicher nicht nach dem Gewicht besserer Gründe abgeben können, sondern sich so oder auch anders entscheiden. In solchen Fällen könnte man — so meinte einst ein witziger Rechtsanwalt — lieber um die Entscheidung „trödeln." Dazu kommt nun, daß gerade der gewissenhafte Richter leicht geneigt ist, ein SÄizrit'iczio äsll' wtsllstto zu bringen, durch das die Selbständigkeit der Rechtsfindung keineswegs gefördert wird. Unsre Gerichte sollen nämlich ihre Entscheidungen allein nach ihrer besten Überzeugung treffen; sie sind nicht an die Meinung höherer Gerichte gebunden, können vielmehr auch von den Entscheidungen dieser abweichen. Aber was sollte wohl herauskommen, wenn sich die Gerichte ihrer Freiheit zu sehr bewußt wären und demgemäß ver¬ führen? Was sollte dann aus der Rechtseinheit, der Voraussetzung jedes geordneten Rechtsverkehrs, werden? Zwar der Amtsrichter wird wenig Neigung haben, sich bei seinen Entscheidungen der Ansicht anzuschließen, die die Zivil¬ kammer des ihm vorgeordneten Landgerichts ausgesprochen hat. Denn die Richter des Landgerichts sind, obwohl ihre Berufungsurteile in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten endgiltig sind, die Berufungskammer also ein „kleines Reichsgericht" ist, nicht befähigter als der Amtsrichter, und von einer Ständig¬ keit der Rechtsprechung des „kleinen Reichsgerichts" kann keine Rede sein, weil die Richter zu oft wechseln und der Landgerichtsbezirk zu klein ist, eine häufigere Entscheidung ein und derselben Rechtsfrage zu ermöglichen. Anders aber liegt die Sache, wenn das Landgericht oder das Oberlandesgericht von der Rechtsprechung des vorgeordneten Gerichts abweichen will. Die Möglich¬ keit, daß das vorgeordnete Gericht sich von seiner Ansicht durch Ausführungen des untergeordneten Gerichts abbringen läßt, ist ja wohl vorhanden, aber sie ist gering. Wollte nun das untergeordnete Gericht dem zuwider dennoch die vom höhern Gericht aufgestellte Rechtsansicht als unrichtig „reprobieren," so wird der unterliegende Streitteil das Urteil des höhern Gerichts anrufen, das dann voraussichtlich doch wieder abändernd eingreift, also bei seiner frühern Rechtsansicht bleiben wird, sodaß durch ein solches Verfahren nur unnötige Verzögerungen und Kosten entstehn. Ist aber gar die vom Untergericht zu treffende Entscheidung eine solche, gegen die kein Rechtsmittel möglich ist (die Urteile der Oberlandesgerichte unterliegen der Revision des Reichsgerichts nur uuter gewissen Voraussetzungen), so müßte die Partei es geradezu als Rechtsverweigerung empfinden, wenn ihr vom Oberlandesgericht endgiltig ein Anspruch aberkannt würde, der ihr nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts zusteht. Gerade der wohlwollende Richter, der überall die Interessen des Rechtsverkehrs zu berücksichtigen geneigt ist, wird somit geneigt sein, hier das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/606>, abgerufen am 23.12.2024.