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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Subalterne Juristen

dung ihnen obliegt, zu belehren? Um diese Frage gründlich, wissenschaftlich
durchzuarbeiten, über sie eine selbständige Ansicht zu gewinnen, dazu müssen
sie nicht mir Stölzels Werk, sondern auch die andern zahlreichen Einzelschriften
und Abhandlungen wissenschaftlicher Zeitschriften, die über diese Frage er¬
schienen sind, durcharbeiten. Wie sollen sie solche Schriften aber kennen?
Stölzel beklagt sich a. a. O. Seite 574 gerade darüber, daß, obwohl es zahl¬
reiche gehaltvolle wissenschaftliche Zeitschriften gibt, dein preußischen Praktiker
doch fast nur eine einzige von ihnen (die bekannten Gruchotschen Beiträge zur
Erläuterung des Deutschen Rechts) zu Gesicht komme. Und wenn nun auch
die Richter des Oberlandesgerichts dieses "wissenschaftliche Rüstzeug" im vollen
Umfange keimten, wo sollen sie die Zeit hernehmen, es zur Entscheidung einer
Rechtsfrage durchzuarbeiten? Dann müßten sie ja ganze Wochen ihrer kost¬
baren Arbeitszeit auf eine einzelne Sache verwenden. Jeder Senat des Ober-
landesgerichts hat die Woche zwei Termintage, und jeder Richter hat zu
jedem dieser beiden Termintage drei bis vier "Referate," in denen vielleicht
ähnlich schwierige Rechtsfragen zur Entscheidung stehn. Da kann er auf die
einzelne Sache doch unmöglich so viel Zeit verwenden; und wo soll er die
Zeit für die sonstigen Amtsgeschüfte (Beschwerden, Beweistermine, Justiz¬
verwaltungsgeschäfte) hernehmen? Also was bleibt dem Obcrlcmdesgericht
übrig? Man muß die Sache "durchhauen": die vorhandnen Kommentare und
Lehrbücher, ferner die Prüjudiziensnmmluug werden nachgeschlagen, und so wird
die Entscheidung gefällt, die alles andre ist als wissenschaftlich-gründlich. Und
da wundert man sich, daß sich die Rechtsanwälte mit aller Gewalt gegen
jede Einschränkung der Zuständigkeit des Reichsgerichts wenden? Man hat
eben zu der Rechtsprechung der Oberlcmdesgerichtc kein Vertrauen, wenn sie
der Nachprüfung durch das Reichsgericht entrückt ist! Lieber den Übelstand,
daß das Reichsgericht seine Termine noch weiter ausrückt, oder daß bei ihm
noch ein weiterer Zivilsenat besteht, als die Unanfechtbarkeit von Urteilen der
von Stölzel gekennzeichneten Art."')

Dabei gebe man sich doch auch keiner Täuschung hin über den Wert der
kvllegialgerichtlichen Rechtsprechung. In unfern Gerichtssälen herrscht auf
Grund gesetzlicher Vorschrift eine "bewußte Lüge," wie Bähr es so bezeichnend
ausdrückt, nämlich die innerlich unwahre Annahme, als ob man schwierige
Rechtsfragen auf Grund bloßer mündlicher Vortrüge der Rechtsanwälte ent¬
scheiden könne. Das ist in der Tat innere Unwahrheit: die Entscheidung
solcher Fragen verlangt vielmehr eine eingehende Vorbereitung, eine Durch¬
denkung der Frage unter Anwendung von literarischen Hilfsmitteln. Deshalb
wird jedesmal ein "Berichterstatter" ernannt, der zur Sitzung als Ergebnis
seiner Vorbereitung sein fertiges "Votum" mitbringt. Ebenso macht es der
Vorsitzende. Stimmen der Berichterstatter und der Vorsitzende über die zu



*) Wollte man freilich die ganz unnötigen mündlichen Verhandlungen beim Reichsgericht
abschaffen und ein reines Beschlußverfahren in der Revisionsinstanz einführen, so würde die
Überlastung des Reichsgerichts von selbst aufhören, und man brauchte dann an eine Be¬
schränkung seiner Zuständigkeit gar nicht zu denken. Vgl. des Verfassers Aufsatz in der Deutschen
Juristenzeitung von 1903 S. 339.
Subalterne Juristen

dung ihnen obliegt, zu belehren? Um diese Frage gründlich, wissenschaftlich
durchzuarbeiten, über sie eine selbständige Ansicht zu gewinnen, dazu müssen
sie nicht mir Stölzels Werk, sondern auch die andern zahlreichen Einzelschriften
und Abhandlungen wissenschaftlicher Zeitschriften, die über diese Frage er¬
schienen sind, durcharbeiten. Wie sollen sie solche Schriften aber kennen?
Stölzel beklagt sich a. a. O. Seite 574 gerade darüber, daß, obwohl es zahl¬
reiche gehaltvolle wissenschaftliche Zeitschriften gibt, dein preußischen Praktiker
doch fast nur eine einzige von ihnen (die bekannten Gruchotschen Beiträge zur
Erläuterung des Deutschen Rechts) zu Gesicht komme. Und wenn nun auch
die Richter des Oberlandesgerichts dieses „wissenschaftliche Rüstzeug" im vollen
Umfange keimten, wo sollen sie die Zeit hernehmen, es zur Entscheidung einer
Rechtsfrage durchzuarbeiten? Dann müßten sie ja ganze Wochen ihrer kost¬
baren Arbeitszeit auf eine einzelne Sache verwenden. Jeder Senat des Ober-
landesgerichts hat die Woche zwei Termintage, und jeder Richter hat zu
jedem dieser beiden Termintage drei bis vier „Referate," in denen vielleicht
ähnlich schwierige Rechtsfragen zur Entscheidung stehn. Da kann er auf die
einzelne Sache doch unmöglich so viel Zeit verwenden; und wo soll er die
Zeit für die sonstigen Amtsgeschüfte (Beschwerden, Beweistermine, Justiz¬
verwaltungsgeschäfte) hernehmen? Also was bleibt dem Obcrlcmdesgericht
übrig? Man muß die Sache „durchhauen": die vorhandnen Kommentare und
Lehrbücher, ferner die Prüjudiziensnmmluug werden nachgeschlagen, und so wird
die Entscheidung gefällt, die alles andre ist als wissenschaftlich-gründlich. Und
da wundert man sich, daß sich die Rechtsanwälte mit aller Gewalt gegen
jede Einschränkung der Zuständigkeit des Reichsgerichts wenden? Man hat
eben zu der Rechtsprechung der Oberlcmdesgerichtc kein Vertrauen, wenn sie
der Nachprüfung durch das Reichsgericht entrückt ist! Lieber den Übelstand,
daß das Reichsgericht seine Termine noch weiter ausrückt, oder daß bei ihm
noch ein weiterer Zivilsenat besteht, als die Unanfechtbarkeit von Urteilen der
von Stölzel gekennzeichneten Art."')

Dabei gebe man sich doch auch keiner Täuschung hin über den Wert der
kvllegialgerichtlichen Rechtsprechung. In unfern Gerichtssälen herrscht auf
Grund gesetzlicher Vorschrift eine „bewußte Lüge," wie Bähr es so bezeichnend
ausdrückt, nämlich die innerlich unwahre Annahme, als ob man schwierige
Rechtsfragen auf Grund bloßer mündlicher Vortrüge der Rechtsanwälte ent¬
scheiden könne. Das ist in der Tat innere Unwahrheit: die Entscheidung
solcher Fragen verlangt vielmehr eine eingehende Vorbereitung, eine Durch¬
denkung der Frage unter Anwendung von literarischen Hilfsmitteln. Deshalb
wird jedesmal ein „Berichterstatter" ernannt, der zur Sitzung als Ergebnis
seiner Vorbereitung sein fertiges „Votum" mitbringt. Ebenso macht es der
Vorsitzende. Stimmen der Berichterstatter und der Vorsitzende über die zu



*) Wollte man freilich die ganz unnötigen mündlichen Verhandlungen beim Reichsgericht
abschaffen und ein reines Beschlußverfahren in der Revisionsinstanz einführen, so würde die
Überlastung des Reichsgerichts von selbst aufhören, und man brauchte dann an eine Be¬
schränkung seiner Zuständigkeit gar nicht zu denken. Vgl. des Verfassers Aufsatz in der Deutschen
Juristenzeitung von 1903 S. 339.
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[0605] Subalterne Juristen dung ihnen obliegt, zu belehren? Um diese Frage gründlich, wissenschaftlich durchzuarbeiten, über sie eine selbständige Ansicht zu gewinnen, dazu müssen sie nicht mir Stölzels Werk, sondern auch die andern zahlreichen Einzelschriften und Abhandlungen wissenschaftlicher Zeitschriften, die über diese Frage er¬ schienen sind, durcharbeiten. Wie sollen sie solche Schriften aber kennen? Stölzel beklagt sich a. a. O. Seite 574 gerade darüber, daß, obwohl es zahl¬ reiche gehaltvolle wissenschaftliche Zeitschriften gibt, dein preußischen Praktiker doch fast nur eine einzige von ihnen (die bekannten Gruchotschen Beiträge zur Erläuterung des Deutschen Rechts) zu Gesicht komme. Und wenn nun auch die Richter des Oberlandesgerichts dieses „wissenschaftliche Rüstzeug" im vollen Umfange keimten, wo sollen sie die Zeit hernehmen, es zur Entscheidung einer Rechtsfrage durchzuarbeiten? Dann müßten sie ja ganze Wochen ihrer kost¬ baren Arbeitszeit auf eine einzelne Sache verwenden. Jeder Senat des Ober- landesgerichts hat die Woche zwei Termintage, und jeder Richter hat zu jedem dieser beiden Termintage drei bis vier „Referate," in denen vielleicht ähnlich schwierige Rechtsfragen zur Entscheidung stehn. Da kann er auf die einzelne Sache doch unmöglich so viel Zeit verwenden; und wo soll er die Zeit für die sonstigen Amtsgeschüfte (Beschwerden, Beweistermine, Justiz¬ verwaltungsgeschäfte) hernehmen? Also was bleibt dem Obcrlcmdesgericht übrig? Man muß die Sache „durchhauen": die vorhandnen Kommentare und Lehrbücher, ferner die Prüjudiziensnmmluug werden nachgeschlagen, und so wird die Entscheidung gefällt, die alles andre ist als wissenschaftlich-gründlich. Und da wundert man sich, daß sich die Rechtsanwälte mit aller Gewalt gegen jede Einschränkung der Zuständigkeit des Reichsgerichts wenden? Man hat eben zu der Rechtsprechung der Oberlcmdesgerichtc kein Vertrauen, wenn sie der Nachprüfung durch das Reichsgericht entrückt ist! Lieber den Übelstand, daß das Reichsgericht seine Termine noch weiter ausrückt, oder daß bei ihm noch ein weiterer Zivilsenat besteht, als die Unanfechtbarkeit von Urteilen der von Stölzel gekennzeichneten Art."') Dabei gebe man sich doch auch keiner Täuschung hin über den Wert der kvllegialgerichtlichen Rechtsprechung. In unfern Gerichtssälen herrscht auf Grund gesetzlicher Vorschrift eine „bewußte Lüge," wie Bähr es so bezeichnend ausdrückt, nämlich die innerlich unwahre Annahme, als ob man schwierige Rechtsfragen auf Grund bloßer mündlicher Vortrüge der Rechtsanwälte ent¬ scheiden könne. Das ist in der Tat innere Unwahrheit: die Entscheidung solcher Fragen verlangt vielmehr eine eingehende Vorbereitung, eine Durch¬ denkung der Frage unter Anwendung von literarischen Hilfsmitteln. Deshalb wird jedesmal ein „Berichterstatter" ernannt, der zur Sitzung als Ergebnis seiner Vorbereitung sein fertiges „Votum" mitbringt. Ebenso macht es der Vorsitzende. Stimmen der Berichterstatter und der Vorsitzende über die zu *) Wollte man freilich die ganz unnötigen mündlichen Verhandlungen beim Reichsgericht abschaffen und ein reines Beschlußverfahren in der Revisionsinstanz einführen, so würde die Überlastung des Reichsgerichts von selbst aufhören, und man brauchte dann an eine Be¬ schränkung seiner Zuständigkeit gar nicht zu denken. Vgl. des Verfassers Aufsatz in der Deutschen Juristenzeitung von 1903 S. 339.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/605>, abgerufen am 23.12.2024.