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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Iesnitenfrage lind konfessionelle Polemik

Das Zentrum ist die ausschlaggebende Fraktion im Reichstage! Daraus
erwächst nun zunächst der evangelischen Kirche weder ein Schaden noch eine
Gefahr. Während sich die protestantische Mehrheit nicht gescheut hat, unter¬
stützt von einer lärmenden Judenpresse, Gesetze gegen die widerstrebende katho¬
lische Minderheit zu machen und in die katholische Kirche hineinzuregieren,
hat sich das Zentrum niemals in die innern Angelegenheiten der evangelischen
Kirche oder der Synagoge eingemischt. Und von den Bundesstaaten hat nur
das überwiegend katholische Bayern eine katholische Kammermehrheit. Im
preußischen Landtage herrscht das Kartell, und auch das geplante Schulgesetz,
das Freisinnige und Sozialdemokraten als ein Attentat auf die Kultur brand¬
marken, wird von den verbündeten Konservativen und Nationalliberalen ge¬
macht werden; die Katholiken werden dabei nur helfen. Was aber die Haupt¬
sache ist: wer hat das mächtige Zentrum geschaffen? Niemand anders als die
Kulturkämpfer. Bismarck ist nie in seinem Leben mit dem katholischen Volke
in Berührung gekommen. Darum konnten törichte Ratgeber dem großen
Realpolitiker eine falsche Vorstellung vom katholischen Kirchenwesen beibringen
und ihn zu einer phantastischen Politik verleiten. Die deutschen, vor allen
die preußischen Katholiken, hängen mit inniger Liebe an ihrer Kirche. Die
Unfehlbarkeit war den nichtbigotten unter ihnen widerwärtig. Aber ihr Kirchen-
tnm erschien ihnen als ein unteilbares Ganze; dnrch Preisgebung eines
Teils, des Primats, fürchteten sie, das Ganze zu verlieren. Darum fügten
sie sich. Und nachdem sie eben dieses Opfer gebracht hatten, versuchte ein
äußerer Feind, ihre Kirche zu sprengen. Mußten sie da nicht alle Streitig¬
keiten im eignen Lager ruhn lassen und sich zu einer einzigen großen Abwehr¬
partei zusammenschließen? Und eine Konfession ist auch eine Interessengemein¬
schaft. Die preußischen Katholiken hatten vou jeher über mannigfache
Zurücksetzung, besonders in den Mittlern und höhern Staatsämtern, zu klagen
gehabt. Durch den Kulturkampf schien ihnen vollends jede Aussicht abgeschnitten
zu sein. Auf das Gefängnis hatte ein überzeugungstreuer Katholik wohl
Aussicht, aber nicht auf ein Staats- oder Gemeindeamt. Da mußte sich doch
jeder katholische Mann, der Söhne hatte, sagen: Wir brauchen eine starke
politische Partei, die unfern Kindern das bürgerliche Dasein erkämpft. Und
mit dein Zentrum schuf der Kulturkampf die katholische Presse. Ju seinein
Käseblättchen wie in seiner großen Zeitung mußte der Katholik täglich lesen,
daß er ein Vaterlcmdsfeiud, ein Nömling und ein Dummkopf, und daß seine
Geistlichkeit der Abschaum der Menschheit sei; da schaffte er sich denn eigne
Blätter an, die ihn wenigstens nicht täglich beschimpften. Die Sache verlief,
soweit es beim Stärkeverhältuis der Konfessionen möglich war, im Staate so
wie in der Kommunalvertretung. In Städten, wo die Katholiken in der
Minderheit waren, hatte man ihnen die Vertretung fast ganz versagt; wo sie
die Mehrheit hatten, mußten sie sich von Protestanten, Juden und einigen
"liberalen" Katholiken regieren lassen. Das genügte aber diesen Herren nicht;
triumphierend verkündigten sie nach 1870, jetzt werde dem Katholizismus der
Garaus gemacht. Und da -- flogen die Protestanten. Juden und "Frei¬
maurer" hinaus aus den Stadtverordnetenkollegien. Der Kulturkampf verlief,


Iesnitenfrage lind konfessionelle Polemik

Das Zentrum ist die ausschlaggebende Fraktion im Reichstage! Daraus
erwächst nun zunächst der evangelischen Kirche weder ein Schaden noch eine
Gefahr. Während sich die protestantische Mehrheit nicht gescheut hat, unter¬
stützt von einer lärmenden Judenpresse, Gesetze gegen die widerstrebende katho¬
lische Minderheit zu machen und in die katholische Kirche hineinzuregieren,
hat sich das Zentrum niemals in die innern Angelegenheiten der evangelischen
Kirche oder der Synagoge eingemischt. Und von den Bundesstaaten hat nur
das überwiegend katholische Bayern eine katholische Kammermehrheit. Im
preußischen Landtage herrscht das Kartell, und auch das geplante Schulgesetz,
das Freisinnige und Sozialdemokraten als ein Attentat auf die Kultur brand¬
marken, wird von den verbündeten Konservativen und Nationalliberalen ge¬
macht werden; die Katholiken werden dabei nur helfen. Was aber die Haupt¬
sache ist: wer hat das mächtige Zentrum geschaffen? Niemand anders als die
Kulturkämpfer. Bismarck ist nie in seinem Leben mit dem katholischen Volke
in Berührung gekommen. Darum konnten törichte Ratgeber dem großen
Realpolitiker eine falsche Vorstellung vom katholischen Kirchenwesen beibringen
und ihn zu einer phantastischen Politik verleiten. Die deutschen, vor allen
die preußischen Katholiken, hängen mit inniger Liebe an ihrer Kirche. Die
Unfehlbarkeit war den nichtbigotten unter ihnen widerwärtig. Aber ihr Kirchen-
tnm erschien ihnen als ein unteilbares Ganze; dnrch Preisgebung eines
Teils, des Primats, fürchteten sie, das Ganze zu verlieren. Darum fügten
sie sich. Und nachdem sie eben dieses Opfer gebracht hatten, versuchte ein
äußerer Feind, ihre Kirche zu sprengen. Mußten sie da nicht alle Streitig¬
keiten im eignen Lager ruhn lassen und sich zu einer einzigen großen Abwehr¬
partei zusammenschließen? Und eine Konfession ist auch eine Interessengemein¬
schaft. Die preußischen Katholiken hatten vou jeher über mannigfache
Zurücksetzung, besonders in den Mittlern und höhern Staatsämtern, zu klagen
gehabt. Durch den Kulturkampf schien ihnen vollends jede Aussicht abgeschnitten
zu sein. Auf das Gefängnis hatte ein überzeugungstreuer Katholik wohl
Aussicht, aber nicht auf ein Staats- oder Gemeindeamt. Da mußte sich doch
jeder katholische Mann, der Söhne hatte, sagen: Wir brauchen eine starke
politische Partei, die unfern Kindern das bürgerliche Dasein erkämpft. Und
mit dein Zentrum schuf der Kulturkampf die katholische Presse. Ju seinein
Käseblättchen wie in seiner großen Zeitung mußte der Katholik täglich lesen,
daß er ein Vaterlcmdsfeiud, ein Nömling und ein Dummkopf, und daß seine
Geistlichkeit der Abschaum der Menschheit sei; da schaffte er sich denn eigne
Blätter an, die ihn wenigstens nicht täglich beschimpften. Die Sache verlief,
soweit es beim Stärkeverhältuis der Konfessionen möglich war, im Staate so
wie in der Kommunalvertretung. In Städten, wo die Katholiken in der
Minderheit waren, hatte man ihnen die Vertretung fast ganz versagt; wo sie
die Mehrheit hatten, mußten sie sich von Protestanten, Juden und einigen
„liberalen" Katholiken regieren lassen. Das genügte aber diesen Herren nicht;
triumphierend verkündigten sie nach 1870, jetzt werde dem Katholizismus der
Garaus gemacht. Und da — flogen die Protestanten. Juden und „Frei¬
maurer" hinaus aus den Stadtverordnetenkollegien. Der Kulturkampf verlief,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/598>, abgerufen am 23.12.2024.