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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Subalterne Juristen

von einem "Kommentarbazillus"; vielleicht dachte schon Justinian an diesen,
als er, wie schon erwähnt worden ist, das Schreiben von Kommentaren über
das Corpus Juris verbot.

Neben dem Kommentar ist nun für den Praktiker das wichtigste "wissen¬
schaftliche Rüstzeug" die Rechtsprechung, die Präjudiziensammlung, die dem
Richter immer zur Hand ist. Obwohl, wie schon der bekannte bayrische Jurist
von Kreitmahr es bezeichnend ausdrückt, "selten ein oasus dem andern so
ähnlich ist wie ein El dem andern," so klammern sich die Jnstanzgerichte
doch mit der viel beklagten Präjudizienreiterei so viel als nur irgend möglich
an Entscheidungen höherer Gerichte. Das war, solange die frühern Rechte
galten, also Rechte, die eine hundertjährige Praxis aufzuweisen hatten, noch
nicht so schlimm; denn hier waren die wichtigsten Streitfragen durch die lange
feste Praxis in einem bestimmten Sinne schon entschieden, und eben die
"konstante Praxis" schuf eine gewisse Gewähr für die Richtigkeit der von den
höchsten Gerichten ausgesprochnen Rechtsansichten. Anders heute: nur die
wenigsten Fragen sind heute schon durch eine feste Praxis des höchsten Ge¬
richts entschieden; über die allermeisten Fragen herrschen sowohl in der Rechts-
lehre als auch bei den Gerichten noch Zweifel, und die widersprechendsten
Anschauungen stehn sich unvermittelt gegenüber. Das zeigt sich besonders an
der eingangs erörterten Frage über die Selbständigkeit des Vormundes und
das Aufsichtsrecht des Vormundschaftsgerichts. Etwa zehn Entscheidungen
verschiedner Oberlandcsgerichte sind über diese Frage veröffentlicht worden, die
zu ganz entgegengesetzten Ergebnissen kommen. Nun soll sich der Vormund¬
schaftsrichter selbstüudig entschließen, welches der verschiednen Oberlandesgerichte
die richtige Ansicht ausgesprochen hat. Um diese selbständige Entschließung
treffen zu können, müßte der Vormundschaftsrichter das sonstige "wissenschaft¬
liche Rüstzeug" -- die Vorarbeiten, Monographien, wissenschaftliche Zeit¬
schriften, die wichtigsten Kommentare und Lehrbücher -- durchforschen. Auch
wenn der Richter dieser Aufgabe gewachsen ist, so stehn ihm doch diese Hilfs¬
mittel gar nicht zur Verfügung; denn die allermeisten Gerichtsbibliothcken sind
außerordentlich dürftig. Aber auch wenn dem Richter alle Hilfsmittel zur
Verfügung stünden: wo soll er die Zeit hernehmen, die zu einer gründlichen
Untersuchung der Frage nötig wäre? Da müßte er ja ganze Wochen seiner
beschränkten Arbeitszeit nur auf die Untersuchung dieser Frage verwenden!
Wie soll er das fertig bekommen? So bleibt ihm nichts übrig, als eine
Entscheidung zu erlassen, mit der er "durchhaut," also eine Entscheidung, die
alles andre als wissenschaftlich und gründlich ist. So lastet ans den Arbeiten
der juristischen Praktiker kraft einer gewissen Naturnotwendigkeit der Mangel
an Gründlichkeit, an Wissenschaftlichkeit!

(Schluß folgt)




Subalterne Juristen

von einem „Kommentarbazillus"; vielleicht dachte schon Justinian an diesen,
als er, wie schon erwähnt worden ist, das Schreiben von Kommentaren über
das Corpus Juris verbot.

Neben dem Kommentar ist nun für den Praktiker das wichtigste „wissen¬
schaftliche Rüstzeug" die Rechtsprechung, die Präjudiziensammlung, die dem
Richter immer zur Hand ist. Obwohl, wie schon der bekannte bayrische Jurist
von Kreitmahr es bezeichnend ausdrückt, „selten ein oasus dem andern so
ähnlich ist wie ein El dem andern," so klammern sich die Jnstanzgerichte
doch mit der viel beklagten Präjudizienreiterei so viel als nur irgend möglich
an Entscheidungen höherer Gerichte. Das war, solange die frühern Rechte
galten, also Rechte, die eine hundertjährige Praxis aufzuweisen hatten, noch
nicht so schlimm; denn hier waren die wichtigsten Streitfragen durch die lange
feste Praxis in einem bestimmten Sinne schon entschieden, und eben die
„konstante Praxis" schuf eine gewisse Gewähr für die Richtigkeit der von den
höchsten Gerichten ausgesprochnen Rechtsansichten. Anders heute: nur die
wenigsten Fragen sind heute schon durch eine feste Praxis des höchsten Ge¬
richts entschieden; über die allermeisten Fragen herrschen sowohl in der Rechts-
lehre als auch bei den Gerichten noch Zweifel, und die widersprechendsten
Anschauungen stehn sich unvermittelt gegenüber. Das zeigt sich besonders an
der eingangs erörterten Frage über die Selbständigkeit des Vormundes und
das Aufsichtsrecht des Vormundschaftsgerichts. Etwa zehn Entscheidungen
verschiedner Oberlandcsgerichte sind über diese Frage veröffentlicht worden, die
zu ganz entgegengesetzten Ergebnissen kommen. Nun soll sich der Vormund¬
schaftsrichter selbstüudig entschließen, welches der verschiednen Oberlandesgerichte
die richtige Ansicht ausgesprochen hat. Um diese selbständige Entschließung
treffen zu können, müßte der Vormundschaftsrichter das sonstige „wissenschaft¬
liche Rüstzeug" — die Vorarbeiten, Monographien, wissenschaftliche Zeit¬
schriften, die wichtigsten Kommentare und Lehrbücher — durchforschen. Auch
wenn der Richter dieser Aufgabe gewachsen ist, so stehn ihm doch diese Hilfs¬
mittel gar nicht zur Verfügung; denn die allermeisten Gerichtsbibliothcken sind
außerordentlich dürftig. Aber auch wenn dem Richter alle Hilfsmittel zur
Verfügung stünden: wo soll er die Zeit hernehmen, die zu einer gründlichen
Untersuchung der Frage nötig wäre? Da müßte er ja ganze Wochen seiner
beschränkten Arbeitszeit nur auf die Untersuchung dieser Frage verwenden!
Wie soll er das fertig bekommen? So bleibt ihm nichts übrig, als eine
Entscheidung zu erlassen, mit der er „durchhaut," also eine Entscheidung, die
alles andre als wissenschaftlich und gründlich ist. So lastet ans den Arbeiten
der juristischen Praktiker kraft einer gewissen Naturnotwendigkeit der Mangel
an Gründlichkeit, an Wissenschaftlichkeit!

(Schluß folgt)




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[0546] Subalterne Juristen von einem „Kommentarbazillus"; vielleicht dachte schon Justinian an diesen, als er, wie schon erwähnt worden ist, das Schreiben von Kommentaren über das Corpus Juris verbot. Neben dem Kommentar ist nun für den Praktiker das wichtigste „wissen¬ schaftliche Rüstzeug" die Rechtsprechung, die Präjudiziensammlung, die dem Richter immer zur Hand ist. Obwohl, wie schon der bekannte bayrische Jurist von Kreitmahr es bezeichnend ausdrückt, „selten ein oasus dem andern so ähnlich ist wie ein El dem andern," so klammern sich die Jnstanzgerichte doch mit der viel beklagten Präjudizienreiterei so viel als nur irgend möglich an Entscheidungen höherer Gerichte. Das war, solange die frühern Rechte galten, also Rechte, die eine hundertjährige Praxis aufzuweisen hatten, noch nicht so schlimm; denn hier waren die wichtigsten Streitfragen durch die lange feste Praxis in einem bestimmten Sinne schon entschieden, und eben die „konstante Praxis" schuf eine gewisse Gewähr für die Richtigkeit der von den höchsten Gerichten ausgesprochnen Rechtsansichten. Anders heute: nur die wenigsten Fragen sind heute schon durch eine feste Praxis des höchsten Ge¬ richts entschieden; über die allermeisten Fragen herrschen sowohl in der Rechts- lehre als auch bei den Gerichten noch Zweifel, und die widersprechendsten Anschauungen stehn sich unvermittelt gegenüber. Das zeigt sich besonders an der eingangs erörterten Frage über die Selbständigkeit des Vormundes und das Aufsichtsrecht des Vormundschaftsgerichts. Etwa zehn Entscheidungen verschiedner Oberlandcsgerichte sind über diese Frage veröffentlicht worden, die zu ganz entgegengesetzten Ergebnissen kommen. Nun soll sich der Vormund¬ schaftsrichter selbstüudig entschließen, welches der verschiednen Oberlandesgerichte die richtige Ansicht ausgesprochen hat. Um diese selbständige Entschließung treffen zu können, müßte der Vormundschaftsrichter das sonstige „wissenschaft¬ liche Rüstzeug" — die Vorarbeiten, Monographien, wissenschaftliche Zeit¬ schriften, die wichtigsten Kommentare und Lehrbücher — durchforschen. Auch wenn der Richter dieser Aufgabe gewachsen ist, so stehn ihm doch diese Hilfs¬ mittel gar nicht zur Verfügung; denn die allermeisten Gerichtsbibliothcken sind außerordentlich dürftig. Aber auch wenn dem Richter alle Hilfsmittel zur Verfügung stünden: wo soll er die Zeit hernehmen, die zu einer gründlichen Untersuchung der Frage nötig wäre? Da müßte er ja ganze Wochen seiner beschränkten Arbeitszeit nur auf die Untersuchung dieser Frage verwenden! Wie soll er das fertig bekommen? So bleibt ihm nichts übrig, als eine Entscheidung zu erlassen, mit der er „durchhaut," also eine Entscheidung, die alles andre als wissenschaftlich und gründlich ist. So lastet ans den Arbeiten der juristischen Praktiker kraft einer gewissen Naturnotwendigkeit der Mangel an Gründlichkeit, an Wissenschaftlichkeit! (Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/546>, abgerufen am 23.07.2024.