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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

nicht die stumpfe Masse, und das Schicksal eines Volks hangt nicht von dieser,
sondern von seinen führenden Ständen ab. Die osmanischen Türken sind nach dem
Urteil aller Kundigen ein durchaus tüchtiges Volk, brav, fleißig, zuverlässig und
bei den bescheidensten Ansprüchen unübertreffliche Soldaten, aber sie haben keine
Aristokratie, und darum ist ihr Reich im Verfall. Ob die russischen Bauern eine
Verfassung wollen oder nicht, das ist gleichgiltig; wenn die Gebildeten sie ernstlich
wollen, so wird sie kommen, so oder so, denn eine Regierung, die sich in dauernden
Widerspruch mit den gebildeten Ständen setzt, ist unhaltbar; das zeigt alle Ge¬
schichte. Man sage auch nicht, die Hauptsache sei dort Reform der Verwaltung;
für eine Konstitution sei das russische Volk noch nicht reif. Gewiß ist das erste
richtig, aber zur Ausführung solcher Reformen bedarf es, wie die russische Bureau-
kratie um einmal ist, der Mitwirkung des Volks, und für eine solche werden die
Russen doch wohl so reif sein wie die eben erst der türkischen Knechtschaft ent¬
rissenen Bulgaren; jedenfalls wird unter der Autokratie kein Volk reif für die
Freiheit, sondern nur in der Freiheit. Die Russen haben gewiß noch eine schwere
und lange politische Schule vor sich, aber etwas so Neues, Unerhörtes, wie die
Anhänger des Absolutismus es darzustellen lieben, ist der Verfassungsgedanke in
Rußland gar nicht, und die zarische Autokratie ist gar nichts Urrussisches. Sie ist viel¬
mehr fremden, mongolischen, orientalischen Ursprungs; der Großfürst von Moskau ist
Herr von Rußland geworden als der Generalsteuereinnehmer des absoluten Mon¬
golenkhans, und die gegenwärtige Autokratie ist die Schöpfung Peters des Großen,
also nur etwa zweihundert Jahre alt. Vorher sind die Bojaren, die Lehnsleute
des Zaren, zeitweilig zu einer "Landesversammlung," einem Semskij Sobor, be¬
rufen worden, zuweilen mit Vertretern der Geistlichkeit und der Städte; ein solcher
Semskij Sobor hat am 7. Februar 1613 nach langem Bürgerkriege die Romanows
erhoben, die Vorfahren der gegenwärtigen Dynastie Holstein-Gottorp (seit 1762),
und erst seit Peter dem Großen erlosch die Institution tatsächlich, nicht anders als
die französischen ^t^es Aönsiaux seit 1614, die 1789 auch wieder auflebten. Auch
der moderne Verfassungsgedanke ist in Rußland nichts ganz Neues. Alexander
der Erste hat ihn ernsthaft erwogen und 1821 einen ausführliche" Entwurf dafür
aufstellen lassen, eine Konstitution war das Ziel des Militäraufstands der "Deka¬
bristen" von 1825, und als die nihilistische Bombe am 13. März 1881 Alexander
!den Zweiten, den besten und gütigsten Herrscher, den Rußland jemals gehabt hat,
zerriß, da lag die ausgefertigte Verfassungsurkunde zur Unterschrift in seinem Ka¬
binett. Auch jetzt taucht der Gedanke des Semskij Sobor neben andern administra¬
tiven Reformen wieder auf, sogar im Kabinett des Zaren, und er ist weithin zum
Schlachtruf geworden. Auch hat das russische Volk im neunzehnten Jahrhundert
doch viel gelernt. Elemente der Selbstverwaltung, der unentbehrlichen Grundlage
jeder wirksamen Verfassung, sind seitdem entstanden, die Semstwa der meisten
Gouvernements und die Dumas (Stadträte), dazu eine hochentwickelte, ruhige, wenn¬
gleich noch vielfach beschränkte Presse, die oft genug ein offnes freies Wort wagt;
me Leibeigenschaft ist seit fünfzig Jahren aufgehoben, und die Industrie hat eine
Fabrikarbeiterschaft ins Leben gerufen, die sich zu fühlen beginnt und teilweise schon
organisiert ist. Die größte Schwierigkeit liegt offenbar in der Gestaltung eines
künftigen Reichstags und in der Abmessung seiner Befugnisse. Jene wird unter
keinen Umständen auf dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechte beruhn
dürfen, das sich bei uns fortgesetzt so schlecht bewährt, und das vollends für Ru߬
land nur Utopisten fordern können, sondern eher auf einer Ständevertretung, und
seine Haupttätigkeit wird die Kontrolle der korrupten Verwaltung sein müssen,
über die sich alle Welt empört; eine starke Monarchie wird Rußland unter allen
Umständen bleiben müssen. Wie ein russischer Reichstag auftreten würde, kann,
zumal da die verschiednen Nationalitäten des europäischen Rußlands doch anch darin
vertreten sein und zu Worte kommen würden, niemand voraussehen, und darin
liegt gewiß eine große Gefahr; aber wenn man bedenkt, welche Summe von Kennt¬
nissen, Intelligenz, Opfermut und Patriotismus zum Beispiel in der spanischen


Maßgebliches und Unmaßgebliches

nicht die stumpfe Masse, und das Schicksal eines Volks hangt nicht von dieser,
sondern von seinen führenden Ständen ab. Die osmanischen Türken sind nach dem
Urteil aller Kundigen ein durchaus tüchtiges Volk, brav, fleißig, zuverlässig und
bei den bescheidensten Ansprüchen unübertreffliche Soldaten, aber sie haben keine
Aristokratie, und darum ist ihr Reich im Verfall. Ob die russischen Bauern eine
Verfassung wollen oder nicht, das ist gleichgiltig; wenn die Gebildeten sie ernstlich
wollen, so wird sie kommen, so oder so, denn eine Regierung, die sich in dauernden
Widerspruch mit den gebildeten Ständen setzt, ist unhaltbar; das zeigt alle Ge¬
schichte. Man sage auch nicht, die Hauptsache sei dort Reform der Verwaltung;
für eine Konstitution sei das russische Volk noch nicht reif. Gewiß ist das erste
richtig, aber zur Ausführung solcher Reformen bedarf es, wie die russische Bureau-
kratie um einmal ist, der Mitwirkung des Volks, und für eine solche werden die
Russen doch wohl so reif sein wie die eben erst der türkischen Knechtschaft ent¬
rissenen Bulgaren; jedenfalls wird unter der Autokratie kein Volk reif für die
Freiheit, sondern nur in der Freiheit. Die Russen haben gewiß noch eine schwere
und lange politische Schule vor sich, aber etwas so Neues, Unerhörtes, wie die
Anhänger des Absolutismus es darzustellen lieben, ist der Verfassungsgedanke in
Rußland gar nicht, und die zarische Autokratie ist gar nichts Urrussisches. Sie ist viel¬
mehr fremden, mongolischen, orientalischen Ursprungs; der Großfürst von Moskau ist
Herr von Rußland geworden als der Generalsteuereinnehmer des absoluten Mon¬
golenkhans, und die gegenwärtige Autokratie ist die Schöpfung Peters des Großen,
also nur etwa zweihundert Jahre alt. Vorher sind die Bojaren, die Lehnsleute
des Zaren, zeitweilig zu einer „Landesversammlung," einem Semskij Sobor, be¬
rufen worden, zuweilen mit Vertretern der Geistlichkeit und der Städte; ein solcher
Semskij Sobor hat am 7. Februar 1613 nach langem Bürgerkriege die Romanows
erhoben, die Vorfahren der gegenwärtigen Dynastie Holstein-Gottorp (seit 1762),
und erst seit Peter dem Großen erlosch die Institution tatsächlich, nicht anders als
die französischen ^t^es Aönsiaux seit 1614, die 1789 auch wieder auflebten. Auch
der moderne Verfassungsgedanke ist in Rußland nichts ganz Neues. Alexander
der Erste hat ihn ernsthaft erwogen und 1821 einen ausführliche» Entwurf dafür
aufstellen lassen, eine Konstitution war das Ziel des Militäraufstands der „Deka¬
bristen" von 1825, und als die nihilistische Bombe am 13. März 1881 Alexander
!den Zweiten, den besten und gütigsten Herrscher, den Rußland jemals gehabt hat,
zerriß, da lag die ausgefertigte Verfassungsurkunde zur Unterschrift in seinem Ka¬
binett. Auch jetzt taucht der Gedanke des Semskij Sobor neben andern administra¬
tiven Reformen wieder auf, sogar im Kabinett des Zaren, und er ist weithin zum
Schlachtruf geworden. Auch hat das russische Volk im neunzehnten Jahrhundert
doch viel gelernt. Elemente der Selbstverwaltung, der unentbehrlichen Grundlage
jeder wirksamen Verfassung, sind seitdem entstanden, die Semstwa der meisten
Gouvernements und die Dumas (Stadträte), dazu eine hochentwickelte, ruhige, wenn¬
gleich noch vielfach beschränkte Presse, die oft genug ein offnes freies Wort wagt;
me Leibeigenschaft ist seit fünfzig Jahren aufgehoben, und die Industrie hat eine
Fabrikarbeiterschaft ins Leben gerufen, die sich zu fühlen beginnt und teilweise schon
organisiert ist. Die größte Schwierigkeit liegt offenbar in der Gestaltung eines
künftigen Reichstags und in der Abmessung seiner Befugnisse. Jene wird unter
keinen Umständen auf dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechte beruhn
dürfen, das sich bei uns fortgesetzt so schlecht bewährt, und das vollends für Ru߬
land nur Utopisten fordern können, sondern eher auf einer Ständevertretung, und
seine Haupttätigkeit wird die Kontrolle der korrupten Verwaltung sein müssen,
über die sich alle Welt empört; eine starke Monarchie wird Rußland unter allen
Umständen bleiben müssen. Wie ein russischer Reichstag auftreten würde, kann,
zumal da die verschiednen Nationalitäten des europäischen Rußlands doch anch darin
vertreten sein und zu Worte kommen würden, niemand voraussehen, und darin
liegt gewiß eine große Gefahr; aber wenn man bedenkt, welche Summe von Kennt¬
nissen, Intelligenz, Opfermut und Patriotismus zum Beispiel in der spanischen


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[0527] Maßgebliches und Unmaßgebliches nicht die stumpfe Masse, und das Schicksal eines Volks hangt nicht von dieser, sondern von seinen führenden Ständen ab. Die osmanischen Türken sind nach dem Urteil aller Kundigen ein durchaus tüchtiges Volk, brav, fleißig, zuverlässig und bei den bescheidensten Ansprüchen unübertreffliche Soldaten, aber sie haben keine Aristokratie, und darum ist ihr Reich im Verfall. Ob die russischen Bauern eine Verfassung wollen oder nicht, das ist gleichgiltig; wenn die Gebildeten sie ernstlich wollen, so wird sie kommen, so oder so, denn eine Regierung, die sich in dauernden Widerspruch mit den gebildeten Ständen setzt, ist unhaltbar; das zeigt alle Ge¬ schichte. Man sage auch nicht, die Hauptsache sei dort Reform der Verwaltung; für eine Konstitution sei das russische Volk noch nicht reif. Gewiß ist das erste richtig, aber zur Ausführung solcher Reformen bedarf es, wie die russische Bureau- kratie um einmal ist, der Mitwirkung des Volks, und für eine solche werden die Russen doch wohl so reif sein wie die eben erst der türkischen Knechtschaft ent¬ rissenen Bulgaren; jedenfalls wird unter der Autokratie kein Volk reif für die Freiheit, sondern nur in der Freiheit. Die Russen haben gewiß noch eine schwere und lange politische Schule vor sich, aber etwas so Neues, Unerhörtes, wie die Anhänger des Absolutismus es darzustellen lieben, ist der Verfassungsgedanke in Rußland gar nicht, und die zarische Autokratie ist gar nichts Urrussisches. Sie ist viel¬ mehr fremden, mongolischen, orientalischen Ursprungs; der Großfürst von Moskau ist Herr von Rußland geworden als der Generalsteuereinnehmer des absoluten Mon¬ golenkhans, und die gegenwärtige Autokratie ist die Schöpfung Peters des Großen, also nur etwa zweihundert Jahre alt. Vorher sind die Bojaren, die Lehnsleute des Zaren, zeitweilig zu einer „Landesversammlung," einem Semskij Sobor, be¬ rufen worden, zuweilen mit Vertretern der Geistlichkeit und der Städte; ein solcher Semskij Sobor hat am 7. Februar 1613 nach langem Bürgerkriege die Romanows erhoben, die Vorfahren der gegenwärtigen Dynastie Holstein-Gottorp (seit 1762), und erst seit Peter dem Großen erlosch die Institution tatsächlich, nicht anders als die französischen ^t^es Aönsiaux seit 1614, die 1789 auch wieder auflebten. Auch der moderne Verfassungsgedanke ist in Rußland nichts ganz Neues. Alexander der Erste hat ihn ernsthaft erwogen und 1821 einen ausführliche» Entwurf dafür aufstellen lassen, eine Konstitution war das Ziel des Militäraufstands der „Deka¬ bristen" von 1825, und als die nihilistische Bombe am 13. März 1881 Alexander !den Zweiten, den besten und gütigsten Herrscher, den Rußland jemals gehabt hat, zerriß, da lag die ausgefertigte Verfassungsurkunde zur Unterschrift in seinem Ka¬ binett. Auch jetzt taucht der Gedanke des Semskij Sobor neben andern administra¬ tiven Reformen wieder auf, sogar im Kabinett des Zaren, und er ist weithin zum Schlachtruf geworden. Auch hat das russische Volk im neunzehnten Jahrhundert doch viel gelernt. Elemente der Selbstverwaltung, der unentbehrlichen Grundlage jeder wirksamen Verfassung, sind seitdem entstanden, die Semstwa der meisten Gouvernements und die Dumas (Stadträte), dazu eine hochentwickelte, ruhige, wenn¬ gleich noch vielfach beschränkte Presse, die oft genug ein offnes freies Wort wagt; me Leibeigenschaft ist seit fünfzig Jahren aufgehoben, und die Industrie hat eine Fabrikarbeiterschaft ins Leben gerufen, die sich zu fühlen beginnt und teilweise schon organisiert ist. Die größte Schwierigkeit liegt offenbar in der Gestaltung eines künftigen Reichstags und in der Abmessung seiner Befugnisse. Jene wird unter keinen Umständen auf dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechte beruhn dürfen, das sich bei uns fortgesetzt so schlecht bewährt, und das vollends für Ru߬ land nur Utopisten fordern können, sondern eher auf einer Ständevertretung, und seine Haupttätigkeit wird die Kontrolle der korrupten Verwaltung sein müssen, über die sich alle Welt empört; eine starke Monarchie wird Rußland unter allen Umständen bleiben müssen. Wie ein russischer Reichstag auftreten würde, kann, zumal da die verschiednen Nationalitäten des europäischen Rußlands doch anch darin vertreten sein und zu Worte kommen würden, niemand voraussehen, und darin liegt gewiß eine große Gefahr; aber wenn man bedenkt, welche Summe von Kennt¬ nissen, Intelligenz, Opfermut und Patriotismus zum Beispiel in der spanischen

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/527>, abgerufen am 23.07.2024.