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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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ein Echo wecken mußte. Ohne Zweifel kam neben dem Untergang einer so großen
Armee an sich wenig darauf an, ob 10 ()()() Preußen rechts oder links abmarschierten;
aber es war etwas Großes, daß der am meisten angekettete, furchtsamste und am
tiefsten erniedrigte der Besiegten und mit Gewalt zu Verbündeten Gemachtem von
Napoleon abfiel. Der Vorgang von Tauroggen hatte eine unermeßliche Tragweite,
und man übertreibt nicht, wenn man die Bedeutsamkeit dieser Beratungen in der
polnischen Ebne vom Dezember 1812 mit den andern Beratungen vergleicht, die,
ebenso verworren, unruhig und geheim, im Jahre 1792 Braunschweig in den Ebnen
der Champagne veranlaßt hatten, zum Rückzug blasen zu lassen. Wie das Ver¬
fahren Braunschweigs, so erklärt sich das Jorks nur durch ein allgemeines Ver¬
halten, die Atmosphäre, den Wind, der weht, die Zeit, mit einem Wort die Schick¬
salsbedingtheit, weil sich die Leitung der Dinge dem Willen des Einzelnen entzieht,
und alles durch die Mitwirkung aller geschieht. Am Ende wie am Anfang des
großen Krieges hatte Preußen den Vortritt und gab das Zeichen zu einer Entwick¬
lung der Dinge, von der Goethe am Abend von Valmy sagte: "Heute be-girrt
ein neues Stück Weltgeschichte." Das eine war in der Tat das Gegenstück vom
andern: hier, 1792, Abfall Preußens von dem Europa der gegen die französische
Revolution verbündeten Monarchen, dort, 1812, Abfall von Frankreich im Kampfe
gegen das Europa der ausgestandner Völker.

Außerordentlich treffend ist auch Sorels Charakteristik der Schlacht bei
Waterloo (er nennt sie so, nicht, wie sonst wohl die Franzosen, Mont Se. Jean),
Seite 445 ff.:

Wellington verläßt den Ball in Brüssel und findet, dank seiner vorsichtigem
Unterfeldherren, sein Heer bereit. Auf dem Schlachtfeld aber zeigt er sich ans der
Höhe: "Es gibt keine andre Losung als aushalten bis zum letzten Mann!" sagt
er inmitten der wütenden Anläufe der Franzosen. "Zweimal, erzählte er später,
habe ich den Tag durch meine Hartnäckigkeit gerettet; aber ich hoffe nie wieder
eine solche Schlacht liefern zu müssen." Er hielt aus, überzeugt, daß die Preußen
kommen und den Sieg entscheiden würden. In dieser Weise aushalten, sich mit
solcher Zuversicht waffnen -- das war etwas neues in der Geschichte der Bünd¬
nisse. Von 1792 bis 1809 wartete man nicht auf den Verbündeten, weil man
sich selbst unfähig fühlte, zu ihm zu stoßen. Die Dinge gingen noch mehr als
einmal so, auch 1814. Aber Wellington hatte Recht, Stand zu halten; seine ver¬
zweifelte Ausdauer wurde belohnt, und das wütende Feuer Blüchers verlieh ihm
Recht. Dieser setzte Napoleon noch mehr durch sein Ungestüm in Erstannen als
Wellington durch seinen Widerstand. Geschlagen und besiegt bei Ligny, sich ans
Schlachtfeld ankrallend und trotz seinem Ansturm doch zum Weichen genötigt, hatte
er sich auf dem Rückzüge wieder gefaßt. Grouchy suchte ihn überall da, wo er
ihn nach dem Gebrauch und nach allen Vorgängen hätte finden müssen, das heißt
möglichst weit weg. Blücher aber zeigte sich da, wo man ihn nicht erwartete, und
seine niedergeworfnen, kreuzlahm geschlagner, ausgehungerten Preußen erschienen
wieder, von rasender Kampfwut beseelt, trotzig, um über die Franzosen herzufallen.
Napoleon gerät zwischen zwei Feuer. Plötzlich ertönt der Ruf: Die Garde weicht!
wie die Totenglocke der großen Armee. Die englischen Massen säbeln die Fliehenden
mit dem wilden Rufe nieder: no vus,i-ter! no ouartöi,'! Wozu sich töten lassen?
Die Feinde rückten jetzt an, sie würden immer anrücken, nach denen von heute die
von morgen, von allen Seiten her, bis zu den Grenzen von Jllyrien, wohin
Napoleon seine Vorposten vorgeschoben hatte, bis Rußland, in das er hatte ein¬
dringen wollen, und aus dem er in Fetzen zerstückt zurückgeworfen worden war.
Napoleons Eroberungen gegen Europa glichen denen, die die Völker der Küsten
gegen den Ozean machen. Er hatte seine Dämme und Pfahlreiheu weit hinaus¬
geschoben, um das Meer anzuketten und sein Reich zu schützen; die Gewalt des
Wassers hatte alles weggefegt, und jetzt kam das Meer desto unwiderstehlicher,


vor hundert Jahren

ein Echo wecken mußte. Ohne Zweifel kam neben dem Untergang einer so großen
Armee an sich wenig darauf an, ob 10 ()()() Preußen rechts oder links abmarschierten;
aber es war etwas Großes, daß der am meisten angekettete, furchtsamste und am
tiefsten erniedrigte der Besiegten und mit Gewalt zu Verbündeten Gemachtem von
Napoleon abfiel. Der Vorgang von Tauroggen hatte eine unermeßliche Tragweite,
und man übertreibt nicht, wenn man die Bedeutsamkeit dieser Beratungen in der
polnischen Ebne vom Dezember 1812 mit den andern Beratungen vergleicht, die,
ebenso verworren, unruhig und geheim, im Jahre 1792 Braunschweig in den Ebnen
der Champagne veranlaßt hatten, zum Rückzug blasen zu lassen. Wie das Ver¬
fahren Braunschweigs, so erklärt sich das Jorks nur durch ein allgemeines Ver¬
halten, die Atmosphäre, den Wind, der weht, die Zeit, mit einem Wort die Schick¬
salsbedingtheit, weil sich die Leitung der Dinge dem Willen des Einzelnen entzieht,
und alles durch die Mitwirkung aller geschieht. Am Ende wie am Anfang des
großen Krieges hatte Preußen den Vortritt und gab das Zeichen zu einer Entwick¬
lung der Dinge, von der Goethe am Abend von Valmy sagte: „Heute be-girrt
ein neues Stück Weltgeschichte." Das eine war in der Tat das Gegenstück vom
andern: hier, 1792, Abfall Preußens von dem Europa der gegen die französische
Revolution verbündeten Monarchen, dort, 1812, Abfall von Frankreich im Kampfe
gegen das Europa der ausgestandner Völker.

Außerordentlich treffend ist auch Sorels Charakteristik der Schlacht bei
Waterloo (er nennt sie so, nicht, wie sonst wohl die Franzosen, Mont Se. Jean),
Seite 445 ff.:

Wellington verläßt den Ball in Brüssel und findet, dank seiner vorsichtigem
Unterfeldherren, sein Heer bereit. Auf dem Schlachtfeld aber zeigt er sich ans der
Höhe: „Es gibt keine andre Losung als aushalten bis zum letzten Mann!" sagt
er inmitten der wütenden Anläufe der Franzosen. „Zweimal, erzählte er später,
habe ich den Tag durch meine Hartnäckigkeit gerettet; aber ich hoffe nie wieder
eine solche Schlacht liefern zu müssen." Er hielt aus, überzeugt, daß die Preußen
kommen und den Sieg entscheiden würden. In dieser Weise aushalten, sich mit
solcher Zuversicht waffnen — das war etwas neues in der Geschichte der Bünd¬
nisse. Von 1792 bis 1809 wartete man nicht auf den Verbündeten, weil man
sich selbst unfähig fühlte, zu ihm zu stoßen. Die Dinge gingen noch mehr als
einmal so, auch 1814. Aber Wellington hatte Recht, Stand zu halten; seine ver¬
zweifelte Ausdauer wurde belohnt, und das wütende Feuer Blüchers verlieh ihm
Recht. Dieser setzte Napoleon noch mehr durch sein Ungestüm in Erstannen als
Wellington durch seinen Widerstand. Geschlagen und besiegt bei Ligny, sich ans
Schlachtfeld ankrallend und trotz seinem Ansturm doch zum Weichen genötigt, hatte
er sich auf dem Rückzüge wieder gefaßt. Grouchy suchte ihn überall da, wo er
ihn nach dem Gebrauch und nach allen Vorgängen hätte finden müssen, das heißt
möglichst weit weg. Blücher aber zeigte sich da, wo man ihn nicht erwartete, und
seine niedergeworfnen, kreuzlahm geschlagner, ausgehungerten Preußen erschienen
wieder, von rasender Kampfwut beseelt, trotzig, um über die Franzosen herzufallen.
Napoleon gerät zwischen zwei Feuer. Plötzlich ertönt der Ruf: Die Garde weicht!
wie die Totenglocke der großen Armee. Die englischen Massen säbeln die Fliehenden
mit dem wilden Rufe nieder: no vus,i-ter! no ouartöi,'! Wozu sich töten lassen?
Die Feinde rückten jetzt an, sie würden immer anrücken, nach denen von heute die
von morgen, von allen Seiten her, bis zu den Grenzen von Jllyrien, wohin
Napoleon seine Vorposten vorgeschoben hatte, bis Rußland, in das er hatte ein¬
dringen wollen, und aus dem er in Fetzen zerstückt zurückgeworfen worden war.
Napoleons Eroberungen gegen Europa glichen denen, die die Völker der Küsten
gegen den Ozean machen. Er hatte seine Dämme und Pfahlreiheu weit hinaus¬
geschoben, um das Meer anzuketten und sein Reich zu schützen; die Gewalt des
Wassers hatte alles weggefegt, und jetzt kam das Meer desto unwiderstehlicher,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/500>, abgerufen am 22.12.2024.