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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

von ihm angesetzten Preis (broschiert 10 Mark, gebunden 14 Mark) keineswegs zu
teuer erkauft. Welchen Anklang die Briefe gefunden haben, beweist der Umstand,
daß jetzt, drei Monate nach dem Erscheinen der ersten Auflage, die "dritte und
Werner Deetjen Vierte" gedruckt wird.


Die Legende von der schönen Galiana in Viterbo.

Die Chroniken
der Stadt Viterbo in Toscana enthalten folgende merkwürdige Geschichte: In
Viterbo lebte im zwölften Jahrhundert eine Jungfrau namens Galiana, die so
schön war, daß die Bürgerschaft sie als ihr köstlichstes Kleinod betrachtete. Ein
vornehmer Römer, von ihrer Schönheit bezaubert, warb um sie, wurde aber zurück¬
gewiesen, weil sich die Bürger von ihrem wunderbaren Besitztum nicht trennen
wollten. Aufgebracht darüber, erschien der verschmähte Liebhaber mit einem Heere
vor der Stadt und belagerte sie. Da es ihm aber nicht so schnell, wie er gedacht
hatte, gelang, die Stadt einzunehmen, erklärte er, er wolle abziehn, wenn man ihm
Gelegenheit gäbe, die Schöne wenigstens zu sehen. Gern ging man darauf ein.
Die schöne Galiana erschien auf der Bastion San Elemente, um sich dem Römer
und seinem Gefolge zu zeigen. Aber kaum hatte dieser die Jungfrau erblickt, als
er von wütendem Schmerz, sie nicht gewinnen zu können, ergriffen, mit einem
Pfeil ihre Brust durchbohrte. Dies ist die ursprüngliche Geschichte. Später fügte
man hinzu, die Einwohner von Viterbo hätten, über den Verlust tief betrübt,
die Tote in einem kostbaren Sarkophag bestattet, in demselben, der noch heute vor
der Fassade der Kirche S. Angelo ans dem Gemeindeplatze steht. Er ist mit Reliefs
geschmückt, die die kalydonische Eberjagd darstellen, und enthält eine Aufschrift, die
in lateinischen Hexametern den Verlust der Bürgerschaft mit pomphaften Worten
als ein nationales Unglück beklagt.

Die Chroniken von Viterbo berichten die Geschichte, ohne irgendwelche Zweifel
an ihrer Echtheit zu äußern, und setzen sie in das Jahr 1158. Nun ist aber der
Marmorsarkvphag sehr viel älter als die schöne Galiana, die darin ruhen sollte,
die Aufschrift aber viel jünger, denn sie gehört dem Jahre 1549 an. Was folgt
daraus? Daß wir es hier mit keiner Tatsache, sondern mit einer Sage zu tun
haben, einem Spiel der dichtenden Phantasie.

Im Jahre 1158 wurde Viterbo, das sich, wie es scheint, angefeuert durch
Wort und Beispiel Arnolds von Brescia, für einen unabhängigen Freistaat erklärt
hatte, von dem päpstlichen Präfekten Pietro de Vico mit Waffengewalt zur
Unterwerfung gezwungen. Man darf es demnach kaum bezweifeln, daß die Ge¬
schichte der Niederschlag der damals um die Stadt geführten Kämpfe ist. Ob aber
auch die Deutung richtig ist, die Giuseppe Perugi der von ihm in Nummer 47 des
l'Äntllllü ävlla, äomenioa besprochnen Legende gibt? Für eine Allegorie glaubt er
die ganze Erzählung halten zu dürfen. Die schöne Galiana sei die von Pietro
de Vico erdrosselte Freiheit der Stadt Viterbo, ihr Tod auf San Elemente eine
Erinnerung, daß hier die Übergabe geschehen sei. Ja sogar die Bildwerke des
Sarkophags sollen von den Einwohnern der Stadt als Allegorie gefaßt und auf
ihre Niederlage bezogen worden sein. Der kalydonische Eber sei ihnen als der grau¬
same Eroberer erschienen, in der Atalante hätten sie wiederum das Symbol der
verlornen Freiheit gesehen. Und darum hätten sie den Sarkophag offen ausgestellt,
um unter der doch durchsichtigen Hülle der Allegorie ihren Haß gegen die Unter¬
drücker, den sie mit Worten nicht aussprechen durften, kund zu tun. Das erste
könnte man am Ende gelten lassen, aber das zweite ist doch gar zu künstlich er¬
sonnen, zumal da die griechische Atalante bei der Eberjagd nicht ums Leben kommt.
Die Verse der Aufschrift aber -- darin hat Perugi jedenfalls Recht -- beklagen
den Fall und die verlorne Freiheit der Stadt, erst später, als die Legende schon
F. R. fertig war, sind sie auf deu Tod des Mädchens bezogen worden.




Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig -- Druck von Karl Marquart in Leipzig
Maßgebliches und Unmaßgebliches

von ihm angesetzten Preis (broschiert 10 Mark, gebunden 14 Mark) keineswegs zu
teuer erkauft. Welchen Anklang die Briefe gefunden haben, beweist der Umstand,
daß jetzt, drei Monate nach dem Erscheinen der ersten Auflage, die „dritte und
Werner Deetjen Vierte" gedruckt wird.


Die Legende von der schönen Galiana in Viterbo.

Die Chroniken
der Stadt Viterbo in Toscana enthalten folgende merkwürdige Geschichte: In
Viterbo lebte im zwölften Jahrhundert eine Jungfrau namens Galiana, die so
schön war, daß die Bürgerschaft sie als ihr köstlichstes Kleinod betrachtete. Ein
vornehmer Römer, von ihrer Schönheit bezaubert, warb um sie, wurde aber zurück¬
gewiesen, weil sich die Bürger von ihrem wunderbaren Besitztum nicht trennen
wollten. Aufgebracht darüber, erschien der verschmähte Liebhaber mit einem Heere
vor der Stadt und belagerte sie. Da es ihm aber nicht so schnell, wie er gedacht
hatte, gelang, die Stadt einzunehmen, erklärte er, er wolle abziehn, wenn man ihm
Gelegenheit gäbe, die Schöne wenigstens zu sehen. Gern ging man darauf ein.
Die schöne Galiana erschien auf der Bastion San Elemente, um sich dem Römer
und seinem Gefolge zu zeigen. Aber kaum hatte dieser die Jungfrau erblickt, als
er von wütendem Schmerz, sie nicht gewinnen zu können, ergriffen, mit einem
Pfeil ihre Brust durchbohrte. Dies ist die ursprüngliche Geschichte. Später fügte
man hinzu, die Einwohner von Viterbo hätten, über den Verlust tief betrübt,
die Tote in einem kostbaren Sarkophag bestattet, in demselben, der noch heute vor
der Fassade der Kirche S. Angelo ans dem Gemeindeplatze steht. Er ist mit Reliefs
geschmückt, die die kalydonische Eberjagd darstellen, und enthält eine Aufschrift, die
in lateinischen Hexametern den Verlust der Bürgerschaft mit pomphaften Worten
als ein nationales Unglück beklagt.

Die Chroniken von Viterbo berichten die Geschichte, ohne irgendwelche Zweifel
an ihrer Echtheit zu äußern, und setzen sie in das Jahr 1158. Nun ist aber der
Marmorsarkvphag sehr viel älter als die schöne Galiana, die darin ruhen sollte,
die Aufschrift aber viel jünger, denn sie gehört dem Jahre 1549 an. Was folgt
daraus? Daß wir es hier mit keiner Tatsache, sondern mit einer Sage zu tun
haben, einem Spiel der dichtenden Phantasie.

Im Jahre 1158 wurde Viterbo, das sich, wie es scheint, angefeuert durch
Wort und Beispiel Arnolds von Brescia, für einen unabhängigen Freistaat erklärt
hatte, von dem päpstlichen Präfekten Pietro de Vico mit Waffengewalt zur
Unterwerfung gezwungen. Man darf es demnach kaum bezweifeln, daß die Ge¬
schichte der Niederschlag der damals um die Stadt geführten Kämpfe ist. Ob aber
auch die Deutung richtig ist, die Giuseppe Perugi der von ihm in Nummer 47 des
l'Äntllllü ävlla, äomenioa besprochnen Legende gibt? Für eine Allegorie glaubt er
die ganze Erzählung halten zu dürfen. Die schöne Galiana sei die von Pietro
de Vico erdrosselte Freiheit der Stadt Viterbo, ihr Tod auf San Elemente eine
Erinnerung, daß hier die Übergabe geschehen sei. Ja sogar die Bildwerke des
Sarkophags sollen von den Einwohnern der Stadt als Allegorie gefaßt und auf
ihre Niederlage bezogen worden sein. Der kalydonische Eber sei ihnen als der grau¬
same Eroberer erschienen, in der Atalante hätten sie wiederum das Symbol der
verlornen Freiheit gesehen. Und darum hätten sie den Sarkophag offen ausgestellt,
um unter der doch durchsichtigen Hülle der Allegorie ihren Haß gegen die Unter¬
drücker, den sie mit Worten nicht aussprechen durften, kund zu tun. Das erste
könnte man am Ende gelten lassen, aber das zweite ist doch gar zu künstlich er¬
sonnen, zumal da die griechische Atalante bei der Eberjagd nicht ums Leben kommt.
Die Verse der Aufschrift aber — darin hat Perugi jedenfalls Recht — beklagen
den Fall und die verlorne Freiheit der Stadt, erst später, als die Legende schon
F. R. fertig war, sind sie auf deu Tod des Mädchens bezogen worden.




Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig — Druck von Karl Marquart in Leipzig
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[0476] Maßgebliches und Unmaßgebliches von ihm angesetzten Preis (broschiert 10 Mark, gebunden 14 Mark) keineswegs zu teuer erkauft. Welchen Anklang die Briefe gefunden haben, beweist der Umstand, daß jetzt, drei Monate nach dem Erscheinen der ersten Auflage, die „dritte und Werner Deetjen Vierte" gedruckt wird. Die Legende von der schönen Galiana in Viterbo. Die Chroniken der Stadt Viterbo in Toscana enthalten folgende merkwürdige Geschichte: In Viterbo lebte im zwölften Jahrhundert eine Jungfrau namens Galiana, die so schön war, daß die Bürgerschaft sie als ihr köstlichstes Kleinod betrachtete. Ein vornehmer Römer, von ihrer Schönheit bezaubert, warb um sie, wurde aber zurück¬ gewiesen, weil sich die Bürger von ihrem wunderbaren Besitztum nicht trennen wollten. Aufgebracht darüber, erschien der verschmähte Liebhaber mit einem Heere vor der Stadt und belagerte sie. Da es ihm aber nicht so schnell, wie er gedacht hatte, gelang, die Stadt einzunehmen, erklärte er, er wolle abziehn, wenn man ihm Gelegenheit gäbe, die Schöne wenigstens zu sehen. Gern ging man darauf ein. Die schöne Galiana erschien auf der Bastion San Elemente, um sich dem Römer und seinem Gefolge zu zeigen. Aber kaum hatte dieser die Jungfrau erblickt, als er von wütendem Schmerz, sie nicht gewinnen zu können, ergriffen, mit einem Pfeil ihre Brust durchbohrte. Dies ist die ursprüngliche Geschichte. Später fügte man hinzu, die Einwohner von Viterbo hätten, über den Verlust tief betrübt, die Tote in einem kostbaren Sarkophag bestattet, in demselben, der noch heute vor der Fassade der Kirche S. Angelo ans dem Gemeindeplatze steht. Er ist mit Reliefs geschmückt, die die kalydonische Eberjagd darstellen, und enthält eine Aufschrift, die in lateinischen Hexametern den Verlust der Bürgerschaft mit pomphaften Worten als ein nationales Unglück beklagt. Die Chroniken von Viterbo berichten die Geschichte, ohne irgendwelche Zweifel an ihrer Echtheit zu äußern, und setzen sie in das Jahr 1158. Nun ist aber der Marmorsarkvphag sehr viel älter als die schöne Galiana, die darin ruhen sollte, die Aufschrift aber viel jünger, denn sie gehört dem Jahre 1549 an. Was folgt daraus? Daß wir es hier mit keiner Tatsache, sondern mit einer Sage zu tun haben, einem Spiel der dichtenden Phantasie. Im Jahre 1158 wurde Viterbo, das sich, wie es scheint, angefeuert durch Wort und Beispiel Arnolds von Brescia, für einen unabhängigen Freistaat erklärt hatte, von dem päpstlichen Präfekten Pietro de Vico mit Waffengewalt zur Unterwerfung gezwungen. Man darf es demnach kaum bezweifeln, daß die Ge¬ schichte der Niederschlag der damals um die Stadt geführten Kämpfe ist. Ob aber auch die Deutung richtig ist, die Giuseppe Perugi der von ihm in Nummer 47 des l'Äntllllü ävlla, äomenioa besprochnen Legende gibt? Für eine Allegorie glaubt er die ganze Erzählung halten zu dürfen. Die schöne Galiana sei die von Pietro de Vico erdrosselte Freiheit der Stadt Viterbo, ihr Tod auf San Elemente eine Erinnerung, daß hier die Übergabe geschehen sei. Ja sogar die Bildwerke des Sarkophags sollen von den Einwohnern der Stadt als Allegorie gefaßt und auf ihre Niederlage bezogen worden sein. Der kalydonische Eber sei ihnen als der grau¬ same Eroberer erschienen, in der Atalante hätten sie wiederum das Symbol der verlornen Freiheit gesehen. Und darum hätten sie den Sarkophag offen ausgestellt, um unter der doch durchsichtigen Hülle der Allegorie ihren Haß gegen die Unter¬ drücker, den sie mit Worten nicht aussprechen durften, kund zu tun. Das erste könnte man am Ende gelten lassen, aber das zweite ist doch gar zu künstlich er¬ sonnen, zumal da die griechische Atalante bei der Eberjagd nicht ums Leben kommt. Die Verse der Aufschrift aber — darin hat Perugi jedenfalls Recht — beklagen den Fall und die verlorne Freiheit der Stadt, erst später, als die Legende schon F. R. fertig war, sind sie auf deu Tod des Mädchens bezogen worden. Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig — Druck von Karl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/476>, abgerufen am 22.12.2024.