Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Erinnerungen einer Lehrerin

Das Innere der Wohnungen besteht in günstigen Verhältnissen aus "Stube,
Kammer und Küche," in andern nur aus den beiden letzten und in den un¬
günstigsten Füllen aus einem einzigen Räume, der dann als Koch-, Wohn- und
Schlafraum dient. Durch den bei uns Deutschen herrschenden Kinderreichtum
wird dieser Raum auch noch als Trockenraum für Kinderwäsche benutzt. Die
Luft, die dann entsteht, spottet jeder Beschreibung und zwingt jede nicht daran
gewohnte Lunge, nach längstens fünf Minuten zu flüchten. Es ist der echte,
rechte "Armeleutegeruch," der sich so fest in die Kleider setzt, daß mau ihn nur
mit Mühe wieder entfernen kann.

Mir ist es begreiflich geworden, warum die Tuberkulose ein so furchtbarer
Feind geworden ist. Wenn ich mir vorstelle, daß ein Arbeiter Tags über in
der verdorbnen Fabrikluft und Nachts über in solchen Spelunken aushalten muß,
dann erscheint es mir als ein Wunder, daß wir überhaupt noch gesunde Leute
haben. Und wenn wir nicht die Einwcmdrung von gesunden Landleuten hätten,
dann würden die Großstädter bald ausgestorben sein.

Ich habe nur einmal auf dem Lande eine ähnliche Luft und ein ähnliches
zusammengepferchtes Schlafen gefunden, nämlich in Arbeiterhäusern, die für pol¬
nische Akkordarbeiter bestimmt waren. Mir war bei diesen einfach mit Stroh
aufgeschütteten Schlafräumen der Appetit zum Essen und die Gesellschafts¬
stimmung vergangen. Ich weiß, daß ich über den Rittergutsbesitzer aufs höchste
empört war, der Menschen einen so menschenunwürdigen Aufenthaltsort, wenn
auch nur für einige Monate, anwies. In der Großstadt aber habe ich öfter
Räume gesehen, die nichts Menschenwürdiges an sich hatten, die keine Spur
von dem, was man eine behagliche Häuslichkeit nennt, zeigten, die aber jeder
Forderung der Hygiene Hohn sprachen.

Von meinen 56 Schulkindern haben nur zwei ein Bett für sich allein,
44 Kinder schlafen zu zweien und zehn sogar zu dreien in einem Bett. Dabei
muß man aber nicht an breite, sondern an recht schmale Bettgestelle denken.
Fast immer schläft die ganze Familie in einem Räume, Erwachsne und Kinder
in gemeinschaftlichen Betten; daß hierdurch jedes feinere Sittlichkeits- und
Anstandsgefühl ertötet wird, ist klar, und daß bei unfern Kindern von kindlicher
Unschuld kaum geredet werden kann, ist leider ebenso wahr. Geburt und Tod
eines Menschen verliert für sie schon im zartesten Kindesalter das Geheimnis¬
volle und Erhabne. Jährlich werden kleine Geschwister geboren und begraben,
das Einschneidendste im menschlichen Leben ist etwas Alltägliches für die Kinder
einer Großstadt im Armenviertel. Als Beleg folgender authentischer Ent¬
schuldigungszettel:


Herrn Direcktor! Hochwohlgeboren.

Sehr geerther Herr möchte Ihnen höflichst Bitten Gertrud ein paar Tage
frei zu geben, ich erwarte mit jeder Minute meine Niderkunft, habe keinen
Menschen im Hause uoch das kleine Kind von 2 Jahren, sollte mir schnell
etwas passim so kann mir doch das Mädchen die erste Hilfe holen, heute ist
es mir unmöglich ohne Hilfe zu sein, ich bin nicht im Stande etwas zu thuen,
oder zu holen da ich Leute in Kost habe, ich bitte nochmals um Ihre Güte.


H M. P. ochachtend
Erinnerungen einer Lehrerin

Das Innere der Wohnungen besteht in günstigen Verhältnissen aus „Stube,
Kammer und Küche," in andern nur aus den beiden letzten und in den un¬
günstigsten Füllen aus einem einzigen Räume, der dann als Koch-, Wohn- und
Schlafraum dient. Durch den bei uns Deutschen herrschenden Kinderreichtum
wird dieser Raum auch noch als Trockenraum für Kinderwäsche benutzt. Die
Luft, die dann entsteht, spottet jeder Beschreibung und zwingt jede nicht daran
gewohnte Lunge, nach längstens fünf Minuten zu flüchten. Es ist der echte,
rechte „Armeleutegeruch," der sich so fest in die Kleider setzt, daß mau ihn nur
mit Mühe wieder entfernen kann.

Mir ist es begreiflich geworden, warum die Tuberkulose ein so furchtbarer
Feind geworden ist. Wenn ich mir vorstelle, daß ein Arbeiter Tags über in
der verdorbnen Fabrikluft und Nachts über in solchen Spelunken aushalten muß,
dann erscheint es mir als ein Wunder, daß wir überhaupt noch gesunde Leute
haben. Und wenn wir nicht die Einwcmdrung von gesunden Landleuten hätten,
dann würden die Großstädter bald ausgestorben sein.

Ich habe nur einmal auf dem Lande eine ähnliche Luft und ein ähnliches
zusammengepferchtes Schlafen gefunden, nämlich in Arbeiterhäusern, die für pol¬
nische Akkordarbeiter bestimmt waren. Mir war bei diesen einfach mit Stroh
aufgeschütteten Schlafräumen der Appetit zum Essen und die Gesellschafts¬
stimmung vergangen. Ich weiß, daß ich über den Rittergutsbesitzer aufs höchste
empört war, der Menschen einen so menschenunwürdigen Aufenthaltsort, wenn
auch nur für einige Monate, anwies. In der Großstadt aber habe ich öfter
Räume gesehen, die nichts Menschenwürdiges an sich hatten, die keine Spur
von dem, was man eine behagliche Häuslichkeit nennt, zeigten, die aber jeder
Forderung der Hygiene Hohn sprachen.

Von meinen 56 Schulkindern haben nur zwei ein Bett für sich allein,
44 Kinder schlafen zu zweien und zehn sogar zu dreien in einem Bett. Dabei
muß man aber nicht an breite, sondern an recht schmale Bettgestelle denken.
Fast immer schläft die ganze Familie in einem Räume, Erwachsne und Kinder
in gemeinschaftlichen Betten; daß hierdurch jedes feinere Sittlichkeits- und
Anstandsgefühl ertötet wird, ist klar, und daß bei unfern Kindern von kindlicher
Unschuld kaum geredet werden kann, ist leider ebenso wahr. Geburt und Tod
eines Menschen verliert für sie schon im zartesten Kindesalter das Geheimnis¬
volle und Erhabne. Jährlich werden kleine Geschwister geboren und begraben,
das Einschneidendste im menschlichen Leben ist etwas Alltägliches für die Kinder
einer Großstadt im Armenviertel. Als Beleg folgender authentischer Ent¬
schuldigungszettel:


Herrn Direcktor! Hochwohlgeboren.

Sehr geerther Herr möchte Ihnen höflichst Bitten Gertrud ein paar Tage
frei zu geben, ich erwarte mit jeder Minute meine Niderkunft, habe keinen
Menschen im Hause uoch das kleine Kind von 2 Jahren, sollte mir schnell
etwas passim so kann mir doch das Mädchen die erste Hilfe holen, heute ist
es mir unmöglich ohne Hilfe zu sein, ich bin nicht im Stande etwas zu thuen,
oder zu holen da ich Leute in Kost habe, ich bitte nochmals um Ihre Güte.


H M. P. ochachtend
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0447" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/87925"/>
          <fw type="header" place="top"> Erinnerungen einer Lehrerin</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1921"> Das Innere der Wohnungen besteht in günstigen Verhältnissen aus &#x201E;Stube,<lb/>
Kammer und Küche," in andern nur aus den beiden letzten und in den un¬<lb/>
günstigsten Füllen aus einem einzigen Räume, der dann als Koch-, Wohn- und<lb/>
Schlafraum dient. Durch den bei uns Deutschen herrschenden Kinderreichtum<lb/>
wird dieser Raum auch noch als Trockenraum für Kinderwäsche benutzt. Die<lb/>
Luft, die dann entsteht, spottet jeder Beschreibung und zwingt jede nicht daran<lb/>
gewohnte Lunge, nach längstens fünf Minuten zu flüchten. Es ist der echte,<lb/>
rechte &#x201E;Armeleutegeruch," der sich so fest in die Kleider setzt, daß mau ihn nur<lb/>
mit Mühe wieder entfernen kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1922"> Mir ist es begreiflich geworden, warum die Tuberkulose ein so furchtbarer<lb/>
Feind geworden ist. Wenn ich mir vorstelle, daß ein Arbeiter Tags über in<lb/>
der verdorbnen Fabrikluft und Nachts über in solchen Spelunken aushalten muß,<lb/>
dann erscheint es mir als ein Wunder, daß wir überhaupt noch gesunde Leute<lb/>
haben. Und wenn wir nicht die Einwcmdrung von gesunden Landleuten hätten,<lb/>
dann würden die Großstädter bald ausgestorben sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1923"> Ich habe nur einmal auf dem Lande eine ähnliche Luft und ein ähnliches<lb/>
zusammengepferchtes Schlafen gefunden, nämlich in Arbeiterhäusern, die für pol¬<lb/>
nische Akkordarbeiter bestimmt waren. Mir war bei diesen einfach mit Stroh<lb/>
aufgeschütteten Schlafräumen der Appetit zum Essen und die Gesellschafts¬<lb/>
stimmung vergangen. Ich weiß, daß ich über den Rittergutsbesitzer aufs höchste<lb/>
empört war, der Menschen einen so menschenunwürdigen Aufenthaltsort, wenn<lb/>
auch nur für einige Monate, anwies. In der Großstadt aber habe ich öfter<lb/>
Räume gesehen, die nichts Menschenwürdiges an sich hatten, die keine Spur<lb/>
von dem, was man eine behagliche Häuslichkeit nennt, zeigten, die aber jeder<lb/>
Forderung der Hygiene Hohn sprachen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1924"> Von meinen 56 Schulkindern haben nur zwei ein Bett für sich allein,<lb/>
44 Kinder schlafen zu zweien und zehn sogar zu dreien in einem Bett. Dabei<lb/>
muß man aber nicht an breite, sondern an recht schmale Bettgestelle denken.<lb/>
Fast immer schläft die ganze Familie in einem Räume, Erwachsne und Kinder<lb/>
in gemeinschaftlichen Betten; daß hierdurch jedes feinere Sittlichkeits- und<lb/>
Anstandsgefühl ertötet wird, ist klar, und daß bei unfern Kindern von kindlicher<lb/>
Unschuld kaum geredet werden kann, ist leider ebenso wahr. Geburt und Tod<lb/>
eines Menschen verliert für sie schon im zartesten Kindesalter das Geheimnis¬<lb/>
volle und Erhabne. Jährlich werden kleine Geschwister geboren und begraben,<lb/>
das Einschneidendste im menschlichen Leben ist etwas Alltägliches für die Kinder<lb/>
einer Großstadt im Armenviertel. Als Beleg folgender authentischer Ent¬<lb/>
schuldigungszettel:</p><lb/>
          <note type="salute"> Herrn Direcktor! Hochwohlgeboren.</note><lb/>
          <p xml:id="ID_1925"> Sehr geerther Herr möchte Ihnen höflichst Bitten Gertrud ein paar Tage<lb/>
frei zu geben, ich erwarte mit jeder Minute meine Niderkunft, habe keinen<lb/>
Menschen im Hause uoch das kleine Kind von 2 Jahren, sollte mir schnell<lb/>
etwas passim so kann mir doch das Mädchen die erste Hilfe holen, heute ist<lb/>
es mir unmöglich ohne Hilfe zu sein, ich bin nicht im Stande etwas zu thuen,<lb/>
oder zu holen da ich Leute in Kost habe, ich bitte nochmals um Ihre Güte.</p><lb/>
          <note type="closer"> H<note type="bibl"> M. P.</note> ochachtend </note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0447] Erinnerungen einer Lehrerin Das Innere der Wohnungen besteht in günstigen Verhältnissen aus „Stube, Kammer und Küche," in andern nur aus den beiden letzten und in den un¬ günstigsten Füllen aus einem einzigen Räume, der dann als Koch-, Wohn- und Schlafraum dient. Durch den bei uns Deutschen herrschenden Kinderreichtum wird dieser Raum auch noch als Trockenraum für Kinderwäsche benutzt. Die Luft, die dann entsteht, spottet jeder Beschreibung und zwingt jede nicht daran gewohnte Lunge, nach längstens fünf Minuten zu flüchten. Es ist der echte, rechte „Armeleutegeruch," der sich so fest in die Kleider setzt, daß mau ihn nur mit Mühe wieder entfernen kann. Mir ist es begreiflich geworden, warum die Tuberkulose ein so furchtbarer Feind geworden ist. Wenn ich mir vorstelle, daß ein Arbeiter Tags über in der verdorbnen Fabrikluft und Nachts über in solchen Spelunken aushalten muß, dann erscheint es mir als ein Wunder, daß wir überhaupt noch gesunde Leute haben. Und wenn wir nicht die Einwcmdrung von gesunden Landleuten hätten, dann würden die Großstädter bald ausgestorben sein. Ich habe nur einmal auf dem Lande eine ähnliche Luft und ein ähnliches zusammengepferchtes Schlafen gefunden, nämlich in Arbeiterhäusern, die für pol¬ nische Akkordarbeiter bestimmt waren. Mir war bei diesen einfach mit Stroh aufgeschütteten Schlafräumen der Appetit zum Essen und die Gesellschafts¬ stimmung vergangen. Ich weiß, daß ich über den Rittergutsbesitzer aufs höchste empört war, der Menschen einen so menschenunwürdigen Aufenthaltsort, wenn auch nur für einige Monate, anwies. In der Großstadt aber habe ich öfter Räume gesehen, die nichts Menschenwürdiges an sich hatten, die keine Spur von dem, was man eine behagliche Häuslichkeit nennt, zeigten, die aber jeder Forderung der Hygiene Hohn sprachen. Von meinen 56 Schulkindern haben nur zwei ein Bett für sich allein, 44 Kinder schlafen zu zweien und zehn sogar zu dreien in einem Bett. Dabei muß man aber nicht an breite, sondern an recht schmale Bettgestelle denken. Fast immer schläft die ganze Familie in einem Räume, Erwachsne und Kinder in gemeinschaftlichen Betten; daß hierdurch jedes feinere Sittlichkeits- und Anstandsgefühl ertötet wird, ist klar, und daß bei unfern Kindern von kindlicher Unschuld kaum geredet werden kann, ist leider ebenso wahr. Geburt und Tod eines Menschen verliert für sie schon im zartesten Kindesalter das Geheimnis¬ volle und Erhabne. Jährlich werden kleine Geschwister geboren und begraben, das Einschneidendste im menschlichen Leben ist etwas Alltägliches für die Kinder einer Großstadt im Armenviertel. Als Beleg folgender authentischer Ent¬ schuldigungszettel: Herrn Direcktor! Hochwohlgeboren. Sehr geerther Herr möchte Ihnen höflichst Bitten Gertrud ein paar Tage frei zu geben, ich erwarte mit jeder Minute meine Niderkunft, habe keinen Menschen im Hause uoch das kleine Kind von 2 Jahren, sollte mir schnell etwas passim so kann mir doch das Mädchen die erste Hilfe holen, heute ist es mir unmöglich ohne Hilfe zu sein, ich bin nicht im Stande etwas zu thuen, oder zu holen da ich Leute in Kost habe, ich bitte nochmals um Ihre Güte. H M. P. ochachtend

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/447
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/447>, abgerufen am 23.07.2024.