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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Die magyarische Frage

manu, der stark genug gewesen wäre, dem Rade der Zeit in die Speichen zu
greifen. An seiner Ergebenheit für seinen König ist nicht zu zweifeln, er war
jedoch ein Minister, wie sie der Parlamentarismus zu Dutzenden hervorbringt,
ein Produkt der innerpolitischen Entwicklung Ungarns seit 1867, und so konnte
er nichts andres tun, als was dieser Entwicklung entsprach.

Die Regierung Koloman von Szells begann mit einer imposanten Parla¬
mentsmehrheit, hatte sich doch nunmehr die unter Führung des Grafen Albert
Apponyi stehende Nationalpartei der Regiernngspartei angeschlossen. Eine Auf¬
lösung der Nationalpartei in der Regierungspartei erfolgte allerdings nicht;
wie ein Keil hatten sich Apponyi und seine Anhänger in die alte liberale
Partei hineingeschoben, entschlossen, sie unter ihre Führung zu bringen. Noch
war Apponyi weit davon entfernt, die staatsrechtlichen Anschauungen der Unab¬
hängigkeitspartei zu teilen, ebensowenig stimmte er aber mit den Grundsätzen
der bisherigen Führer der Regierungspartei überein, und es blieb auch nicht
lange ein Geheimnis, daß Graf Apponyi bei der Vereinigung seiner Partei
mit der Regierungspartei von Herrn von Szell die Zusicherung gewisser Zuge¬
ständnisse in der Armeefrage gefordert und auch erlangt hatte. Die ihrer
Zahl nach riesige parlamentarische Majorität des Kabinetts Szell war also
schon von Anbeginn keine gleichartige Partei. Man konnte deutlich drei
Gruppen unterscheiden: die sogenannte Tiszaclique, das war der Kern der
Majorität, auf die sich auch Koloman Tisza, Weierle und Banffy gestützt
hatten; die Gruppe Appouyis, die von der Tiszaclique durch politische Meinungs¬
verschiedenheiten, noch mehr aber vielleicht durch jahrelang genährten persön¬
lichen Haß geschieden war, und unklar zwischen beiden der "Sumpf," d. h. die
Masse der gouvernementalen Abgeordneten, die sich dem jeweils Stärksten an¬
schließen. Aus diesem Zentrum entwickelten sich später die Gruppen der Agrarier
und die sogenannte Kasinopartei, die Gefolgschaft der Familien Andrassy und
Batthyany, auf die sich hauptsächlich der Kabinettschef Herr von Szell stützte.

Schon die nächsten allgemeinen Wahlen vom Jahre 1899 brachten eine
nach außen allerdings nicht sofort ins Auge fallende Veränderung der Szenerie.
Es waren die ersten "freien" Wahlen. Der Zahl nach ging die Regierungs¬
partei nur wenig geschwächt aus dem Wahlkampfe hervor, in ihrem Rahmen
selbst jedoch hatte die Apponyigruppe ganz bedeutende Erfolge erreicht, und
ebenso hatte die Unabhängigkeitspartei von 1848 gewonnen. Noch stärker fiel
aber der Umstand ins Gewicht, daß in den magyarischen Bezirken die alte
liberale Partei immer mehr zurückgedrängt wurde und sich dafür nur in den
slowakischen, rumänischen und serbischen Wahlbezirken schadlos halten konnte,
wo die Opposition trotz dem Gesetz über die Wahlgerichtsbarkeit der Regierung
erlaubte, die Abgeordneten wie bisher zu "ernennen." Die alte liberale Partei
bestand also noch mehr als bisher aus den von der Regierung "ernannten"
Abgeordneten nichtmagyarischer Wahlbezirke, während sich in den magyarischen
Bezirken die Gefolgschaft Appvnyis und die Opposition vom Jahre 1848 immer
wehr ausbreitete. Was Banffy von freien Wahlen befürchtet hatte, war ein¬
getreten: das Anschwellen der staatsrechtlichen Opposition.

Der damalige Ministerpräsident Koloman von Szell glaubte jedoch damit


Die magyarische Frage

manu, der stark genug gewesen wäre, dem Rade der Zeit in die Speichen zu
greifen. An seiner Ergebenheit für seinen König ist nicht zu zweifeln, er war
jedoch ein Minister, wie sie der Parlamentarismus zu Dutzenden hervorbringt,
ein Produkt der innerpolitischen Entwicklung Ungarns seit 1867, und so konnte
er nichts andres tun, als was dieser Entwicklung entsprach.

Die Regierung Koloman von Szells begann mit einer imposanten Parla¬
mentsmehrheit, hatte sich doch nunmehr die unter Führung des Grafen Albert
Apponyi stehende Nationalpartei der Regiernngspartei angeschlossen. Eine Auf¬
lösung der Nationalpartei in der Regierungspartei erfolgte allerdings nicht;
wie ein Keil hatten sich Apponyi und seine Anhänger in die alte liberale
Partei hineingeschoben, entschlossen, sie unter ihre Führung zu bringen. Noch
war Apponyi weit davon entfernt, die staatsrechtlichen Anschauungen der Unab¬
hängigkeitspartei zu teilen, ebensowenig stimmte er aber mit den Grundsätzen
der bisherigen Führer der Regierungspartei überein, und es blieb auch nicht
lange ein Geheimnis, daß Graf Apponyi bei der Vereinigung seiner Partei
mit der Regierungspartei von Herrn von Szell die Zusicherung gewisser Zuge¬
ständnisse in der Armeefrage gefordert und auch erlangt hatte. Die ihrer
Zahl nach riesige parlamentarische Majorität des Kabinetts Szell war also
schon von Anbeginn keine gleichartige Partei. Man konnte deutlich drei
Gruppen unterscheiden: die sogenannte Tiszaclique, das war der Kern der
Majorität, auf die sich auch Koloman Tisza, Weierle und Banffy gestützt
hatten; die Gruppe Appouyis, die von der Tiszaclique durch politische Meinungs¬
verschiedenheiten, noch mehr aber vielleicht durch jahrelang genährten persön¬
lichen Haß geschieden war, und unklar zwischen beiden der „Sumpf," d. h. die
Masse der gouvernementalen Abgeordneten, die sich dem jeweils Stärksten an¬
schließen. Aus diesem Zentrum entwickelten sich später die Gruppen der Agrarier
und die sogenannte Kasinopartei, die Gefolgschaft der Familien Andrassy und
Batthyany, auf die sich hauptsächlich der Kabinettschef Herr von Szell stützte.

Schon die nächsten allgemeinen Wahlen vom Jahre 1899 brachten eine
nach außen allerdings nicht sofort ins Auge fallende Veränderung der Szenerie.
Es waren die ersten „freien" Wahlen. Der Zahl nach ging die Regierungs¬
partei nur wenig geschwächt aus dem Wahlkampfe hervor, in ihrem Rahmen
selbst jedoch hatte die Apponyigruppe ganz bedeutende Erfolge erreicht, und
ebenso hatte die Unabhängigkeitspartei von 1848 gewonnen. Noch stärker fiel
aber der Umstand ins Gewicht, daß in den magyarischen Bezirken die alte
liberale Partei immer mehr zurückgedrängt wurde und sich dafür nur in den
slowakischen, rumänischen und serbischen Wahlbezirken schadlos halten konnte,
wo die Opposition trotz dem Gesetz über die Wahlgerichtsbarkeit der Regierung
erlaubte, die Abgeordneten wie bisher zu „ernennen." Die alte liberale Partei
bestand also noch mehr als bisher aus den von der Regierung „ernannten"
Abgeordneten nichtmagyarischer Wahlbezirke, während sich in den magyarischen
Bezirken die Gefolgschaft Appvnyis und die Opposition vom Jahre 1848 immer
wehr ausbreitete. Was Banffy von freien Wahlen befürchtet hatte, war ein¬
getreten: das Anschwellen der staatsrechtlichen Opposition.

Der damalige Ministerpräsident Koloman von Szell glaubte jedoch damit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/435>, abgerufen am 23.12.2024.