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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Die magyarische Frage

der Entlassung aus der Strafe auch noch die Fürsorge der Gesellschaft zuzu¬
wenden versucht, so geht er eigentlich schon über seinen Kreis hinaus.

Seine eignen Verpflichtungen muß er bereitwilligst übernehmen, und wer
seine Vergangenheit und seine Wandlungen kennt, der weiß auch, daß er dazu
willig ist und immerfort bemüht gewesen ist, zu lernen, seine Aufgaben tiefer
zu erfassen und sie besser zu erfüllen. Soll er aber nun über seine Grenzen
hinaus die Verantwortung tragen und auch für das einstehn, was anderwärts
verfehlt oder versäumt worden ist, dann muß er resignieren. Er wird diese
Verantwortung ablehnen. Hält es jemand dennoch fiir recht, sie ihm auszulasten
und von ihm die Bezahlung der Schulden, die ganz andre Stellen eingehn, zu
fordern, dann ist die Sache ja entschieden. Dann haben wir eben einen bank¬
rotten Strafvollzug.




Die magyarische Frage
Julius Patzelt i vonn Wien

"zusagen über Nacht ist die Öffentlichkeit zu der Einsicht ge¬
kommen, daß es eine magyarische Frage gibt. Wagte vordem ein
Vorwitziger davon zu sprechen, so wurde er mit geringschätzigen
Achselzucken abgefertigt. Eine magyarische Frage! Ist sie nicht
1868 geregelt worden, ist nicht damals dem Donaureich eine
dualistische Verfassung gegeben, und dadurch der jahrzehntelange Kampf zwischen
der Habsburgischen Dynastie und dem Magyarentum beendet worden? Sogar
in diplomatischen Kreisen hatte sich dieser fromme Glaube an die Unverwüst-
barkeit des Dualismus eingenistet, und das war am Ende nicht zu ver¬
wundern. Kaiser Franz Joseph glaubte an den Dualismus der Verfassung von
1867, weil er es ehrlich mit ihr meinte. Die Überzeugungen und die Wünsche
der Monarchen sind aber vor allem bestimmend für die Anschauungen der bei
ihnen akkreditierten Diplomatie; in unserm Fall aber um so mehr, als der den
Wiener Markt beherrschenden liberalen Presse die dualistische Verfassung die un¬
erschütterliche Grundlage der Monarchie zu sein schien, denn dank dieser Ver¬
fassung herrschte seit 1868 in Ungarn die liberale Partei, was für den Libera¬
lismus in Österreich immer von großem Nutzen war. Die Krone hatte den
Wunsch, daß sich der Dualismus befestige, weil er den staatsrechtlichen Kämpfen
mit dem Magyarentum ein Ende bereiten sollte. Die große Wiener liberale
Presse, unter deren Einfluß merkwürdigerweise auch konservative Staatsmänner
und Politiker stehn, sah in dem Dualismus und der durch ihn in Ungarn be¬
gründeten liberalen Herrschaft einen starken Widerhalt für ihre eignen Be¬
strebungen und wünschte darum ebenfalls seine Erhaltung. Was man wünscht,
pflegt man aber auch zu glauben, und so entstand der gemeine Glaube an die
Unerschütterlichkeit der Verfassung, die die Monarchie vor sechsunddreißig Jahren
erhalten hatte. Aber noch mehr! Dieser Glaube beeinflußte auch die inter¬
nationale Politik; die Verfassung von 1867 wurde zur Basis der auswärtigen


Die magyarische Frage

der Entlassung aus der Strafe auch noch die Fürsorge der Gesellschaft zuzu¬
wenden versucht, so geht er eigentlich schon über seinen Kreis hinaus.

Seine eignen Verpflichtungen muß er bereitwilligst übernehmen, und wer
seine Vergangenheit und seine Wandlungen kennt, der weiß auch, daß er dazu
willig ist und immerfort bemüht gewesen ist, zu lernen, seine Aufgaben tiefer
zu erfassen und sie besser zu erfüllen. Soll er aber nun über seine Grenzen
hinaus die Verantwortung tragen und auch für das einstehn, was anderwärts
verfehlt oder versäumt worden ist, dann muß er resignieren. Er wird diese
Verantwortung ablehnen. Hält es jemand dennoch fiir recht, sie ihm auszulasten
und von ihm die Bezahlung der Schulden, die ganz andre Stellen eingehn, zu
fordern, dann ist die Sache ja entschieden. Dann haben wir eben einen bank¬
rotten Strafvollzug.




Die magyarische Frage
Julius Patzelt i vonn Wien

«zusagen über Nacht ist die Öffentlichkeit zu der Einsicht ge¬
kommen, daß es eine magyarische Frage gibt. Wagte vordem ein
Vorwitziger davon zu sprechen, so wurde er mit geringschätzigen
Achselzucken abgefertigt. Eine magyarische Frage! Ist sie nicht
1868 geregelt worden, ist nicht damals dem Donaureich eine
dualistische Verfassung gegeben, und dadurch der jahrzehntelange Kampf zwischen
der Habsburgischen Dynastie und dem Magyarentum beendet worden? Sogar
in diplomatischen Kreisen hatte sich dieser fromme Glaube an die Unverwüst-
barkeit des Dualismus eingenistet, und das war am Ende nicht zu ver¬
wundern. Kaiser Franz Joseph glaubte an den Dualismus der Verfassung von
1867, weil er es ehrlich mit ihr meinte. Die Überzeugungen und die Wünsche
der Monarchen sind aber vor allem bestimmend für die Anschauungen der bei
ihnen akkreditierten Diplomatie; in unserm Fall aber um so mehr, als der den
Wiener Markt beherrschenden liberalen Presse die dualistische Verfassung die un¬
erschütterliche Grundlage der Monarchie zu sein schien, denn dank dieser Ver¬
fassung herrschte seit 1868 in Ungarn die liberale Partei, was für den Libera¬
lismus in Österreich immer von großem Nutzen war. Die Krone hatte den
Wunsch, daß sich der Dualismus befestige, weil er den staatsrechtlichen Kämpfen
mit dem Magyarentum ein Ende bereiten sollte. Die große Wiener liberale
Presse, unter deren Einfluß merkwürdigerweise auch konservative Staatsmänner
und Politiker stehn, sah in dem Dualismus und der durch ihn in Ungarn be¬
gründeten liberalen Herrschaft einen starken Widerhalt für ihre eignen Be¬
strebungen und wünschte darum ebenfalls seine Erhaltung. Was man wünscht,
pflegt man aber auch zu glauben, und so entstand der gemeine Glaube an die
Unerschütterlichkeit der Verfassung, die die Monarchie vor sechsunddreißig Jahren
erhalten hatte. Aber noch mehr! Dieser Glaube beeinflußte auch die inter¬
nationale Politik; die Verfassung von 1867 wurde zur Basis der auswärtigen


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[0432] Die magyarische Frage der Entlassung aus der Strafe auch noch die Fürsorge der Gesellschaft zuzu¬ wenden versucht, so geht er eigentlich schon über seinen Kreis hinaus. Seine eignen Verpflichtungen muß er bereitwilligst übernehmen, und wer seine Vergangenheit und seine Wandlungen kennt, der weiß auch, daß er dazu willig ist und immerfort bemüht gewesen ist, zu lernen, seine Aufgaben tiefer zu erfassen und sie besser zu erfüllen. Soll er aber nun über seine Grenzen hinaus die Verantwortung tragen und auch für das einstehn, was anderwärts verfehlt oder versäumt worden ist, dann muß er resignieren. Er wird diese Verantwortung ablehnen. Hält es jemand dennoch fiir recht, sie ihm auszulasten und von ihm die Bezahlung der Schulden, die ganz andre Stellen eingehn, zu fordern, dann ist die Sache ja entschieden. Dann haben wir eben einen bank¬ rotten Strafvollzug. Die magyarische Frage Julius Patzelt i vonn Wien «zusagen über Nacht ist die Öffentlichkeit zu der Einsicht ge¬ kommen, daß es eine magyarische Frage gibt. Wagte vordem ein Vorwitziger davon zu sprechen, so wurde er mit geringschätzigen Achselzucken abgefertigt. Eine magyarische Frage! Ist sie nicht 1868 geregelt worden, ist nicht damals dem Donaureich eine dualistische Verfassung gegeben, und dadurch der jahrzehntelange Kampf zwischen der Habsburgischen Dynastie und dem Magyarentum beendet worden? Sogar in diplomatischen Kreisen hatte sich dieser fromme Glaube an die Unverwüst- barkeit des Dualismus eingenistet, und das war am Ende nicht zu ver¬ wundern. Kaiser Franz Joseph glaubte an den Dualismus der Verfassung von 1867, weil er es ehrlich mit ihr meinte. Die Überzeugungen und die Wünsche der Monarchen sind aber vor allem bestimmend für die Anschauungen der bei ihnen akkreditierten Diplomatie; in unserm Fall aber um so mehr, als der den Wiener Markt beherrschenden liberalen Presse die dualistische Verfassung die un¬ erschütterliche Grundlage der Monarchie zu sein schien, denn dank dieser Ver¬ fassung herrschte seit 1868 in Ungarn die liberale Partei, was für den Libera¬ lismus in Österreich immer von großem Nutzen war. Die Krone hatte den Wunsch, daß sich der Dualismus befestige, weil er den staatsrechtlichen Kämpfen mit dem Magyarentum ein Ende bereiten sollte. Die große Wiener liberale Presse, unter deren Einfluß merkwürdigerweise auch konservative Staatsmänner und Politiker stehn, sah in dem Dualismus und der durch ihn in Ungarn be¬ gründeten liberalen Herrschaft einen starken Widerhalt für ihre eignen Be¬ strebungen und wünschte darum ebenfalls seine Erhaltung. Was man wünscht, pflegt man aber auch zu glauben, und so entstand der gemeine Glaube an die Unerschütterlichkeit der Verfassung, die die Monarchie vor sechsunddreißig Jahren erhalten hatte. Aber noch mehr! Dieser Glaube beeinflußte auch die inter¬ nationale Politik; die Verfassung von 1867 wurde zur Basis der auswärtigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/432>, abgerufen am 23.07.2024.