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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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vom bankrotten Strafvollzug

Vorläufig' und auch in aller Zukunft nicht Gegenstand der Sehnsucht ist, und
überhaupt hochsliegende Bildungspläne nicht in der Luft liegen.

Es ist wahr, daß in der Verwaltung des Innern der erziehende Zweck
der Strafe von jeher mit besonderm Nachdruck betont worden ist. Wo aber
sind die Beweise dafür, daß sie ihm einen weitem Spielraum gegeben habe,
als es sich mit dem Ernst und der Strenge der Strafe verträgt? Es sind
in der letzten Zeit einige Bücher über den Strafvollzug erschienen, die Aufsehen
gemacht haben, weil sie von ehemaligen Gefangnen geschrieben worden sind.
Mag man von diesen Büchern denken, was man will, jedenfalls beweisen sie,
daß es auch im modernen Strafvollzug keineswegs an der Repressive mangelt.
Sicher hat das Gefängnis für zahlreiche Menschen alles Schreckliche verloren.
Sie leben in solchem Elend, in solchen Tiefen der Schmach und der Schande,
in so viel Hunger und Kummer, daß ihnen das Gefängnislebcn als eine wahre
Ferienzeit erscheinen muß, vorausgesetzt, daß die Ferien nicht allzulange dauern.
Was soll man aber dagegen tun? Der Strafaustaltsbeamte hat ein Übel zu¬
zufügen wie der Soldat im Kriege. Soll man also die Leute vernichten? Soll
man sie in noch großem Jammer hinunter drücken? Verschärfung der Haft,
Hungerkost, hartes Lager, Prügel und andre beliebte Worte werden wohl leicht
hier gesprochen und erscheinen einem wohl in Augenblicken der Entrüstung über
irgendeine Tat als eine angemeßne Reaktion der Staatsgewalt. Gegenüber den
meisten geringem Gesetzesübertretungen bedeuten sie aber eine übermäßige und
dazu völlig zwecklose Härte. Gelingt es, diese Leute aus der Welt des Ver¬
brechens zu retten, dann geschieht es durch andre Mittel. Eine längere Freiheits¬
strafe aber ist immer ein tiefer, schmerzlicher und nicht selten lebensgefährlicher
Eingriff in das Dasein eines menschlichen Wesens. Ein Stück seines Lebens zu
verlieren, vielleicht die besten und schönsten Jahre, in seinem ganzen Willen
unter einen fremden starkem Willen gebunden zu sein, das ist ein Übel, mit dessen
Härte auch der hadert, der im übrigen nicht daran zweifelt, den gerechten Lohn
seiner Handlungen zu empfangen. Wie schwer die Strafe niederdrücken kann, das
wissen die, die ihre Wirkung täglich an zahlreichen Menschen beobachten, und sie
lassen sich auch nicht durch die Tatsache, daß viele Gefangne sehr schnell
wieder rückfällig werden, in ihrer Meinung irre machen. Denn nicht darum
fallen diese Personen dem Verbrechen so schnell wieder zum Opfer, weil sie die
Strafe nicht als ein Übel empfunden Hütten, sondern weil stärkere Triebe in ihnen
mächtig gewesen sind als die guten Regungen und als die Schrecken der erlittnen
und der zukünftigen Strafe. Auch wenn man es über sich gewönne, die Strafe
noch schreckhafter zu vollziehn, so hart, daß, wie man zu sagen pflegt, den Leuten
Hören und Sehen vergeht, so wäre es dennoch eine trügerische Hoffnung, er¬
wartete man, daß sich der Verbrecher durch die Erinnerung an feilte erlittnen
Drangsale von der Begehung eines neuen Verbrechens zurückhalten ließe. Wirken
ven Anreiz zu neuer Verschuldung nicht sittliche Kräfte entgegen, die Damme,
die eine abschreckende Strafe in der Seele eines Menschen aufzuschütten vermag,
werden bald durchbrochen werden.

Wer die Klagen über den Dualismus in der Verwaltung des Gefängnis¬
wesens hört, der muß meinen, es baue sich der Strafvollzug in den Anstalten


Grenzboten I 190S 56
vom bankrotten Strafvollzug

Vorläufig' und auch in aller Zukunft nicht Gegenstand der Sehnsucht ist, und
überhaupt hochsliegende Bildungspläne nicht in der Luft liegen.

Es ist wahr, daß in der Verwaltung des Innern der erziehende Zweck
der Strafe von jeher mit besonderm Nachdruck betont worden ist. Wo aber
sind die Beweise dafür, daß sie ihm einen weitem Spielraum gegeben habe,
als es sich mit dem Ernst und der Strenge der Strafe verträgt? Es sind
in der letzten Zeit einige Bücher über den Strafvollzug erschienen, die Aufsehen
gemacht haben, weil sie von ehemaligen Gefangnen geschrieben worden sind.
Mag man von diesen Büchern denken, was man will, jedenfalls beweisen sie,
daß es auch im modernen Strafvollzug keineswegs an der Repressive mangelt.
Sicher hat das Gefängnis für zahlreiche Menschen alles Schreckliche verloren.
Sie leben in solchem Elend, in solchen Tiefen der Schmach und der Schande,
in so viel Hunger und Kummer, daß ihnen das Gefängnislebcn als eine wahre
Ferienzeit erscheinen muß, vorausgesetzt, daß die Ferien nicht allzulange dauern.
Was soll man aber dagegen tun? Der Strafaustaltsbeamte hat ein Übel zu¬
zufügen wie der Soldat im Kriege. Soll man also die Leute vernichten? Soll
man sie in noch großem Jammer hinunter drücken? Verschärfung der Haft,
Hungerkost, hartes Lager, Prügel und andre beliebte Worte werden wohl leicht
hier gesprochen und erscheinen einem wohl in Augenblicken der Entrüstung über
irgendeine Tat als eine angemeßne Reaktion der Staatsgewalt. Gegenüber den
meisten geringem Gesetzesübertretungen bedeuten sie aber eine übermäßige und
dazu völlig zwecklose Härte. Gelingt es, diese Leute aus der Welt des Ver¬
brechens zu retten, dann geschieht es durch andre Mittel. Eine längere Freiheits¬
strafe aber ist immer ein tiefer, schmerzlicher und nicht selten lebensgefährlicher
Eingriff in das Dasein eines menschlichen Wesens. Ein Stück seines Lebens zu
verlieren, vielleicht die besten und schönsten Jahre, in seinem ganzen Willen
unter einen fremden starkem Willen gebunden zu sein, das ist ein Übel, mit dessen
Härte auch der hadert, der im übrigen nicht daran zweifelt, den gerechten Lohn
seiner Handlungen zu empfangen. Wie schwer die Strafe niederdrücken kann, das
wissen die, die ihre Wirkung täglich an zahlreichen Menschen beobachten, und sie
lassen sich auch nicht durch die Tatsache, daß viele Gefangne sehr schnell
wieder rückfällig werden, in ihrer Meinung irre machen. Denn nicht darum
fallen diese Personen dem Verbrechen so schnell wieder zum Opfer, weil sie die
Strafe nicht als ein Übel empfunden Hütten, sondern weil stärkere Triebe in ihnen
mächtig gewesen sind als die guten Regungen und als die Schrecken der erlittnen
und der zukünftigen Strafe. Auch wenn man es über sich gewönne, die Strafe
noch schreckhafter zu vollziehn, so hart, daß, wie man zu sagen pflegt, den Leuten
Hören und Sehen vergeht, so wäre es dennoch eine trügerische Hoffnung, er¬
wartete man, daß sich der Verbrecher durch die Erinnerung an feilte erlittnen
Drangsale von der Begehung eines neuen Verbrechens zurückhalten ließe. Wirken
ven Anreiz zu neuer Verschuldung nicht sittliche Kräfte entgegen, die Damme,
die eine abschreckende Strafe in der Seele eines Menschen aufzuschütten vermag,
werden bald durchbrochen werden.

Wer die Klagen über den Dualismus in der Verwaltung des Gefängnis¬
wesens hört, der muß meinen, es baue sich der Strafvollzug in den Anstalten


Grenzboten I 190S 56
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[0429] vom bankrotten Strafvollzug Vorläufig' und auch in aller Zukunft nicht Gegenstand der Sehnsucht ist, und überhaupt hochsliegende Bildungspläne nicht in der Luft liegen. Es ist wahr, daß in der Verwaltung des Innern der erziehende Zweck der Strafe von jeher mit besonderm Nachdruck betont worden ist. Wo aber sind die Beweise dafür, daß sie ihm einen weitem Spielraum gegeben habe, als es sich mit dem Ernst und der Strenge der Strafe verträgt? Es sind in der letzten Zeit einige Bücher über den Strafvollzug erschienen, die Aufsehen gemacht haben, weil sie von ehemaligen Gefangnen geschrieben worden sind. Mag man von diesen Büchern denken, was man will, jedenfalls beweisen sie, daß es auch im modernen Strafvollzug keineswegs an der Repressive mangelt. Sicher hat das Gefängnis für zahlreiche Menschen alles Schreckliche verloren. Sie leben in solchem Elend, in solchen Tiefen der Schmach und der Schande, in so viel Hunger und Kummer, daß ihnen das Gefängnislebcn als eine wahre Ferienzeit erscheinen muß, vorausgesetzt, daß die Ferien nicht allzulange dauern. Was soll man aber dagegen tun? Der Strafaustaltsbeamte hat ein Übel zu¬ zufügen wie der Soldat im Kriege. Soll man also die Leute vernichten? Soll man sie in noch großem Jammer hinunter drücken? Verschärfung der Haft, Hungerkost, hartes Lager, Prügel und andre beliebte Worte werden wohl leicht hier gesprochen und erscheinen einem wohl in Augenblicken der Entrüstung über irgendeine Tat als eine angemeßne Reaktion der Staatsgewalt. Gegenüber den meisten geringem Gesetzesübertretungen bedeuten sie aber eine übermäßige und dazu völlig zwecklose Härte. Gelingt es, diese Leute aus der Welt des Ver¬ brechens zu retten, dann geschieht es durch andre Mittel. Eine längere Freiheits¬ strafe aber ist immer ein tiefer, schmerzlicher und nicht selten lebensgefährlicher Eingriff in das Dasein eines menschlichen Wesens. Ein Stück seines Lebens zu verlieren, vielleicht die besten und schönsten Jahre, in seinem ganzen Willen unter einen fremden starkem Willen gebunden zu sein, das ist ein Übel, mit dessen Härte auch der hadert, der im übrigen nicht daran zweifelt, den gerechten Lohn seiner Handlungen zu empfangen. Wie schwer die Strafe niederdrücken kann, das wissen die, die ihre Wirkung täglich an zahlreichen Menschen beobachten, und sie lassen sich auch nicht durch die Tatsache, daß viele Gefangne sehr schnell wieder rückfällig werden, in ihrer Meinung irre machen. Denn nicht darum fallen diese Personen dem Verbrechen so schnell wieder zum Opfer, weil sie die Strafe nicht als ein Übel empfunden Hütten, sondern weil stärkere Triebe in ihnen mächtig gewesen sind als die guten Regungen und als die Schrecken der erlittnen und der zukünftigen Strafe. Auch wenn man es über sich gewönne, die Strafe noch schreckhafter zu vollziehn, so hart, daß, wie man zu sagen pflegt, den Leuten Hören und Sehen vergeht, so wäre es dennoch eine trügerische Hoffnung, er¬ wartete man, daß sich der Verbrecher durch die Erinnerung an feilte erlittnen Drangsale von der Begehung eines neuen Verbrechens zurückhalten ließe. Wirken ven Anreiz zu neuer Verschuldung nicht sittliche Kräfte entgegen, die Damme, die eine abschreckende Strafe in der Seele eines Menschen aufzuschütten vermag, werden bald durchbrochen werden. Wer die Klagen über den Dualismus in der Verwaltung des Gefängnis¬ wesens hört, der muß meinen, es baue sich der Strafvollzug in den Anstalten Grenzboten I 190S 56

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/429>, abgerufen am 23.12.2024.