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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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vom bankrotten Strafvollzug

Wert eines Stimmungsbildes, er zeigt uns das Strafwesen aus der Perspektive
der alten Kriminalistenschule, und es ist also nicht uninteressant zu sehen, aus
welcher Ursache man in diesen Kreisen den angeblichen Ruin des Strafvollzugs
herleitet, und durch welches Mittel man seine Sanierung herbeizuführen meint.

Im Unterschied von der neuen Kriminalistenschule, deren Augenmerk vor¬
züglich der Person des Verbrechers gilt, geht die alte Schule von der Straftat
aus. Diese hat das Gesetz verletzt, zur Erhaltung der Heiligkeit des Gesetzes
ist darum eine Reaktion geboten, die Strafe, deren Schwere möglichst genau
der Schwere der Straftat anzupassen ist. Wir wollen uns hier nicht mit den
Straftheorien auseinandersetzen, es ist ja in den Grenzboten oft davon die Rede
gewesen, und in dem oben erwähnten Aufsatz über das Strafmaß kann, wer
da Lust hat, nachlesen, wie schwierig es ist, ein redliches Verhältnis zwischen
Straftat und Strafübel herzustellen, und zu wie verschiednen Ergebnissen die
Rechnung führen kann. Es bleibe jedoch dieser Punkt auf sich beruhen, da zu¬
gegeben werden muß, daß es auch nicht leicht ist, die Person des Täters richtig
zu beurteilen. Sieht man in der Strafe den Ausfluß aus dem lautern Born
einer ewigen Gerechtigkeit, dann wird einem selbstverständlich darum zu tun
sein, daß sie beim Weiterfließen durch das menschliche Wesen in ihrer ursprüng¬
lichen Reinheit möglichst bewahrt und also vor der Trübung durch Gedanken
und Absichten, die ihr im Grunde fremd sind, möglichst geschützt bleibe. Ist das
geschehn? Nein, wird vom Standpunkt der alten Schule geantwortet, das ist
nicht geschehn. Es hat sich vielmehr im Laufe der Zeiten ein Gedanke in den
Strafvollzug eingeschlichen, der das Wesen der Strafe merkbar verändert hat,
das ist der Erziehungsgedanke. Der Beamte des Strafvollzugs will heutzutage
nicht mehr ein einfacher Kerkermeister sein, er will erziehend wirken, oder wenn
er für seine Person ohne pädagogische Neigungen und Gaben sein sollte, so
wünscht er doch, daß der Geist des Strafvollzugs im großen und ganzen er¬
ziehend wirke. Das ist aber verkehrt, denn der Strafanstaltsbeamte ist kein
Pädagog, er ist Vollstrecker einer Strafe, er hat ein Übel zuzufügen, wie der
Soldat im Krieg. Aber freilich, er findet in seinen verkehrten Anschauungen
eine Stütze in der neuen Kriminalistenschule, die auch die Besserung der Ver-
besserlichen als den Zweck, ja als den gebotnen Abschluß der Strafe bezeichnet.

Also der Erziehungsgedanke ist der Fremdling im Strafvollzug, der die
Strafe um ihre Wirkung bringt, und das ganze Streben der Gefängnisreformer,
das Hineintragen christlicher Gedanken in die Strafverbüßung ist also eine Ver-
irrung gewesen. Um wieder zurecht zu kommen und den reinen Charakter der
Strafe wieder herauszufinden, müßten wir etwa wieder zu den Anschauungen
der Karolina zurückkehren, die von dem Erziehungsgedanken ganz sicher noch
in keiner Weise beeinflußt worden sind.

Wie ist es dann aber möglich gewesen, daß sich dieser fremde Gedanke in
den Strafvollzug hat einschleichen können? Hier haben wir die Erklärung: in
Preußen teilen sich in die Leitung des Gefängniswesens das Justizministerium,
unter das die meisten Gefängnisse gestellt sind, und das Ministerium des Innern,
zu dessen Ressort die Zuchthäuser sowie zwanzig größere Gefängnisse und sechs¬
undfünfzig Kantongefängnisse in der Rheinprovinz gehören. Nun liegen die


vom bankrotten Strafvollzug

Wert eines Stimmungsbildes, er zeigt uns das Strafwesen aus der Perspektive
der alten Kriminalistenschule, und es ist also nicht uninteressant zu sehen, aus
welcher Ursache man in diesen Kreisen den angeblichen Ruin des Strafvollzugs
herleitet, und durch welches Mittel man seine Sanierung herbeizuführen meint.

Im Unterschied von der neuen Kriminalistenschule, deren Augenmerk vor¬
züglich der Person des Verbrechers gilt, geht die alte Schule von der Straftat
aus. Diese hat das Gesetz verletzt, zur Erhaltung der Heiligkeit des Gesetzes
ist darum eine Reaktion geboten, die Strafe, deren Schwere möglichst genau
der Schwere der Straftat anzupassen ist. Wir wollen uns hier nicht mit den
Straftheorien auseinandersetzen, es ist ja in den Grenzboten oft davon die Rede
gewesen, und in dem oben erwähnten Aufsatz über das Strafmaß kann, wer
da Lust hat, nachlesen, wie schwierig es ist, ein redliches Verhältnis zwischen
Straftat und Strafübel herzustellen, und zu wie verschiednen Ergebnissen die
Rechnung führen kann. Es bleibe jedoch dieser Punkt auf sich beruhen, da zu¬
gegeben werden muß, daß es auch nicht leicht ist, die Person des Täters richtig
zu beurteilen. Sieht man in der Strafe den Ausfluß aus dem lautern Born
einer ewigen Gerechtigkeit, dann wird einem selbstverständlich darum zu tun
sein, daß sie beim Weiterfließen durch das menschliche Wesen in ihrer ursprüng¬
lichen Reinheit möglichst bewahrt und also vor der Trübung durch Gedanken
und Absichten, die ihr im Grunde fremd sind, möglichst geschützt bleibe. Ist das
geschehn? Nein, wird vom Standpunkt der alten Schule geantwortet, das ist
nicht geschehn. Es hat sich vielmehr im Laufe der Zeiten ein Gedanke in den
Strafvollzug eingeschlichen, der das Wesen der Strafe merkbar verändert hat,
das ist der Erziehungsgedanke. Der Beamte des Strafvollzugs will heutzutage
nicht mehr ein einfacher Kerkermeister sein, er will erziehend wirken, oder wenn
er für seine Person ohne pädagogische Neigungen und Gaben sein sollte, so
wünscht er doch, daß der Geist des Strafvollzugs im großen und ganzen er¬
ziehend wirke. Das ist aber verkehrt, denn der Strafanstaltsbeamte ist kein
Pädagog, er ist Vollstrecker einer Strafe, er hat ein Übel zuzufügen, wie der
Soldat im Krieg. Aber freilich, er findet in seinen verkehrten Anschauungen
eine Stütze in der neuen Kriminalistenschule, die auch die Besserung der Ver-
besserlichen als den Zweck, ja als den gebotnen Abschluß der Strafe bezeichnet.

Also der Erziehungsgedanke ist der Fremdling im Strafvollzug, der die
Strafe um ihre Wirkung bringt, und das ganze Streben der Gefängnisreformer,
das Hineintragen christlicher Gedanken in die Strafverbüßung ist also eine Ver-
irrung gewesen. Um wieder zurecht zu kommen und den reinen Charakter der
Strafe wieder herauszufinden, müßten wir etwa wieder zu den Anschauungen
der Karolina zurückkehren, die von dem Erziehungsgedanken ganz sicher noch
in keiner Weise beeinflußt worden sind.

Wie ist es dann aber möglich gewesen, daß sich dieser fremde Gedanke in
den Strafvollzug hat einschleichen können? Hier haben wir die Erklärung: in
Preußen teilen sich in die Leitung des Gefängniswesens das Justizministerium,
unter das die meisten Gefängnisse gestellt sind, und das Ministerium des Innern,
zu dessen Ressort die Zuchthäuser sowie zwanzig größere Gefängnisse und sechs¬
undfünfzig Kantongefängnisse in der Rheinprovinz gehören. Nun liegen die


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[0426] vom bankrotten Strafvollzug Wert eines Stimmungsbildes, er zeigt uns das Strafwesen aus der Perspektive der alten Kriminalistenschule, und es ist also nicht uninteressant zu sehen, aus welcher Ursache man in diesen Kreisen den angeblichen Ruin des Strafvollzugs herleitet, und durch welches Mittel man seine Sanierung herbeizuführen meint. Im Unterschied von der neuen Kriminalistenschule, deren Augenmerk vor¬ züglich der Person des Verbrechers gilt, geht die alte Schule von der Straftat aus. Diese hat das Gesetz verletzt, zur Erhaltung der Heiligkeit des Gesetzes ist darum eine Reaktion geboten, die Strafe, deren Schwere möglichst genau der Schwere der Straftat anzupassen ist. Wir wollen uns hier nicht mit den Straftheorien auseinandersetzen, es ist ja in den Grenzboten oft davon die Rede gewesen, und in dem oben erwähnten Aufsatz über das Strafmaß kann, wer da Lust hat, nachlesen, wie schwierig es ist, ein redliches Verhältnis zwischen Straftat und Strafübel herzustellen, und zu wie verschiednen Ergebnissen die Rechnung führen kann. Es bleibe jedoch dieser Punkt auf sich beruhen, da zu¬ gegeben werden muß, daß es auch nicht leicht ist, die Person des Täters richtig zu beurteilen. Sieht man in der Strafe den Ausfluß aus dem lautern Born einer ewigen Gerechtigkeit, dann wird einem selbstverständlich darum zu tun sein, daß sie beim Weiterfließen durch das menschliche Wesen in ihrer ursprüng¬ lichen Reinheit möglichst bewahrt und also vor der Trübung durch Gedanken und Absichten, die ihr im Grunde fremd sind, möglichst geschützt bleibe. Ist das geschehn? Nein, wird vom Standpunkt der alten Schule geantwortet, das ist nicht geschehn. Es hat sich vielmehr im Laufe der Zeiten ein Gedanke in den Strafvollzug eingeschlichen, der das Wesen der Strafe merkbar verändert hat, das ist der Erziehungsgedanke. Der Beamte des Strafvollzugs will heutzutage nicht mehr ein einfacher Kerkermeister sein, er will erziehend wirken, oder wenn er für seine Person ohne pädagogische Neigungen und Gaben sein sollte, so wünscht er doch, daß der Geist des Strafvollzugs im großen und ganzen er¬ ziehend wirke. Das ist aber verkehrt, denn der Strafanstaltsbeamte ist kein Pädagog, er ist Vollstrecker einer Strafe, er hat ein Übel zuzufügen, wie der Soldat im Krieg. Aber freilich, er findet in seinen verkehrten Anschauungen eine Stütze in der neuen Kriminalistenschule, die auch die Besserung der Ver- besserlichen als den Zweck, ja als den gebotnen Abschluß der Strafe bezeichnet. Also der Erziehungsgedanke ist der Fremdling im Strafvollzug, der die Strafe um ihre Wirkung bringt, und das ganze Streben der Gefängnisreformer, das Hineintragen christlicher Gedanken in die Strafverbüßung ist also eine Ver- irrung gewesen. Um wieder zurecht zu kommen und den reinen Charakter der Strafe wieder herauszufinden, müßten wir etwa wieder zu den Anschauungen der Karolina zurückkehren, die von dem Erziehungsgedanken ganz sicher noch in keiner Weise beeinflußt worden sind. Wie ist es dann aber möglich gewesen, daß sich dieser fremde Gedanke in den Strafvollzug hat einschleichen können? Hier haben wir die Erklärung: in Preußen teilen sich in die Leitung des Gefängniswesens das Justizministerium, unter das die meisten Gefängnisse gestellt sind, und das Ministerium des Innern, zu dessen Ressort die Zuchthäuser sowie zwanzig größere Gefängnisse und sechs¬ undfünfzig Kantongefängnisse in der Rheinprovinz gehören. Nun liegen die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/426>, abgerufen am 23.12.2024.