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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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vom bankrotten Strafvollzug

Jeder hat das Recht, zu sagen, was er für gut und für richtig halt, und es
zu verantworten. Wenn einer das Los gehabt hat, die Wirkung der Strafe
an sich selbst zu erproben, so ist es natürlich, daß er sich über die Sache Ge¬
danken macht, und wenn er das Bedürfnis haben sollte, sich über seine Er¬
fahrungen öffentlich zu äußern, so kann man ihm das ebensowenig verübeln,
wie man sich verwundern darf, wenn seine Betrachtungen etwas grobkörnig
ausfallen. Betrachtet insbesondre ein ernster Mann mit traurigem Auge seine
Schicksale, und erwägt er, was an ihm getan worden ist, und was vielleicht
an ihm hätte getan werden können, so werde ich ihm immer mit herzlicher
Teilnahme zuhören, und auch da, wo ich ihm nicht zustimmen kann, wo ich
überzeugt bin, daß er die Dinge auf den Kopf stellt, daß er falsch oder ein¬
seitig schildert, wird mir dennoch, was er sagt, allerlei zu denken und zu über¬
legen geben. Nur soll man nicht meinen, die mit der Strafvollstreckung und
mit der Leitung des Strafvollzugs betrauten Personen wären bisher mit Blindheit
durch ihre Welt gewandert, oder es sei ihnen daran gelegen, die Fehler des
Strafvollzugs zu erhalten. Wer die Gefängnisliteratur kennt, der muß es
wissen, daß es niemals an Mut gefehlt hat, Irrtümer und Fehler aufzudecken,
und daß die Erkenntnis des rechten Wegs niemals verloren gegangen ist. Und
wer in der Lage war, das Gefängnis in seinem Wandel durch eine längere
Zeit hin mit eignen Augen zu beobachten, der wird sich der Anerkennung nicht
entziehen können, daß namentlich in den letzten Jahren viel getan und nicht
wenig von dem, was die Alten erstrebt und wofür sie gekämpft haben, erreicht
worden ist.

Natürlich kann und muß noch viel mehr getan werden, wir haben das
Ziel der Reform noch lange nicht erreicht. Die Strafe soll den widerstrebenden
Willen beugen, sie muß unter Umständen brechen und vernichten, aber sie soll
nicht zerbrechen, was lebensfähig und lebenswert, und sie soll nicht vernichten,
was sie zu retten und wieder zu gewinnen vermag. Sie soll streng sein, aber
human, ernst, aber gütig. Von welcher Bedeutung ist es deshalb, daß die
Personen, denen eine so große Macht über andre anvertraut worden ist, ihrer
Aufgabe gewachsen sind, kluge und einsichtsvolle Menschen, die das Bestreben
haben, ihren Beruf gerecht und in der Liebe auszuüben, die allein den Schlüssel
zum Verständnis andrer empfangen hat. Und von welcher Wichtigkeit ist es,
daß die Einrichtungen der Anstalten den Normen entsprechen, die im langen
Streit der Meinungen als der feste Boden, auf dem man weiter bauen kann,
gewonnen worden sind. Aber wie schwer auch ist das alles zu erreichen!
Wundern wir uns sonst nicht übermäßig, wenn unzweifelhafte Wahrheiten nicht
mit einemmal durchdringen, sondern erst langsam zum Besitz vieler werden,
so dürfen wir auch nicht in Erstaunen geraten, wenn die neue Richtung im
Strafvollzug einer gewissen Zeit bedarf, bis sie sich das Personal herangebildet
hat, dessen sie zur BeWirkung eines zweckvollen Strafvollzugs nun einmal nicht
entbehren kann. Und was nun die äußern Einrichtungen der Anstalten an¬
geht, so ist es ja nicht unbekannt, welche Schwierigkeiten sich der planmäßigen
Durchführung der als richtig erkannten Grundsätze entgegengestellt haben, ob¬
wohl in Preußen König Friedrich Wilhelm der Vierte selber, von innerster


vom bankrotten Strafvollzug

Jeder hat das Recht, zu sagen, was er für gut und für richtig halt, und es
zu verantworten. Wenn einer das Los gehabt hat, die Wirkung der Strafe
an sich selbst zu erproben, so ist es natürlich, daß er sich über die Sache Ge¬
danken macht, und wenn er das Bedürfnis haben sollte, sich über seine Er¬
fahrungen öffentlich zu äußern, so kann man ihm das ebensowenig verübeln,
wie man sich verwundern darf, wenn seine Betrachtungen etwas grobkörnig
ausfallen. Betrachtet insbesondre ein ernster Mann mit traurigem Auge seine
Schicksale, und erwägt er, was an ihm getan worden ist, und was vielleicht
an ihm hätte getan werden können, so werde ich ihm immer mit herzlicher
Teilnahme zuhören, und auch da, wo ich ihm nicht zustimmen kann, wo ich
überzeugt bin, daß er die Dinge auf den Kopf stellt, daß er falsch oder ein¬
seitig schildert, wird mir dennoch, was er sagt, allerlei zu denken und zu über¬
legen geben. Nur soll man nicht meinen, die mit der Strafvollstreckung und
mit der Leitung des Strafvollzugs betrauten Personen wären bisher mit Blindheit
durch ihre Welt gewandert, oder es sei ihnen daran gelegen, die Fehler des
Strafvollzugs zu erhalten. Wer die Gefängnisliteratur kennt, der muß es
wissen, daß es niemals an Mut gefehlt hat, Irrtümer und Fehler aufzudecken,
und daß die Erkenntnis des rechten Wegs niemals verloren gegangen ist. Und
wer in der Lage war, das Gefängnis in seinem Wandel durch eine längere
Zeit hin mit eignen Augen zu beobachten, der wird sich der Anerkennung nicht
entziehen können, daß namentlich in den letzten Jahren viel getan und nicht
wenig von dem, was die Alten erstrebt und wofür sie gekämpft haben, erreicht
worden ist.

Natürlich kann und muß noch viel mehr getan werden, wir haben das
Ziel der Reform noch lange nicht erreicht. Die Strafe soll den widerstrebenden
Willen beugen, sie muß unter Umständen brechen und vernichten, aber sie soll
nicht zerbrechen, was lebensfähig und lebenswert, und sie soll nicht vernichten,
was sie zu retten und wieder zu gewinnen vermag. Sie soll streng sein, aber
human, ernst, aber gütig. Von welcher Bedeutung ist es deshalb, daß die
Personen, denen eine so große Macht über andre anvertraut worden ist, ihrer
Aufgabe gewachsen sind, kluge und einsichtsvolle Menschen, die das Bestreben
haben, ihren Beruf gerecht und in der Liebe auszuüben, die allein den Schlüssel
zum Verständnis andrer empfangen hat. Und von welcher Wichtigkeit ist es,
daß die Einrichtungen der Anstalten den Normen entsprechen, die im langen
Streit der Meinungen als der feste Boden, auf dem man weiter bauen kann,
gewonnen worden sind. Aber wie schwer auch ist das alles zu erreichen!
Wundern wir uns sonst nicht übermäßig, wenn unzweifelhafte Wahrheiten nicht
mit einemmal durchdringen, sondern erst langsam zum Besitz vieler werden,
so dürfen wir auch nicht in Erstaunen geraten, wenn die neue Richtung im
Strafvollzug einer gewissen Zeit bedarf, bis sie sich das Personal herangebildet
hat, dessen sie zur BeWirkung eines zweckvollen Strafvollzugs nun einmal nicht
entbehren kann. Und was nun die äußern Einrichtungen der Anstalten an¬
geht, so ist es ja nicht unbekannt, welche Schwierigkeiten sich der planmäßigen
Durchführung der als richtig erkannten Grundsätze entgegengestellt haben, ob¬
wohl in Preußen König Friedrich Wilhelm der Vierte selber, von innerster


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[0424] vom bankrotten Strafvollzug Jeder hat das Recht, zu sagen, was er für gut und für richtig halt, und es zu verantworten. Wenn einer das Los gehabt hat, die Wirkung der Strafe an sich selbst zu erproben, so ist es natürlich, daß er sich über die Sache Ge¬ danken macht, und wenn er das Bedürfnis haben sollte, sich über seine Er¬ fahrungen öffentlich zu äußern, so kann man ihm das ebensowenig verübeln, wie man sich verwundern darf, wenn seine Betrachtungen etwas grobkörnig ausfallen. Betrachtet insbesondre ein ernster Mann mit traurigem Auge seine Schicksale, und erwägt er, was an ihm getan worden ist, und was vielleicht an ihm hätte getan werden können, so werde ich ihm immer mit herzlicher Teilnahme zuhören, und auch da, wo ich ihm nicht zustimmen kann, wo ich überzeugt bin, daß er die Dinge auf den Kopf stellt, daß er falsch oder ein¬ seitig schildert, wird mir dennoch, was er sagt, allerlei zu denken und zu über¬ legen geben. Nur soll man nicht meinen, die mit der Strafvollstreckung und mit der Leitung des Strafvollzugs betrauten Personen wären bisher mit Blindheit durch ihre Welt gewandert, oder es sei ihnen daran gelegen, die Fehler des Strafvollzugs zu erhalten. Wer die Gefängnisliteratur kennt, der muß es wissen, daß es niemals an Mut gefehlt hat, Irrtümer und Fehler aufzudecken, und daß die Erkenntnis des rechten Wegs niemals verloren gegangen ist. Und wer in der Lage war, das Gefängnis in seinem Wandel durch eine längere Zeit hin mit eignen Augen zu beobachten, der wird sich der Anerkennung nicht entziehen können, daß namentlich in den letzten Jahren viel getan und nicht wenig von dem, was die Alten erstrebt und wofür sie gekämpft haben, erreicht worden ist. Natürlich kann und muß noch viel mehr getan werden, wir haben das Ziel der Reform noch lange nicht erreicht. Die Strafe soll den widerstrebenden Willen beugen, sie muß unter Umständen brechen und vernichten, aber sie soll nicht zerbrechen, was lebensfähig und lebenswert, und sie soll nicht vernichten, was sie zu retten und wieder zu gewinnen vermag. Sie soll streng sein, aber human, ernst, aber gütig. Von welcher Bedeutung ist es deshalb, daß die Personen, denen eine so große Macht über andre anvertraut worden ist, ihrer Aufgabe gewachsen sind, kluge und einsichtsvolle Menschen, die das Bestreben haben, ihren Beruf gerecht und in der Liebe auszuüben, die allein den Schlüssel zum Verständnis andrer empfangen hat. Und von welcher Wichtigkeit ist es, daß die Einrichtungen der Anstalten den Normen entsprechen, die im langen Streit der Meinungen als der feste Boden, auf dem man weiter bauen kann, gewonnen worden sind. Aber wie schwer auch ist das alles zu erreichen! Wundern wir uns sonst nicht übermäßig, wenn unzweifelhafte Wahrheiten nicht mit einemmal durchdringen, sondern erst langsam zum Besitz vieler werden, so dürfen wir auch nicht in Erstaunen geraten, wenn die neue Richtung im Strafvollzug einer gewissen Zeit bedarf, bis sie sich das Personal herangebildet hat, dessen sie zur BeWirkung eines zweckvollen Strafvollzugs nun einmal nicht entbehren kann. Und was nun die äußern Einrichtungen der Anstalten an¬ geht, so ist es ja nicht unbekannt, welche Schwierigkeiten sich der planmäßigen Durchführung der als richtig erkannten Grundsätze entgegengestellt haben, ob¬ wohl in Preußen König Friedrich Wilhelm der Vierte selber, von innerster

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/424>, abgerufen am 23.12.2024.