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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Im alten Brüssel

linde und den vielen Heiligen mit den schweren Namen, die alle viel besser mit
den armen Menschen standen als der liebe Gott selbst, der immer gleich ans Richten
und Strafen dachte. Und dann gab es neben all den wichtigen Personen da oben
noch eine große Menge von Engeln in weißen Kleidern mit langen Flügeln, die
eigentlich gar nichts zu tun hatten und von niemand angebetet wurden, ihr aber
von all den schwankenden Himmelsgestalten die Sympathischsten waren ihres schönen
Weißen Aussehens halber.

Aber nun spürte Fintje deutlich, daß es etwas ganz Gefährliches, Gewagtes
sei, so unmittelbar unter Gottes Augen zu knien. Das Herz begann ihr angstvoll
zu klopfen, und immer demütiger sank sie in sich zusammen. Sie hatte sicher kein
Recht, hier zu knien! Wenn die Priester wüßten, wer sie war, käme wohl einer
heran und sagte ihr: Dies ist kein Ort für dich, mach schnell, daß du weiterkommst,
Fintje! Aber die Priester sahen nicht zu ihr her. Wie sie die Polizisten oft hinter¬
gangen hatte, so hinterging sie jetzt die Priester und sogar den lieben Gott, indem
sie hier kniete wie die andern, die gewiß alle ein gutes Recht dazu hatten.

Der Gedanke machte sie traurig und ängstlich. Jedesmal wenn das Glocken¬
zeichen wieder ertönte, schrak sie schuldbewußt zusammen. Trotzdem mochte sie nicht
davonlaufen aus diesem leisen, heimlichen Raum hinaus auf die kalte Straße.
Sie hätte so gern bleiben mögen, aber nicht wie ein betrügerischer Eindringling,
sondern als eine freundlich Geduldete. Vielleicht war der liebe Gott gar nicht so
streng und unerbittlich und grausam, wie ihn die Großmutter immer darstellte.
Bielleicht hätte er Mitleid mit ihr und nähme sie gütig bei sich auf, wenn sie ihm
alles von sich erzählte, die ganze Wahrheit.

Das ehrfürchtige Weiblein neben ihr richtete sich jetzt von den Knien auf.

Da faßte Fintje sie noch schnell am Ärmel. Tut Jhrs auch? Geht Ihr
beichten da drüben in den Stuhl hinein? Sagt Ihr alles, alles? Und macht es
den lieben Gott nicht böse?

Die Alte sah sie still, ohne Verwunderung an. Beichte du nur, Kind, sagte
sie einfach. Es tut gut. Unsre liebe Gottesmutter verzeiht viel. Und hernach ist
es dir wieder leicht ums Herz. Beichte du nur.

Gleich nach Euch will ichs tun, flüsterte Fintje atemlos. Ihre Augen folgten
in erregter Spannung der wackligen kleinen Gestalt der Alten, wie sie sich nach
dem Beichtstuhl schleppte, in die Nische einduckte und ihren Mund an das Holz¬
gitter preßte. Wenn sie wieder aufstand, würde sie, Fintje, Hingehn und die leer-
gewordne Stelle einnehmen.

In den wenig Minuten aber, die sie zu warten hatte, überstürzten sich in
ihrem Herzen rin den ungleichen Schlagen die anklagenden Erinnerungen. Aus
ihrer frühsten Kindheit, so weit sie uur zurückdenken konnte, sielen ihr Augenblicke
ein, wo sie sündhaft gesprochen und böse gehandelt hatte. Aber alles, alles mußte
sie sagen, nicht das kleinste Sündlein durfte sie verschweigen, sonst betrog sie
schändlich den lieben Gott, war nicht wert, in seinem Hause zu knien, seine Hilfe
sür ihr zukünftiges Leben zu erflehen und seiue rettende Hand zu fassen.

Die andern, die hente vor dem Beichtstuhl gekniet hatten, waren alle nach
kurzer Zeit wieder aufgestanden, aber bei ihr würde es lange dauern.

Nun regte sich das beichtende Weiblein, und Fintje ging auf "nsichern Füßen
hinüber, half der Alten bei dem schwerfälligen Aufstehn und schmiegte sich dann
selbst an die noch warme Holzwand.

Noch ein Beichtkind? Der Priester, der schon lange geduldig in dem hölzernen
^asig gesessen hatte, mußte eine Regung der Ungeduld niederkämpfen. Es waren ihrer
heute so viele gewesen. Er hatte heute einen alten Freund zu sich zum Abendessen
geladen und hätte um diese Zeit schon wieder daheim sein sollen. Die Haushälterin
hatte es ihm bei seinem Fortgehn noch eingeschärft, pünktlich heimzukommen, da
der junge Puter nicht über die Zeit schmoren dürfe. Nun schlich es sich schon wie
köstlicher Bratenduft in das vorahnende Gemüt des wohlbeleibten Herrn.


Im alten Brüssel

linde und den vielen Heiligen mit den schweren Namen, die alle viel besser mit
den armen Menschen standen als der liebe Gott selbst, der immer gleich ans Richten
und Strafen dachte. Und dann gab es neben all den wichtigen Personen da oben
noch eine große Menge von Engeln in weißen Kleidern mit langen Flügeln, die
eigentlich gar nichts zu tun hatten und von niemand angebetet wurden, ihr aber
von all den schwankenden Himmelsgestalten die Sympathischsten waren ihres schönen
Weißen Aussehens halber.

Aber nun spürte Fintje deutlich, daß es etwas ganz Gefährliches, Gewagtes
sei, so unmittelbar unter Gottes Augen zu knien. Das Herz begann ihr angstvoll
zu klopfen, und immer demütiger sank sie in sich zusammen. Sie hatte sicher kein
Recht, hier zu knien! Wenn die Priester wüßten, wer sie war, käme wohl einer
heran und sagte ihr: Dies ist kein Ort für dich, mach schnell, daß du weiterkommst,
Fintje! Aber die Priester sahen nicht zu ihr her. Wie sie die Polizisten oft hinter¬
gangen hatte, so hinterging sie jetzt die Priester und sogar den lieben Gott, indem
sie hier kniete wie die andern, die gewiß alle ein gutes Recht dazu hatten.

Der Gedanke machte sie traurig und ängstlich. Jedesmal wenn das Glocken¬
zeichen wieder ertönte, schrak sie schuldbewußt zusammen. Trotzdem mochte sie nicht
davonlaufen aus diesem leisen, heimlichen Raum hinaus auf die kalte Straße.
Sie hätte so gern bleiben mögen, aber nicht wie ein betrügerischer Eindringling,
sondern als eine freundlich Geduldete. Vielleicht war der liebe Gott gar nicht so
streng und unerbittlich und grausam, wie ihn die Großmutter immer darstellte.
Bielleicht hätte er Mitleid mit ihr und nähme sie gütig bei sich auf, wenn sie ihm
alles von sich erzählte, die ganze Wahrheit.

Das ehrfürchtige Weiblein neben ihr richtete sich jetzt von den Knien auf.

Da faßte Fintje sie noch schnell am Ärmel. Tut Jhrs auch? Geht Ihr
beichten da drüben in den Stuhl hinein? Sagt Ihr alles, alles? Und macht es
den lieben Gott nicht böse?

Die Alte sah sie still, ohne Verwunderung an. Beichte du nur, Kind, sagte
sie einfach. Es tut gut. Unsre liebe Gottesmutter verzeiht viel. Und hernach ist
es dir wieder leicht ums Herz. Beichte du nur.

Gleich nach Euch will ichs tun, flüsterte Fintje atemlos. Ihre Augen folgten
in erregter Spannung der wackligen kleinen Gestalt der Alten, wie sie sich nach
dem Beichtstuhl schleppte, in die Nische einduckte und ihren Mund an das Holz¬
gitter preßte. Wenn sie wieder aufstand, würde sie, Fintje, Hingehn und die leer-
gewordne Stelle einnehmen.

In den wenig Minuten aber, die sie zu warten hatte, überstürzten sich in
ihrem Herzen rin den ungleichen Schlagen die anklagenden Erinnerungen. Aus
ihrer frühsten Kindheit, so weit sie uur zurückdenken konnte, sielen ihr Augenblicke
ein, wo sie sündhaft gesprochen und böse gehandelt hatte. Aber alles, alles mußte
sie sagen, nicht das kleinste Sündlein durfte sie verschweigen, sonst betrog sie
schändlich den lieben Gott, war nicht wert, in seinem Hause zu knien, seine Hilfe
sür ihr zukünftiges Leben zu erflehen und seiue rettende Hand zu fassen.

Die andern, die hente vor dem Beichtstuhl gekniet hatten, waren alle nach
kurzer Zeit wieder aufgestanden, aber bei ihr würde es lange dauern.

Nun regte sich das beichtende Weiblein, und Fintje ging auf »nsichern Füßen
hinüber, half der Alten bei dem schwerfälligen Aufstehn und schmiegte sich dann
selbst an die noch warme Holzwand.

Noch ein Beichtkind? Der Priester, der schon lange geduldig in dem hölzernen
^asig gesessen hatte, mußte eine Regung der Ungeduld niederkämpfen. Es waren ihrer
heute so viele gewesen. Er hatte heute einen alten Freund zu sich zum Abendessen
geladen und hätte um diese Zeit schon wieder daheim sein sollen. Die Haushälterin
hatte es ihm bei seinem Fortgehn noch eingeschärft, pünktlich heimzukommen, da
der junge Puter nicht über die Zeit schmoren dürfe. Nun schlich es sich schon wie
köstlicher Bratenduft in das vorahnende Gemüt des wohlbeleibten Herrn.


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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/411>, abgerufen am 22.12.2024.