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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Ein Brief aus trüber Zeit

angebrachte sei. Ich wählte schließlich ein schwarzes Kleid nebst einfachem rundem
Hut, da ich mir in jedem andern zu "geputzt" und zu "jugendlich" erschien.

Bei der Aufstellung des Planes fand ich meistens Straßennamen, die mir
gänzlich unbekannt waren, dann aber auch solche in Mittlern, ja auch in den
besten Gegenden. Diese Verschiedenheit der Lage wurde mir bald erklärlich.
Die Wohnungen in vornehmen Straßen waren Hansmannswohnuugen, oft in
Privathäusern, und sie sind es, die ich mir im Laufe der Zeit zur Erholung
nach dem Anblicke von Elend ausgesucht habe. Ich will gleich hier bemerken,
daß die Kinder unsers Schulbezirks selten in "Hinterhäusern" wohnen, da es
nur wenige in diesem Stadtteile gibt. Deshalb habe ich über das eigentliche
"Hinterhauswesen" nur geringe Erfahrung. Vielleicht könnte davon eine Ber¬
liner Kollegin berichten.

Die Wohnungen in den Mittlern Straßen führten mich entweder in Häuser,
die durch ein unten liegendes Restaurant das "Herrschaftliche" verloren hatten,
oder die zum Teil großen Etagen zeigten schon an der Flurtür durch die zahl¬
reich angebrachten Visitenkarten, daß sie ihren Besitzern durch das Abvermieten
an Studenten usw. ermöglicht waren. Meiner Ansicht nach ist das Abvermieten
der Verderb unsers Kleinbürgerstandes, denn unsre vierzehnjährigen Mädchen
verkehren schon mit "ihrem Herrn" in einem Tone, der für die Zukunft auf
Schlimmes deutet.

Oft findet man in diesen Wohnungen auch den größten Raummangel für
die Familie selbst, die sich häufig mit der Küche und einer kleinen Kammer begnügt,
die dann so mit Betten vollgestopft ist, daß sich die Leute scheuen, die Lehrerin
hineinzuführen. Mehr als einmal bin ich darum in ein Zimmer geführt worden,
das sich durch Schlüger, Mützen, Pfeifen usw. als Studentenzimmer legitimierte.
Daß ein solcher Besuch deu Stempel des Unruhigen bekommt, brauche ich wohl
nicht erst zu sagen. Der Mutter wie mir lag es daran, ihn möglichst rasch
abzubrechen, damit ich nicht etwa mit dem zufällig abwesenden "Herrn" in seinem
Zimmer zusammenträfe. Zum größten Teil sind mir auch gerade diese Frauen
mit ihrer übertünchten Halbbildung und den: gezierten Venehmen recht unan¬
genehm; aber es gibt natürlich auch unter diesen Ausnahmen, nämlich Urbilder
prachtvoller Wirtinnen (Fortsetzung folgt) .




Gin Brief aus trüber Zeit
A. Robolski in Halle a. S. Mitgeteilt von

^ ustcw Freytag schildert im vierten und im fünften Buche seines Romans
"Soll und Haben" den Aufstand der Polen in der Provinz Posen
!im Frühjahr 1848, und namentlich den Kampf der Deutschen gegen
die polnischen Insurgenten in und bei einem Städtchen, das er
IRosmin nennt.
"

Bei Besprechung dieses Romans in seinen "Erinnerungen ans
meinem Leben" bemerkt Freytag in bezug auf diese Episode: "Für die Handlung
des Romans fehlte es mir nicht an Erfahrungen; auch die Bilder aus dem pol-


Ein Brief aus trüber Zeit

angebrachte sei. Ich wählte schließlich ein schwarzes Kleid nebst einfachem rundem
Hut, da ich mir in jedem andern zu „geputzt" und zu „jugendlich" erschien.

Bei der Aufstellung des Planes fand ich meistens Straßennamen, die mir
gänzlich unbekannt waren, dann aber auch solche in Mittlern, ja auch in den
besten Gegenden. Diese Verschiedenheit der Lage wurde mir bald erklärlich.
Die Wohnungen in vornehmen Straßen waren Hansmannswohnuugen, oft in
Privathäusern, und sie sind es, die ich mir im Laufe der Zeit zur Erholung
nach dem Anblicke von Elend ausgesucht habe. Ich will gleich hier bemerken,
daß die Kinder unsers Schulbezirks selten in „Hinterhäusern" wohnen, da es
nur wenige in diesem Stadtteile gibt. Deshalb habe ich über das eigentliche
„Hinterhauswesen" nur geringe Erfahrung. Vielleicht könnte davon eine Ber¬
liner Kollegin berichten.

Die Wohnungen in den Mittlern Straßen führten mich entweder in Häuser,
die durch ein unten liegendes Restaurant das „Herrschaftliche" verloren hatten,
oder die zum Teil großen Etagen zeigten schon an der Flurtür durch die zahl¬
reich angebrachten Visitenkarten, daß sie ihren Besitzern durch das Abvermieten
an Studenten usw. ermöglicht waren. Meiner Ansicht nach ist das Abvermieten
der Verderb unsers Kleinbürgerstandes, denn unsre vierzehnjährigen Mädchen
verkehren schon mit „ihrem Herrn" in einem Tone, der für die Zukunft auf
Schlimmes deutet.

Oft findet man in diesen Wohnungen auch den größten Raummangel für
die Familie selbst, die sich häufig mit der Küche und einer kleinen Kammer begnügt,
die dann so mit Betten vollgestopft ist, daß sich die Leute scheuen, die Lehrerin
hineinzuführen. Mehr als einmal bin ich darum in ein Zimmer geführt worden,
das sich durch Schlüger, Mützen, Pfeifen usw. als Studentenzimmer legitimierte.
Daß ein solcher Besuch deu Stempel des Unruhigen bekommt, brauche ich wohl
nicht erst zu sagen. Der Mutter wie mir lag es daran, ihn möglichst rasch
abzubrechen, damit ich nicht etwa mit dem zufällig abwesenden „Herrn" in seinem
Zimmer zusammenträfe. Zum größten Teil sind mir auch gerade diese Frauen
mit ihrer übertünchten Halbbildung und den: gezierten Venehmen recht unan¬
genehm; aber es gibt natürlich auch unter diesen Ausnahmen, nämlich Urbilder
prachtvoller Wirtinnen (Fortsetzung folgt) .




Gin Brief aus trüber Zeit
A. Robolski in Halle a. S. Mitgeteilt von

^ ustcw Freytag schildert im vierten und im fünften Buche seines Romans
„Soll und Haben" den Aufstand der Polen in der Provinz Posen
!im Frühjahr 1848, und namentlich den Kampf der Deutschen gegen
die polnischen Insurgenten in und bei einem Städtchen, das er
IRosmin nennt.
«

Bei Besprechung dieses Romans in seinen „Erinnerungen ans
meinem Leben" bemerkt Freytag in bezug auf diese Episode: „Für die Handlung
des Romans fehlte es mir nicht an Erfahrungen; auch die Bilder aus dem pol-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/400>, abgerufen am 22.12.2024.