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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Erinnerungen einer Lehrerin

die eine wirksame Hilfe ist, schulschcuer Kinder, die lieber um die Schule als
Hineingehn, habhaft zu werden. Man füllt ein vorgedrucktes Formular mit der
Begründung der Zuführung aus, läßt dieses vom Rektor unterschreiben und
schickt es in das nächste Polizeirevier. Daraufhin wandert dann am nächsten
Morgen ein Polizist in die Wohnung des Kindes, stört dieses und die Ange¬
hörigen oft genug ini süßen Morgenschlummer und geleitet es dann sicher
bis vor die Klassentür, wo der Sünder dein Ordinarius ausgehändigt wird.
Dieser Anblick ist durchaus nicht ungewöhnlich, man kann ihn bei unserm großen
Schulgetriebe fast täglich genießen. Die Schulverächter sind meist größere Jungen,
allerdings auch Mädchen, die es vorziehn, sich herumzutreiben, statt die Schule
zu besuchen. Für solche Kinder beantragt man dann gewöhnlich Fürsorge¬
erziehung, auf die ich an andrer Stelle zurückkommen werde. Doch nach diesem
Abschweifen zu meinem Fall zurück. Die Frau in ihrer "gerechten" Entrüstung
hatte es vorgezogen, nicht den Instanzenweg innezuhalten, sondern hatte sich
gleich an den Rektor gewandt. Dieser ließ mich rufen. (Ein solcher Ruf ins
Nektorzimmer bedeutet selten etwas Gutes, erregt darum nie angenehme Gefühle.)
Der Rektor empfing mich nicht sehr gnädig und fragte, warum ich gleich so
scharf vorgegangen Ware. Ich erklärte, daß ich schon viel Ärger mit der Frau
gehabt und jetzt zweimal geschrieben habe. Da schrie die Frau los: "Was,
Briefe, ich habe keinen bekommen, ich bin Geschäftsfrau, ich kriege so viel Briefe,
wie sollte ich die nicht bekommen haben!" Da stand nun Aussage gegen Aus¬
sage, und der Rektor machte ein zweifelhaftes Gesicht, denn die Frau machte einen
recht ehrbaren Eindruck. Innerlich kochend, äußerlich ruhig sagte ich: "Die
Wahrheit ist sehr leicht zu ermitteln, lassen Sie, Herr Rektor, das Kind holen,
das die Briefe mit Marken versehen und in den Kasten befördert hat." (Wir
haben eine Schulportokasse und einen Briefkasten am Schulhause.) Meine Erste
kam, ich sagte kein Wort, der Rektor fragte, und das sehr verstündige Kind konnte
genau die Tage, sogar die Stunden angeben. Ich triumphierte innerlich, die
Mutter aber rief: "Ja, die redet Ihnen freilich nach dem Munde, der haben Sie
Zeichen gemacht." Der Rektor, von meinem korrekten Vorgehn nun überzeugt,
zuckte auch zusammen, ich aber, unfähig, meine Wut zu beherrschen, schlug mit
der Faust auf den Tisch, daß die Tintengläser tanzten, und schrie mit reichlichem
Lungenaufgebot: "Das ist ja eine unerhörte Verdächtigung, ich werde Sie ver¬
klagen." Kaum hörte sie das Wort, da gab sie klein bei -- aber ich war für
den Rest des Schultages zum Unterrichten unfähig. Aber es kommen noch
ganz andre Dinge vor. Ich kenne eine Lehrerin, die als "Ablichte" besonders
bei den Leuten verhaßt ist. In deren Unterricht platzte eines Tages eine die
Milchkanne schwingende Furie und rief: "Ich schlank Ihnen die Milchkanne ins
Jesichte, wenn Sie meene Schwester noch mal hauen!" Die Lehrerin, eine
Pommeriu von echtem Schrot und Korn, hatte die Jungfrau bald vor die Tür
befördert, aber ehe sie sich über dieses Intermezzo zum Humor durchringen
konnte, mußte sie den Ärger verschlucken, Anzeige machen und die Gerichts¬
verhandlung überstehn. Sie hatte aber auch die Genugtuung, daß dieser schwere
Fall auch genügend schwer bestraft wurde, da die Richter ausdrücklich das
Unerhörte dieses Vorgehns betonten. Daß solche Szenen aber ihre Spuren


Grenzboten I 190S 52
Erinnerungen einer Lehrerin

die eine wirksame Hilfe ist, schulschcuer Kinder, die lieber um die Schule als
Hineingehn, habhaft zu werden. Man füllt ein vorgedrucktes Formular mit der
Begründung der Zuführung aus, läßt dieses vom Rektor unterschreiben und
schickt es in das nächste Polizeirevier. Daraufhin wandert dann am nächsten
Morgen ein Polizist in die Wohnung des Kindes, stört dieses und die Ange¬
hörigen oft genug ini süßen Morgenschlummer und geleitet es dann sicher
bis vor die Klassentür, wo der Sünder dein Ordinarius ausgehändigt wird.
Dieser Anblick ist durchaus nicht ungewöhnlich, man kann ihn bei unserm großen
Schulgetriebe fast täglich genießen. Die Schulverächter sind meist größere Jungen,
allerdings auch Mädchen, die es vorziehn, sich herumzutreiben, statt die Schule
zu besuchen. Für solche Kinder beantragt man dann gewöhnlich Fürsorge¬
erziehung, auf die ich an andrer Stelle zurückkommen werde. Doch nach diesem
Abschweifen zu meinem Fall zurück. Die Frau in ihrer „gerechten" Entrüstung
hatte es vorgezogen, nicht den Instanzenweg innezuhalten, sondern hatte sich
gleich an den Rektor gewandt. Dieser ließ mich rufen. (Ein solcher Ruf ins
Nektorzimmer bedeutet selten etwas Gutes, erregt darum nie angenehme Gefühle.)
Der Rektor empfing mich nicht sehr gnädig und fragte, warum ich gleich so
scharf vorgegangen Ware. Ich erklärte, daß ich schon viel Ärger mit der Frau
gehabt und jetzt zweimal geschrieben habe. Da schrie die Frau los: „Was,
Briefe, ich habe keinen bekommen, ich bin Geschäftsfrau, ich kriege so viel Briefe,
wie sollte ich die nicht bekommen haben!" Da stand nun Aussage gegen Aus¬
sage, und der Rektor machte ein zweifelhaftes Gesicht, denn die Frau machte einen
recht ehrbaren Eindruck. Innerlich kochend, äußerlich ruhig sagte ich: „Die
Wahrheit ist sehr leicht zu ermitteln, lassen Sie, Herr Rektor, das Kind holen,
das die Briefe mit Marken versehen und in den Kasten befördert hat." (Wir
haben eine Schulportokasse und einen Briefkasten am Schulhause.) Meine Erste
kam, ich sagte kein Wort, der Rektor fragte, und das sehr verstündige Kind konnte
genau die Tage, sogar die Stunden angeben. Ich triumphierte innerlich, die
Mutter aber rief: „Ja, die redet Ihnen freilich nach dem Munde, der haben Sie
Zeichen gemacht." Der Rektor, von meinem korrekten Vorgehn nun überzeugt,
zuckte auch zusammen, ich aber, unfähig, meine Wut zu beherrschen, schlug mit
der Faust auf den Tisch, daß die Tintengläser tanzten, und schrie mit reichlichem
Lungenaufgebot: „Das ist ja eine unerhörte Verdächtigung, ich werde Sie ver¬
klagen." Kaum hörte sie das Wort, da gab sie klein bei — aber ich war für
den Rest des Schultages zum Unterrichten unfähig. Aber es kommen noch
ganz andre Dinge vor. Ich kenne eine Lehrerin, die als „Ablichte" besonders
bei den Leuten verhaßt ist. In deren Unterricht platzte eines Tages eine die
Milchkanne schwingende Furie und rief: „Ich schlank Ihnen die Milchkanne ins
Jesichte, wenn Sie meene Schwester noch mal hauen!" Die Lehrerin, eine
Pommeriu von echtem Schrot und Korn, hatte die Jungfrau bald vor die Tür
befördert, aber ehe sie sich über dieses Intermezzo zum Humor durchringen
konnte, mußte sie den Ärger verschlucken, Anzeige machen und die Gerichts¬
verhandlung überstehn. Sie hatte aber auch die Genugtuung, daß dieser schwere
Fall auch genügend schwer bestraft wurde, da die Richter ausdrücklich das
Unerhörte dieses Vorgehns betonten. Daß solche Szenen aber ihre Spuren


Grenzboten I 190S 52
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[0397] Erinnerungen einer Lehrerin die eine wirksame Hilfe ist, schulschcuer Kinder, die lieber um die Schule als Hineingehn, habhaft zu werden. Man füllt ein vorgedrucktes Formular mit der Begründung der Zuführung aus, läßt dieses vom Rektor unterschreiben und schickt es in das nächste Polizeirevier. Daraufhin wandert dann am nächsten Morgen ein Polizist in die Wohnung des Kindes, stört dieses und die Ange¬ hörigen oft genug ini süßen Morgenschlummer und geleitet es dann sicher bis vor die Klassentür, wo der Sünder dein Ordinarius ausgehändigt wird. Dieser Anblick ist durchaus nicht ungewöhnlich, man kann ihn bei unserm großen Schulgetriebe fast täglich genießen. Die Schulverächter sind meist größere Jungen, allerdings auch Mädchen, die es vorziehn, sich herumzutreiben, statt die Schule zu besuchen. Für solche Kinder beantragt man dann gewöhnlich Fürsorge¬ erziehung, auf die ich an andrer Stelle zurückkommen werde. Doch nach diesem Abschweifen zu meinem Fall zurück. Die Frau in ihrer „gerechten" Entrüstung hatte es vorgezogen, nicht den Instanzenweg innezuhalten, sondern hatte sich gleich an den Rektor gewandt. Dieser ließ mich rufen. (Ein solcher Ruf ins Nektorzimmer bedeutet selten etwas Gutes, erregt darum nie angenehme Gefühle.) Der Rektor empfing mich nicht sehr gnädig und fragte, warum ich gleich so scharf vorgegangen Ware. Ich erklärte, daß ich schon viel Ärger mit der Frau gehabt und jetzt zweimal geschrieben habe. Da schrie die Frau los: „Was, Briefe, ich habe keinen bekommen, ich bin Geschäftsfrau, ich kriege so viel Briefe, wie sollte ich die nicht bekommen haben!" Da stand nun Aussage gegen Aus¬ sage, und der Rektor machte ein zweifelhaftes Gesicht, denn die Frau machte einen recht ehrbaren Eindruck. Innerlich kochend, äußerlich ruhig sagte ich: „Die Wahrheit ist sehr leicht zu ermitteln, lassen Sie, Herr Rektor, das Kind holen, das die Briefe mit Marken versehen und in den Kasten befördert hat." (Wir haben eine Schulportokasse und einen Briefkasten am Schulhause.) Meine Erste kam, ich sagte kein Wort, der Rektor fragte, und das sehr verstündige Kind konnte genau die Tage, sogar die Stunden angeben. Ich triumphierte innerlich, die Mutter aber rief: „Ja, die redet Ihnen freilich nach dem Munde, der haben Sie Zeichen gemacht." Der Rektor, von meinem korrekten Vorgehn nun überzeugt, zuckte auch zusammen, ich aber, unfähig, meine Wut zu beherrschen, schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Tintengläser tanzten, und schrie mit reichlichem Lungenaufgebot: „Das ist ja eine unerhörte Verdächtigung, ich werde Sie ver¬ klagen." Kaum hörte sie das Wort, da gab sie klein bei — aber ich war für den Rest des Schultages zum Unterrichten unfähig. Aber es kommen noch ganz andre Dinge vor. Ich kenne eine Lehrerin, die als „Ablichte" besonders bei den Leuten verhaßt ist. In deren Unterricht platzte eines Tages eine die Milchkanne schwingende Furie und rief: „Ich schlank Ihnen die Milchkanne ins Jesichte, wenn Sie meene Schwester noch mal hauen!" Die Lehrerin, eine Pommeriu von echtem Schrot und Korn, hatte die Jungfrau bald vor die Tür befördert, aber ehe sie sich über dieses Intermezzo zum Humor durchringen konnte, mußte sie den Ärger verschlucken, Anzeige machen und die Gerichts¬ verhandlung überstehn. Sie hatte aber auch die Genugtuung, daß dieser schwere Fall auch genügend schwer bestraft wurde, da die Richter ausdrücklich das Unerhörte dieses Vorgehns betonten. Daß solche Szenen aber ihre Spuren Grenzboten I 190S 52

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/397>, abgerufen am 23.12.2024.