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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Erinnerungen einer Lehrerin

sich, die Grenzen eines ruhigen Verkehrstons zu überschreiten, die notwendigen
Auseinandersetzungen, die sich nicht vermeiden lassen, tragen dann keinen unan¬
genehmen Ausdruck an sich. Die Leute sehen ein, daß man sozusagen auch
menschlich ist, und daß uns gar nichts daran liegt, sie zu "schikanieren," sondern
daß uns ein friedliches Zusammenwirken nicht nur durchaus erwünscht, sondern
sogar Lebensfrage ist, denn es kann für den, der es nicht versteht, mit den
Leuten auszukommen, ein geradezu unerträglicher Zustand entsteh". Wenn jedes
Elternpaar nur einmal jährlich Skandal macht, so bedeutet das bei fünfzig bis
sechzig Kindern ebensoviele verärgerte Schultage, und ein Plus an dem gewöhn¬
lichen Ärger ist durchaus nicht nötig, denn jeder Tag sorgt schon für das Seine,
Manche Leser werden sich nun fragen, wie und wo wir überhaupt mit den Elter"
zusammenkommen. Nun, die Eltern, falls sie uns irgend etwas zu "stecken"
für nötig halten, erscheinen in der Schule, klopfen uns mitten im Unterricht
heraus und fangen dann gewöhnlich gleich in einem so lauten Tone an, ihre
Gefühle zu äußern, daß die langen Korridore von Stimmengewirr widerhallen.
Hört man als Unbeteiligter eine solche erregte Stimme, dann lächelt man ver¬
ständnisinnig und hofft nnr im stillen, daß das Ungewitter gnädig an der eignen
Tür Vorübergehn möge. Anlaß zu einen: solchen Besuche findet sich oft, den
meisten bietet das Baden, dann aber auch eine erteilte Züchtigung, ein nach
Meinung der Eltern unbefugtes Versetzen des Kindes, was sich durch Unaufmerk¬
samkeit usw. nötig erwiesen hat, und wobei es vielleicht neben eine den Eltern
nicht behagende Nachbarin gekommen ist. Auch entstellte Bemerkungen über das
Kind oder das Elternhaus, dann aber auch harmlose Entschuldigungsbesuche usw.
bringen uns den Besuch der Eltern.

Zuerst ersucht ma" bei solche" Anlässe" um leiseres Sprechen, hilft eine
wiederholte Aufforderung nicht, dann droht man mit Anzeige wegen Haus¬
friedensbruchs. Dieses Wort wirkt meist wie Öl auf die erregten Wogen des
Gemüts. Sehen die Leute, daß man nicht aus seiner Fassung und Sicherheit
zu bringen ist, und hat man erst gelernt, den Fehler des Heftigwerdens zu ver¬
meiden, dann werden sie oft ganz gemütlich, entschuldigen sich sogar in ihrer
Art, und man geht befriedigt auseinander. Aber ein solcher Auftritt kann
sich auch bis in das Zimmer des Rektors, in das des Schulrath, ja sogar bis
vor die Schranken des Gerichts hinziehn. Denn es gibt Fülle, in denen man
es sich schuldig ist, die Anzeige wegen Beleidigung im Amte zu machen. Ich
bin glücklicherweise eben durch meine rechtzeitigen Hausbesuche mit allzu unlieb¬
samen Besuchen verschont geblieben. Ich erinnere mich nur an einen recht un¬
angenehmen Auftritt mit der Mutter einer Schülerin, bei der ich, da das Kind
erst zwei Monate in meiner Klasse saß, noch nicht gewesen war. Das Kind
war schwächlich, wurde aber von der Mutter aller Augenblicke unnötig aus der
Schule behalten. Ich hatte ihr nun schon wiederholt mündlich bei ihren Ent-
schuldigungsbesuchcn mitgeteilt, daß das ewige Fehlen nicht so weitergehe. Trotz¬
dem fehlte das Kind wieder vier Tage unentschuldigt, ich schrieb zwei Briefe
und kündigte, da das Kind Abends um neun Uhr noch auf dem Jahrmarkte ge¬
sehen worden war, polizeiliche Zuführung an, wenn es am andern Tage nicht
in der Schule wäre. Zuerst noch einige erklärende Worte über diese Zuführung,


Erinnerungen einer Lehrerin

sich, die Grenzen eines ruhigen Verkehrstons zu überschreiten, die notwendigen
Auseinandersetzungen, die sich nicht vermeiden lassen, tragen dann keinen unan¬
genehmen Ausdruck an sich. Die Leute sehen ein, daß man sozusagen auch
menschlich ist, und daß uns gar nichts daran liegt, sie zu „schikanieren," sondern
daß uns ein friedliches Zusammenwirken nicht nur durchaus erwünscht, sondern
sogar Lebensfrage ist, denn es kann für den, der es nicht versteht, mit den
Leuten auszukommen, ein geradezu unerträglicher Zustand entsteh». Wenn jedes
Elternpaar nur einmal jährlich Skandal macht, so bedeutet das bei fünfzig bis
sechzig Kindern ebensoviele verärgerte Schultage, und ein Plus an dem gewöhn¬
lichen Ärger ist durchaus nicht nötig, denn jeder Tag sorgt schon für das Seine,
Manche Leser werden sich nun fragen, wie und wo wir überhaupt mit den Elter»
zusammenkommen. Nun, die Eltern, falls sie uns irgend etwas zu „stecken"
für nötig halten, erscheinen in der Schule, klopfen uns mitten im Unterricht
heraus und fangen dann gewöhnlich gleich in einem so lauten Tone an, ihre
Gefühle zu äußern, daß die langen Korridore von Stimmengewirr widerhallen.
Hört man als Unbeteiligter eine solche erregte Stimme, dann lächelt man ver¬
ständnisinnig und hofft nnr im stillen, daß das Ungewitter gnädig an der eignen
Tür Vorübergehn möge. Anlaß zu einen: solchen Besuche findet sich oft, den
meisten bietet das Baden, dann aber auch eine erteilte Züchtigung, ein nach
Meinung der Eltern unbefugtes Versetzen des Kindes, was sich durch Unaufmerk¬
samkeit usw. nötig erwiesen hat, und wobei es vielleicht neben eine den Eltern
nicht behagende Nachbarin gekommen ist. Auch entstellte Bemerkungen über das
Kind oder das Elternhaus, dann aber auch harmlose Entschuldigungsbesuche usw.
bringen uns den Besuch der Eltern.

Zuerst ersucht ma» bei solche» Anlässe» um leiseres Sprechen, hilft eine
wiederholte Aufforderung nicht, dann droht man mit Anzeige wegen Haus¬
friedensbruchs. Dieses Wort wirkt meist wie Öl auf die erregten Wogen des
Gemüts. Sehen die Leute, daß man nicht aus seiner Fassung und Sicherheit
zu bringen ist, und hat man erst gelernt, den Fehler des Heftigwerdens zu ver¬
meiden, dann werden sie oft ganz gemütlich, entschuldigen sich sogar in ihrer
Art, und man geht befriedigt auseinander. Aber ein solcher Auftritt kann
sich auch bis in das Zimmer des Rektors, in das des Schulrath, ja sogar bis
vor die Schranken des Gerichts hinziehn. Denn es gibt Fülle, in denen man
es sich schuldig ist, die Anzeige wegen Beleidigung im Amte zu machen. Ich
bin glücklicherweise eben durch meine rechtzeitigen Hausbesuche mit allzu unlieb¬
samen Besuchen verschont geblieben. Ich erinnere mich nur an einen recht un¬
angenehmen Auftritt mit der Mutter einer Schülerin, bei der ich, da das Kind
erst zwei Monate in meiner Klasse saß, noch nicht gewesen war. Das Kind
war schwächlich, wurde aber von der Mutter aller Augenblicke unnötig aus der
Schule behalten. Ich hatte ihr nun schon wiederholt mündlich bei ihren Ent-
schuldigungsbesuchcn mitgeteilt, daß das ewige Fehlen nicht so weitergehe. Trotz¬
dem fehlte das Kind wieder vier Tage unentschuldigt, ich schrieb zwei Briefe
und kündigte, da das Kind Abends um neun Uhr noch auf dem Jahrmarkte ge¬
sehen worden war, polizeiliche Zuführung an, wenn es am andern Tage nicht
in der Schule wäre. Zuerst noch einige erklärende Worte über diese Zuführung,


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[0396] Erinnerungen einer Lehrerin sich, die Grenzen eines ruhigen Verkehrstons zu überschreiten, die notwendigen Auseinandersetzungen, die sich nicht vermeiden lassen, tragen dann keinen unan¬ genehmen Ausdruck an sich. Die Leute sehen ein, daß man sozusagen auch menschlich ist, und daß uns gar nichts daran liegt, sie zu „schikanieren," sondern daß uns ein friedliches Zusammenwirken nicht nur durchaus erwünscht, sondern sogar Lebensfrage ist, denn es kann für den, der es nicht versteht, mit den Leuten auszukommen, ein geradezu unerträglicher Zustand entsteh». Wenn jedes Elternpaar nur einmal jährlich Skandal macht, so bedeutet das bei fünfzig bis sechzig Kindern ebensoviele verärgerte Schultage, und ein Plus an dem gewöhn¬ lichen Ärger ist durchaus nicht nötig, denn jeder Tag sorgt schon für das Seine, Manche Leser werden sich nun fragen, wie und wo wir überhaupt mit den Elter» zusammenkommen. Nun, die Eltern, falls sie uns irgend etwas zu „stecken" für nötig halten, erscheinen in der Schule, klopfen uns mitten im Unterricht heraus und fangen dann gewöhnlich gleich in einem so lauten Tone an, ihre Gefühle zu äußern, daß die langen Korridore von Stimmengewirr widerhallen. Hört man als Unbeteiligter eine solche erregte Stimme, dann lächelt man ver¬ ständnisinnig und hofft nnr im stillen, daß das Ungewitter gnädig an der eignen Tür Vorübergehn möge. Anlaß zu einen: solchen Besuche findet sich oft, den meisten bietet das Baden, dann aber auch eine erteilte Züchtigung, ein nach Meinung der Eltern unbefugtes Versetzen des Kindes, was sich durch Unaufmerk¬ samkeit usw. nötig erwiesen hat, und wobei es vielleicht neben eine den Eltern nicht behagende Nachbarin gekommen ist. Auch entstellte Bemerkungen über das Kind oder das Elternhaus, dann aber auch harmlose Entschuldigungsbesuche usw. bringen uns den Besuch der Eltern. Zuerst ersucht ma» bei solche» Anlässe» um leiseres Sprechen, hilft eine wiederholte Aufforderung nicht, dann droht man mit Anzeige wegen Haus¬ friedensbruchs. Dieses Wort wirkt meist wie Öl auf die erregten Wogen des Gemüts. Sehen die Leute, daß man nicht aus seiner Fassung und Sicherheit zu bringen ist, und hat man erst gelernt, den Fehler des Heftigwerdens zu ver¬ meiden, dann werden sie oft ganz gemütlich, entschuldigen sich sogar in ihrer Art, und man geht befriedigt auseinander. Aber ein solcher Auftritt kann sich auch bis in das Zimmer des Rektors, in das des Schulrath, ja sogar bis vor die Schranken des Gerichts hinziehn. Denn es gibt Fülle, in denen man es sich schuldig ist, die Anzeige wegen Beleidigung im Amte zu machen. Ich bin glücklicherweise eben durch meine rechtzeitigen Hausbesuche mit allzu unlieb¬ samen Besuchen verschont geblieben. Ich erinnere mich nur an einen recht un¬ angenehmen Auftritt mit der Mutter einer Schülerin, bei der ich, da das Kind erst zwei Monate in meiner Klasse saß, noch nicht gewesen war. Das Kind war schwächlich, wurde aber von der Mutter aller Augenblicke unnötig aus der Schule behalten. Ich hatte ihr nun schon wiederholt mündlich bei ihren Ent- schuldigungsbesuchcn mitgeteilt, daß das ewige Fehlen nicht so weitergehe. Trotz¬ dem fehlte das Kind wieder vier Tage unentschuldigt, ich schrieb zwei Briefe und kündigte, da das Kind Abends um neun Uhr noch auf dem Jahrmarkte ge¬ sehen worden war, polizeiliche Zuführung an, wenn es am andern Tage nicht in der Schule wäre. Zuerst noch einige erklärende Worte über diese Zuführung,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/396>, abgerufen am 23.12.2024.