Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.Im alten Brüssel Auf dem Se. Katharinenmarkt war alles beim alten geblieben. Fintje sah Langsam schlich Fintje nach Hause, den wohlbekannten Klang des Marollien Ovale ist unter die Sozialisten gegangen? Der scheue, in sich gekehrte, Deutlich sah sie die Stube vor sich mit der grünumschirinten Petroleumlampe Ovale war immer gut gegen sie gewesen, schon als sie noch kleine Kinder waren. Die Flut zurückgedrängter Erinnerungen schlug jetzt jählings über ihr zusammen, Aber er kam nicht. Auch heute wieder nicht. 16 Reue's Eltern waren endlich zu der Überzeugung gelangt, ihr Sohn habe jetzt Freilich der Gedanke an sein Verhältnis zu der kleinen Josephine bedrückte Wohl ist Brüssel groß genug, daß man einsam darin leben kann, acht aber Grenzboten I 1905 47
Im alten Brüssel Auf dem Se. Katharinenmarkt war alles beim alten geblieben. Fintje sah Langsam schlich Fintje nach Hause, den wohlbekannten Klang des Marollien Ovale ist unter die Sozialisten gegangen? Der scheue, in sich gekehrte, Deutlich sah sie die Stube vor sich mit der grünumschirinten Petroleumlampe Ovale war immer gut gegen sie gewesen, schon als sie noch kleine Kinder waren. Die Flut zurückgedrängter Erinnerungen schlug jetzt jählings über ihr zusammen, Aber er kam nicht. Auch heute wieder nicht. 16 Reue's Eltern waren endlich zu der Überzeugung gelangt, ihr Sohn habe jetzt Freilich der Gedanke an sein Verhältnis zu der kleinen Josephine bedrückte Wohl ist Brüssel groß genug, daß man einsam darin leben kann, acht aber Grenzboten I 1905 47
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0357" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/87835"/> <fw type="header" place="top"> Im alten Brüssel</fw><lb/> <p xml:id="ID_1523"> Auf dem Se. Katharinenmarkt war alles beim alten geblieben. Fintje sah<lb/> bekannte Gesichter, wohin sie schaute. Sie erhandelte sich ein paar Orangen und<lb/> fragte nebenher so leichthin, ob die Hexe aus dem Pouchenellekeller, von der sie<lb/> habe erzählen hören, noch immer bei den Theateraufführungen das Regiment führe.<lb/> Arglos erteilte ihr das uebenhertrabende Froitwijvken Auskunft. Ihre Angst war<lb/> unbegründet gewesen, die Großmutter waltete noch rüstig ihres Amtes, Papa Tooue<lb/> machte weiter als Theaterdirektor und Wirt gute Geschäfte, Ovale aber war unter<lb/> die Sozialisten gegangen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1524"> Langsam schlich Fintje nach Hause, den wohlbekannten Klang des Marollien<lb/> noch in den Ohren.</p><lb/> <p xml:id="ID_1525"> Ovale ist unter die Sozialisten gegangen? Der scheue, in sich gekehrte,<lb/> stille Ovale?</p><lb/> <p xml:id="ID_1526"> Deutlich sah sie die Stube vor sich mit der grünumschirinten Petroleumlampe<lb/> und den bunten Marionetten, die Ovale so geschickt und geduldig aufzuputzen und<lb/> zurechtzuflicken verstand. Wie sollte sie sich den wohl im Volkshaufe, zwischen all<lb/> den lauten, unzufriednen Männern vorstellen können?</p><lb/> <p xml:id="ID_1527"> Ovale war immer gut gegen sie gewesen, schon als sie noch kleine Kinder waren.</p><lb/> <p xml:id="ID_1528"> Die Flut zurückgedrängter Erinnerungen schlug jetzt jählings über ihr zusammen,<lb/> da war kein Ausweichen mehr. Hilflos versank sie darin. Wenn sie nur Neues<lb/> Hand jetzt hätte fassen können! Wenn er nur heute bei ihr wäre, und sie sich fest<lb/> nu ihn schmiegen konnte, vielleicht würde sich alles wieder beschwichtigen lassen, was<lb/> sich so laut und ungestüm in ihrem Herzen zu regen begann.</p><lb/> <p xml:id="ID_1529"> Aber er kam nicht. Auch heute wieder nicht.</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> 16</head><lb/> <p xml:id="ID_1530"> Reue's Eltern waren endlich zu der Überzeugung gelangt, ihr Sohn habe jetzt<lb/> genügend Zeit, Jugendkraft und Geld vergeudet, und sie hatten ihm nun eine<lb/> mittellose, hübsche kleine Komtesse aus einem der ältesten Adelshäuser Belgiens auf¬<lb/> gefischt, um ihn mit ihrer Hilfe zum solide» Ehemann zu machen. Reue stach der<lb/> «lec vornehme Name gewaltig in die Augen. Diese kleine Antoinette hätte sogar<lb/> bei seinen hochmütigsten, hochgeborensten Freunden als gute Partie gegolten, durch<lb/> sie gewann er Eingang in die exklusivsten Adclskreise. Und geheiratet mußte ja<lb/> einmal werden; der Vater, von dem er in pekuniärer Beziehung völlig abhängig<lb/> Mar, wollte es nun einmal so.</p><lb/> <p xml:id="ID_1531"> Freilich der Gedanke an sein Verhältnis zu der kleinen Josephine bedrückte<lb/> ihn. Er schob seinen Besuch bei ihr immer weiter hinaus. Deal wenn er ihr<lb/> seine Verlobung mitteilte, erwartete ihn, so dachte er. eine peinliche Szene, und<lb/> der feinfühlige Rene' fürchtete und verabscheute alle Szenen und ging ihnen sorgsam<lb/> ans dem Wege. Auch diesesmal schob er die leidige Sache von Tag zu Tag<lb/> hinaus, in der Hoffnung, das gefällige Schicksal werde ihn schon ans die eine oder<lb/> die andre Weise der Mühe des unbequemen Eingriffs entheben und die Sachlage<lb/> ohne sein Dazutun in Richtigkeit bringen. Was hätte er der kleinen Josephine<lb/> "und zum Tröste sagen sollen? Wäre er nur brutaler angelegt gewesen, er wäre<lb/> hingegangen und hätte die Fessel kurzerhand zerrissen. Aber sein sein entwickeltes<lb/> Taktgefühl sträubte sich dagegen, ihr eine Abfindungssumme anzubieten, und sein<lb/> verfeinertes Empfinden erlaubte ihm noch weniger, sie einem seiner Freunde zu<lb/> empfehlen. So bemühte er sich denn, so wenig wie möglich an die lästige Ge¬<lb/> schichte zu denken, beschäftigte sich eingehend mit den Plänen für sein zukünftiges<lb/> Haus und dessen Einrichtung, fuhr mit seiner eben erst aus der Klosterschule ent¬<lb/> lassenen sittsamen jungen Braut die üblichen Visiten ab und überflog uur obenhin<lb/> die ungeschickten kleinen Briefe, die Fintje ihm schrieb, und zerriß sie sogleich<lb/> sorglich in kleine Fetzen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1532"> Wohl ist Brüssel groß genug, daß man einsam darin leben kann, acht aber<lb/> groß genug, dem Klatsch die Lebensbedingungen zu entziehen.</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1905 47</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0357]
Im alten Brüssel
Auf dem Se. Katharinenmarkt war alles beim alten geblieben. Fintje sah
bekannte Gesichter, wohin sie schaute. Sie erhandelte sich ein paar Orangen und
fragte nebenher so leichthin, ob die Hexe aus dem Pouchenellekeller, von der sie
habe erzählen hören, noch immer bei den Theateraufführungen das Regiment führe.
Arglos erteilte ihr das uebenhertrabende Froitwijvken Auskunft. Ihre Angst war
unbegründet gewesen, die Großmutter waltete noch rüstig ihres Amtes, Papa Tooue
machte weiter als Theaterdirektor und Wirt gute Geschäfte, Ovale aber war unter
die Sozialisten gegangen.
Langsam schlich Fintje nach Hause, den wohlbekannten Klang des Marollien
noch in den Ohren.
Ovale ist unter die Sozialisten gegangen? Der scheue, in sich gekehrte,
stille Ovale?
Deutlich sah sie die Stube vor sich mit der grünumschirinten Petroleumlampe
und den bunten Marionetten, die Ovale so geschickt und geduldig aufzuputzen und
zurechtzuflicken verstand. Wie sollte sie sich den wohl im Volkshaufe, zwischen all
den lauten, unzufriednen Männern vorstellen können?
Ovale war immer gut gegen sie gewesen, schon als sie noch kleine Kinder waren.
Die Flut zurückgedrängter Erinnerungen schlug jetzt jählings über ihr zusammen,
da war kein Ausweichen mehr. Hilflos versank sie darin. Wenn sie nur Neues
Hand jetzt hätte fassen können! Wenn er nur heute bei ihr wäre, und sie sich fest
nu ihn schmiegen konnte, vielleicht würde sich alles wieder beschwichtigen lassen, was
sich so laut und ungestüm in ihrem Herzen zu regen begann.
Aber er kam nicht. Auch heute wieder nicht.
16
Reue's Eltern waren endlich zu der Überzeugung gelangt, ihr Sohn habe jetzt
genügend Zeit, Jugendkraft und Geld vergeudet, und sie hatten ihm nun eine
mittellose, hübsche kleine Komtesse aus einem der ältesten Adelshäuser Belgiens auf¬
gefischt, um ihn mit ihrer Hilfe zum solide» Ehemann zu machen. Reue stach der
«lec vornehme Name gewaltig in die Augen. Diese kleine Antoinette hätte sogar
bei seinen hochmütigsten, hochgeborensten Freunden als gute Partie gegolten, durch
sie gewann er Eingang in die exklusivsten Adclskreise. Und geheiratet mußte ja
einmal werden; der Vater, von dem er in pekuniärer Beziehung völlig abhängig
Mar, wollte es nun einmal so.
Freilich der Gedanke an sein Verhältnis zu der kleinen Josephine bedrückte
ihn. Er schob seinen Besuch bei ihr immer weiter hinaus. Deal wenn er ihr
seine Verlobung mitteilte, erwartete ihn, so dachte er. eine peinliche Szene, und
der feinfühlige Rene' fürchtete und verabscheute alle Szenen und ging ihnen sorgsam
ans dem Wege. Auch diesesmal schob er die leidige Sache von Tag zu Tag
hinaus, in der Hoffnung, das gefällige Schicksal werde ihn schon ans die eine oder
die andre Weise der Mühe des unbequemen Eingriffs entheben und die Sachlage
ohne sein Dazutun in Richtigkeit bringen. Was hätte er der kleinen Josephine
"und zum Tröste sagen sollen? Wäre er nur brutaler angelegt gewesen, er wäre
hingegangen und hätte die Fessel kurzerhand zerrissen. Aber sein sein entwickeltes
Taktgefühl sträubte sich dagegen, ihr eine Abfindungssumme anzubieten, und sein
verfeinertes Empfinden erlaubte ihm noch weniger, sie einem seiner Freunde zu
empfehlen. So bemühte er sich denn, so wenig wie möglich an die lästige Ge¬
schichte zu denken, beschäftigte sich eingehend mit den Plänen für sein zukünftiges
Haus und dessen Einrichtung, fuhr mit seiner eben erst aus der Klosterschule ent¬
lassenen sittsamen jungen Braut die üblichen Visiten ab und überflog uur obenhin
die ungeschickten kleinen Briefe, die Fintje ihm schrieb, und zerriß sie sogleich
sorglich in kleine Fetzen.
Wohl ist Brüssel groß genug, daß man einsam darin leben kann, acht aber
groß genug, dem Klatsch die Lebensbedingungen zu entziehen.
Grenzboten I 1905 47
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |