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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Bilder aus dem deutsch-französischen Kriege

1870/71. Meine Nerven waren zerrüttet. Eine einzige Erinnerung, die sich mir
am Tage aufdrängte und in der Nacht im Halbwachen erschien, peinigte mich bis
zum Wahnsinn. Ich hatte in Se. Privat aus dem Schutt, der die Kirche füllte,
in der ich für meine Mitgefangnen eine Messe las, eine schwarze Hand aus den
Brandtrümmern ragen sehen, bedeckt mit weißen Würmern, die an ihr nagten.
Die verfolgte mich... Gott sichtlich mit dem Feinde, und wir, die wir uns wie
Gottes nächste Freunde gefühlt hatten, nicht bloß äußerlich besiegt, sondern inner¬
lich geschlagen, der Glaube an unsre Sache und der Glaube an uns selbst zer¬
schlagen. Glauben Sie mir, nicht wir, die das erlebt haben, wünschten den Krieg
fortzusetzen^ auf diese Gedanken konnten nur Freigeister, Journalisten, Advokaten
kommen, die fern von den Schlachten ihre Reden schmiedeten. Wir dachten nur
an innere Heilung und vertrauten dem Glauben und der Herzensreinheit, die nach
solchen Prüfungen wachsen mußten. Darin lag für uns die Revanche.

Ein Freund teilte mir mit, daß die Kirche dieses Dörfchens, wo ich als junger
Kleriker meine ersten Dienste geleistet hatte, verwaist sei; noch niemand hatte sich
um die ärmliche Stelle tief im Gebirge beworben, und ich erhielt sie sofort.
Ich habe immer die frommen, starken, genügsamen Menschen des Jura gern ge¬
habt und war glücklich, unter ihnen leben und wirken zu dürfen. Hier genas ich
von dem innern Zusammenbruch des schrecklichen Sommers. Der Krieg hat uns
bis heute verschont. Sogar die Armee Bourbakis ist zu beiden Seiten unsrer
Berge nach Norden geströmt und wieder zurückgeflossen. Sie sind der erste
deutsche Soldat, den ich seit Metz sehe. Noch vor zwei Monaten hätte ich Ihren
Anblick nicht ertragen, jetzt freue ich mich, in dem Feinde dem Christen die Hand
zu reichen.

Sie wissen nun, wie ich den Krieg erlebt habe, und mögen sich denken, wie
ich ihn beurteile. Ich nenne mich Franzose, aber zuerst bin ich Christ, und unter
den Franzosen bin ich einer von wenigen, sehr wenigen, die nicht nach Sieg,
sondern nur nach Frieden verlangen, und nicht nach Frieden, um den Krieg vor¬
zubereiten, sondern nach Frieden, um Gott zu dienen und zu preisen. Wir
Franzosen sind viel zu weit von Gott abgekommen. Wir müssen ganz andre Wege
einschlagen, als die wir seit vier Jahrhunderten gegangen sind. Als man die
letzten gotischen Dome in Frankreich baute, da neigte sich die Zeit zu Ende, in
der Frankreich groß und glücklich war.

Wer ist glücklich als der, dem es beschieden ist, ganz zu sein, was er sein
kann und soll? Gewiesnen Weg zu gehn, das ist Glück. Sie werden sagen:
Ich bin glücklich, weil mich als Soldaten ein einfaches Sollen durch die Wirrnis
von Wollen oder Nichtwollen, Können oder Nichtkönnen durchführt. Nun wohl,
ich bildete mir ein Ziel, auf das ich hinstreben mußte. Auch darum vergrub ich
mich in dieses weltferne Dörfchen, weil hier niemand mich fragen konnte: Warum
trennst du dich von der Masse deines Volkes, das im Kampfe steht? Diese
armen Bauern und Uhrmacher des Jura stehn gerade so beiseite wie ich, nur mit
andern Gedanken. Wir fragen einander nicht, was wir über den Krieg denken,
wir wünschen aber alle, daß er vorbeigehe und ende.

Einst blühte die christliche Kunst in den burgundischen Landen. Wer kennt
nicht die Schätze Dijons? Wenn Sie in Dijon waren, haben Sie Sainte Benigne
gesehen, die schönste aller echt gotischen Kirchen, und Sie müssen das Portal von
Notre Dame und im Innern die herrlichen Steinbilder der Himmelfahrt Maria
von Dubois bewundert haben. Das liegt freilich jetzt alles wie jenseits eines
Aeser Tales. Die Revolution hat bei uus das Leben der Kunst ausgetreten, und
nun fällt auf uns die Pflicht, das Scheintode wieder zu beleben. Denn es war
nicht gestorben, es schien nur so. Das ist ja eben der Grund, warum wir alle,
die es gut meinen, das Ende dieses Krieges aus tiefstem Herzen wünschen. Wir
wollen an die Arbeit gehn. Haben Sie unsre düstere kellerähnliche Dorfkirche
gesehen? Hat es Ihnen nicht gegraut vor den fetischartigen Marlenbildern unsrer


Bilder aus dem deutsch-französischen Kriege

1870/71. Meine Nerven waren zerrüttet. Eine einzige Erinnerung, die sich mir
am Tage aufdrängte und in der Nacht im Halbwachen erschien, peinigte mich bis
zum Wahnsinn. Ich hatte in Se. Privat aus dem Schutt, der die Kirche füllte,
in der ich für meine Mitgefangnen eine Messe las, eine schwarze Hand aus den
Brandtrümmern ragen sehen, bedeckt mit weißen Würmern, die an ihr nagten.
Die verfolgte mich... Gott sichtlich mit dem Feinde, und wir, die wir uns wie
Gottes nächste Freunde gefühlt hatten, nicht bloß äußerlich besiegt, sondern inner¬
lich geschlagen, der Glaube an unsre Sache und der Glaube an uns selbst zer¬
schlagen. Glauben Sie mir, nicht wir, die das erlebt haben, wünschten den Krieg
fortzusetzen^ auf diese Gedanken konnten nur Freigeister, Journalisten, Advokaten
kommen, die fern von den Schlachten ihre Reden schmiedeten. Wir dachten nur
an innere Heilung und vertrauten dem Glauben und der Herzensreinheit, die nach
solchen Prüfungen wachsen mußten. Darin lag für uns die Revanche.

Ein Freund teilte mir mit, daß die Kirche dieses Dörfchens, wo ich als junger
Kleriker meine ersten Dienste geleistet hatte, verwaist sei; noch niemand hatte sich
um die ärmliche Stelle tief im Gebirge beworben, und ich erhielt sie sofort.
Ich habe immer die frommen, starken, genügsamen Menschen des Jura gern ge¬
habt und war glücklich, unter ihnen leben und wirken zu dürfen. Hier genas ich
von dem innern Zusammenbruch des schrecklichen Sommers. Der Krieg hat uns
bis heute verschont. Sogar die Armee Bourbakis ist zu beiden Seiten unsrer
Berge nach Norden geströmt und wieder zurückgeflossen. Sie sind der erste
deutsche Soldat, den ich seit Metz sehe. Noch vor zwei Monaten hätte ich Ihren
Anblick nicht ertragen, jetzt freue ich mich, in dem Feinde dem Christen die Hand
zu reichen.

Sie wissen nun, wie ich den Krieg erlebt habe, und mögen sich denken, wie
ich ihn beurteile. Ich nenne mich Franzose, aber zuerst bin ich Christ, und unter
den Franzosen bin ich einer von wenigen, sehr wenigen, die nicht nach Sieg,
sondern nur nach Frieden verlangen, und nicht nach Frieden, um den Krieg vor¬
zubereiten, sondern nach Frieden, um Gott zu dienen und zu preisen. Wir
Franzosen sind viel zu weit von Gott abgekommen. Wir müssen ganz andre Wege
einschlagen, als die wir seit vier Jahrhunderten gegangen sind. Als man die
letzten gotischen Dome in Frankreich baute, da neigte sich die Zeit zu Ende, in
der Frankreich groß und glücklich war.

Wer ist glücklich als der, dem es beschieden ist, ganz zu sein, was er sein
kann und soll? Gewiesnen Weg zu gehn, das ist Glück. Sie werden sagen:
Ich bin glücklich, weil mich als Soldaten ein einfaches Sollen durch die Wirrnis
von Wollen oder Nichtwollen, Können oder Nichtkönnen durchführt. Nun wohl,
ich bildete mir ein Ziel, auf das ich hinstreben mußte. Auch darum vergrub ich
mich in dieses weltferne Dörfchen, weil hier niemand mich fragen konnte: Warum
trennst du dich von der Masse deines Volkes, das im Kampfe steht? Diese
armen Bauern und Uhrmacher des Jura stehn gerade so beiseite wie ich, nur mit
andern Gedanken. Wir fragen einander nicht, was wir über den Krieg denken,
wir wünschen aber alle, daß er vorbeigehe und ende.

Einst blühte die christliche Kunst in den burgundischen Landen. Wer kennt
nicht die Schätze Dijons? Wenn Sie in Dijon waren, haben Sie Sainte Benigne
gesehen, die schönste aller echt gotischen Kirchen, und Sie müssen das Portal von
Notre Dame und im Innern die herrlichen Steinbilder der Himmelfahrt Maria
von Dubois bewundert haben. Das liegt freilich jetzt alles wie jenseits eines
Aeser Tales. Die Revolution hat bei uus das Leben der Kunst ausgetreten, und
nun fällt auf uns die Pflicht, das Scheintode wieder zu beleben. Denn es war
nicht gestorben, es schien nur so. Das ist ja eben der Grund, warum wir alle,
die es gut meinen, das Ende dieses Krieges aus tiefstem Herzen wünschen. Wir
wollen an die Arbeit gehn. Haben Sie unsre düstere kellerähnliche Dorfkirche
gesehen? Hat es Ihnen nicht gegraut vor den fetischartigen Marlenbildern unsrer


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[0345] Bilder aus dem deutsch-französischen Kriege 1870/71. Meine Nerven waren zerrüttet. Eine einzige Erinnerung, die sich mir am Tage aufdrängte und in der Nacht im Halbwachen erschien, peinigte mich bis zum Wahnsinn. Ich hatte in Se. Privat aus dem Schutt, der die Kirche füllte, in der ich für meine Mitgefangnen eine Messe las, eine schwarze Hand aus den Brandtrümmern ragen sehen, bedeckt mit weißen Würmern, die an ihr nagten. Die verfolgte mich... Gott sichtlich mit dem Feinde, und wir, die wir uns wie Gottes nächste Freunde gefühlt hatten, nicht bloß äußerlich besiegt, sondern inner¬ lich geschlagen, der Glaube an unsre Sache und der Glaube an uns selbst zer¬ schlagen. Glauben Sie mir, nicht wir, die das erlebt haben, wünschten den Krieg fortzusetzen^ auf diese Gedanken konnten nur Freigeister, Journalisten, Advokaten kommen, die fern von den Schlachten ihre Reden schmiedeten. Wir dachten nur an innere Heilung und vertrauten dem Glauben und der Herzensreinheit, die nach solchen Prüfungen wachsen mußten. Darin lag für uns die Revanche. Ein Freund teilte mir mit, daß die Kirche dieses Dörfchens, wo ich als junger Kleriker meine ersten Dienste geleistet hatte, verwaist sei; noch niemand hatte sich um die ärmliche Stelle tief im Gebirge beworben, und ich erhielt sie sofort. Ich habe immer die frommen, starken, genügsamen Menschen des Jura gern ge¬ habt und war glücklich, unter ihnen leben und wirken zu dürfen. Hier genas ich von dem innern Zusammenbruch des schrecklichen Sommers. Der Krieg hat uns bis heute verschont. Sogar die Armee Bourbakis ist zu beiden Seiten unsrer Berge nach Norden geströmt und wieder zurückgeflossen. Sie sind der erste deutsche Soldat, den ich seit Metz sehe. Noch vor zwei Monaten hätte ich Ihren Anblick nicht ertragen, jetzt freue ich mich, in dem Feinde dem Christen die Hand zu reichen. Sie wissen nun, wie ich den Krieg erlebt habe, und mögen sich denken, wie ich ihn beurteile. Ich nenne mich Franzose, aber zuerst bin ich Christ, und unter den Franzosen bin ich einer von wenigen, sehr wenigen, die nicht nach Sieg, sondern nur nach Frieden verlangen, und nicht nach Frieden, um den Krieg vor¬ zubereiten, sondern nach Frieden, um Gott zu dienen und zu preisen. Wir Franzosen sind viel zu weit von Gott abgekommen. Wir müssen ganz andre Wege einschlagen, als die wir seit vier Jahrhunderten gegangen sind. Als man die letzten gotischen Dome in Frankreich baute, da neigte sich die Zeit zu Ende, in der Frankreich groß und glücklich war. Wer ist glücklich als der, dem es beschieden ist, ganz zu sein, was er sein kann und soll? Gewiesnen Weg zu gehn, das ist Glück. Sie werden sagen: Ich bin glücklich, weil mich als Soldaten ein einfaches Sollen durch die Wirrnis von Wollen oder Nichtwollen, Können oder Nichtkönnen durchführt. Nun wohl, ich bildete mir ein Ziel, auf das ich hinstreben mußte. Auch darum vergrub ich mich in dieses weltferne Dörfchen, weil hier niemand mich fragen konnte: Warum trennst du dich von der Masse deines Volkes, das im Kampfe steht? Diese armen Bauern und Uhrmacher des Jura stehn gerade so beiseite wie ich, nur mit andern Gedanken. Wir fragen einander nicht, was wir über den Krieg denken, wir wünschen aber alle, daß er vorbeigehe und ende. Einst blühte die christliche Kunst in den burgundischen Landen. Wer kennt nicht die Schätze Dijons? Wenn Sie in Dijon waren, haben Sie Sainte Benigne gesehen, die schönste aller echt gotischen Kirchen, und Sie müssen das Portal von Notre Dame und im Innern die herrlichen Steinbilder der Himmelfahrt Maria von Dubois bewundert haben. Das liegt freilich jetzt alles wie jenseits eines Aeser Tales. Die Revolution hat bei uus das Leben der Kunst ausgetreten, und nun fällt auf uns die Pflicht, das Scheintode wieder zu beleben. Denn es war nicht gestorben, es schien nur so. Das ist ja eben der Grund, warum wir alle, die es gut meinen, das Ende dieses Krieges aus tiefstem Herzen wünschen. Wir wollen an die Arbeit gehn. Haben Sie unsre düstere kellerähnliche Dorfkirche gesehen? Hat es Ihnen nicht gegraut vor den fetischartigen Marlenbildern unsrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/345>, abgerufen am 23.12.2024.