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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Ernst von Lasaulx

Letellier, kennen, der ihm sagte, er sei reich, er wolle ihm das Reisegeld geben,
allenfalls mitreisen. Letellier ging jedoch in ein Kloster, ohne vorher die Reise
nach Jerusalem zu unternehmen, und wollte Ernst bereden, denselben Schritt
zu tun. Doch dieser erklärte, es scheine ihm unmöglich, mit einer einzigen
Idee und zwar in nur einer ihrer unendlich verschiednen Formen sein Leben
zu verbringen. Das Geld des Franzosen brauchte er dann nicht, weil ihn
König Otto im Januar 1833 auf der Reise in sein neues Königreich mitnahm.
Aus Nauplia schreibt er: "Die Art und der Gang meiner bisherigen Studien
und mehr noch das längere Atmen der Grabesluft unter dem römischen Welt¬
schutt macht es mir unmöglich, irgendwie bessere politische Hoffnungen zu
nähren, sodaß es die Mühe lohnte, tätigen Anteil an der immer mehr sich
zersetzenden allem organischen Lebenstrieb erstorbnen Masse zu nehmen. Was
insbesondre Griechenland betrifft, so ist es zwar fast schwer, unter dieser
Sonne ernster Lebenswahrheit Raum zu geben; doch bedarf es nur eines
flüchtigen Blicks in seine ältere Geschichte, um sich zu überzeugen, daß den
Enkeln nur die schlimmem Eigenschaften ihrer Väter geblieben sind: der bar-
barische Midasdurst nach klingendem Metall und das eitle Spiel mißtrauischer
Eifersucht, die alle Einheit zersplittert. Was die Schrift von den Kretern
sagt, daß sie Lügner und faule Bäuche seien, ist mir hier oft eingefallen, und
die alte Lebensart gegenseitiger Räuberei, von der Thukydides I, 5 spricht, ist
seitdem noch um zweiundzwanzig Jahrhunderte älter geworden. Wohl wird es
mir unter diesen modernen Hellenen nicht werden; ich gedenke mich darum
lediglich auf das Durchwandern der bedeutendsten Trümmer vergangner Größe
zu beschränken und dann sobald als möglich nach Asien hinüberzueilen." Er
beschreibt Tiryns und Mykene. "Das Eingangstor hat die gewöhnliche ägyp¬
tische Form. Ebenso das Löwentor; wie denn überhaupt diese Bauten alle¬
samt einen ägyptischen Charakter tragen und -- was immer die albernen Ver¬
teidiger griechischer Autochthonie schwatzen mögen -- ihren ägyptischen Ursprung
nicht verleugnen können." Aus Athen berichtet er am 12. April 1833:

Heute Morgen fand die feierliche Übergabe der Akropolis statt. Osman Bey
und die Türken zogen ab, und der bayrische Oberst Palikan pflanzte die griechische
Flagge auf der nördlichen Brustwehr der cekropischen Burg. Es war ein seltsames
Schauspiel: die lärmende buutgemischte Menge der Türken, Griechen und Bayern
und was sich sonst von neugierigen Franken in dem arg gelichteten Säulenwald
des Parthenons versammelt hatte. Da ich noch immer zu keinem rechten Glauben
ein die Regeneration Griechenlands kommen kann, so stimmte mich die heillose
Ironie dieses modern lustigen Leichenschmauses nur trauriger. Ich stieg auf die
westliche Zinne des Tempels, übersah den ganzen Jammer der entsetzlichen Ver¬
wüstung und weinte Tränen eines Schmerzes, den ich selbst in Rom nicht empfunden
habe; denn dort fühlt sich die Seele doch ein wenig erhoben und gestärkt, wenn
sie den riesigen Kampf des Lebens mit dem Tode betrachtet, und wie das erste
fast mächtiger ist, da es so viel Unglück übersteht. Hier aber behält der weinende
Ephesier Recht, dem das unselige Leben der Menschen wie ein immerwährender
Leichenzug und die Erde als ein stets offnes Grab erschien. Was der platonische
Sokrates, sein eignes Schicksal ahnend, von den damaligen Athenern sagt: daß
einem Manne in diesen: Staate alles mögliche widerfahren könne, ist nun zur all¬
gemein erfüllten Prophezeiung über die ganze Stadt geworden, gleich jener des
großen Thukydides, der auf der Sonnenhöhe ihrer Macht schon die einstigen


Ernst von Lasaulx

Letellier, kennen, der ihm sagte, er sei reich, er wolle ihm das Reisegeld geben,
allenfalls mitreisen. Letellier ging jedoch in ein Kloster, ohne vorher die Reise
nach Jerusalem zu unternehmen, und wollte Ernst bereden, denselben Schritt
zu tun. Doch dieser erklärte, es scheine ihm unmöglich, mit einer einzigen
Idee und zwar in nur einer ihrer unendlich verschiednen Formen sein Leben
zu verbringen. Das Geld des Franzosen brauchte er dann nicht, weil ihn
König Otto im Januar 1833 auf der Reise in sein neues Königreich mitnahm.
Aus Nauplia schreibt er: „Die Art und der Gang meiner bisherigen Studien
und mehr noch das längere Atmen der Grabesluft unter dem römischen Welt¬
schutt macht es mir unmöglich, irgendwie bessere politische Hoffnungen zu
nähren, sodaß es die Mühe lohnte, tätigen Anteil an der immer mehr sich
zersetzenden allem organischen Lebenstrieb erstorbnen Masse zu nehmen. Was
insbesondre Griechenland betrifft, so ist es zwar fast schwer, unter dieser
Sonne ernster Lebenswahrheit Raum zu geben; doch bedarf es nur eines
flüchtigen Blicks in seine ältere Geschichte, um sich zu überzeugen, daß den
Enkeln nur die schlimmem Eigenschaften ihrer Väter geblieben sind: der bar-
barische Midasdurst nach klingendem Metall und das eitle Spiel mißtrauischer
Eifersucht, die alle Einheit zersplittert. Was die Schrift von den Kretern
sagt, daß sie Lügner und faule Bäuche seien, ist mir hier oft eingefallen, und
die alte Lebensart gegenseitiger Räuberei, von der Thukydides I, 5 spricht, ist
seitdem noch um zweiundzwanzig Jahrhunderte älter geworden. Wohl wird es
mir unter diesen modernen Hellenen nicht werden; ich gedenke mich darum
lediglich auf das Durchwandern der bedeutendsten Trümmer vergangner Größe
zu beschränken und dann sobald als möglich nach Asien hinüberzueilen." Er
beschreibt Tiryns und Mykene. „Das Eingangstor hat die gewöhnliche ägyp¬
tische Form. Ebenso das Löwentor; wie denn überhaupt diese Bauten alle¬
samt einen ägyptischen Charakter tragen und — was immer die albernen Ver¬
teidiger griechischer Autochthonie schwatzen mögen — ihren ägyptischen Ursprung
nicht verleugnen können." Aus Athen berichtet er am 12. April 1833:

Heute Morgen fand die feierliche Übergabe der Akropolis statt. Osman Bey
und die Türken zogen ab, und der bayrische Oberst Palikan pflanzte die griechische
Flagge auf der nördlichen Brustwehr der cekropischen Burg. Es war ein seltsames
Schauspiel: die lärmende buutgemischte Menge der Türken, Griechen und Bayern
und was sich sonst von neugierigen Franken in dem arg gelichteten Säulenwald
des Parthenons versammelt hatte. Da ich noch immer zu keinem rechten Glauben
ein die Regeneration Griechenlands kommen kann, so stimmte mich die heillose
Ironie dieses modern lustigen Leichenschmauses nur trauriger. Ich stieg auf die
westliche Zinne des Tempels, übersah den ganzen Jammer der entsetzlichen Ver¬
wüstung und weinte Tränen eines Schmerzes, den ich selbst in Rom nicht empfunden
habe; denn dort fühlt sich die Seele doch ein wenig erhoben und gestärkt, wenn
sie den riesigen Kampf des Lebens mit dem Tode betrachtet, und wie das erste
fast mächtiger ist, da es so viel Unglück übersteht. Hier aber behält der weinende
Ephesier Recht, dem das unselige Leben der Menschen wie ein immerwährender
Leichenzug und die Erde als ein stets offnes Grab erschien. Was der platonische
Sokrates, sein eignes Schicksal ahnend, von den damaligen Athenern sagt: daß
einem Manne in diesen: Staate alles mögliche widerfahren könne, ist nun zur all¬
gemein erfüllten Prophezeiung über die ganze Stadt geworden, gleich jener des
großen Thukydides, der auf der Sonnenhöhe ihrer Macht schon die einstigen


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[0329] Ernst von Lasaulx Letellier, kennen, der ihm sagte, er sei reich, er wolle ihm das Reisegeld geben, allenfalls mitreisen. Letellier ging jedoch in ein Kloster, ohne vorher die Reise nach Jerusalem zu unternehmen, und wollte Ernst bereden, denselben Schritt zu tun. Doch dieser erklärte, es scheine ihm unmöglich, mit einer einzigen Idee und zwar in nur einer ihrer unendlich verschiednen Formen sein Leben zu verbringen. Das Geld des Franzosen brauchte er dann nicht, weil ihn König Otto im Januar 1833 auf der Reise in sein neues Königreich mitnahm. Aus Nauplia schreibt er: „Die Art und der Gang meiner bisherigen Studien und mehr noch das längere Atmen der Grabesluft unter dem römischen Welt¬ schutt macht es mir unmöglich, irgendwie bessere politische Hoffnungen zu nähren, sodaß es die Mühe lohnte, tätigen Anteil an der immer mehr sich zersetzenden allem organischen Lebenstrieb erstorbnen Masse zu nehmen. Was insbesondre Griechenland betrifft, so ist es zwar fast schwer, unter dieser Sonne ernster Lebenswahrheit Raum zu geben; doch bedarf es nur eines flüchtigen Blicks in seine ältere Geschichte, um sich zu überzeugen, daß den Enkeln nur die schlimmem Eigenschaften ihrer Väter geblieben sind: der bar- barische Midasdurst nach klingendem Metall und das eitle Spiel mißtrauischer Eifersucht, die alle Einheit zersplittert. Was die Schrift von den Kretern sagt, daß sie Lügner und faule Bäuche seien, ist mir hier oft eingefallen, und die alte Lebensart gegenseitiger Räuberei, von der Thukydides I, 5 spricht, ist seitdem noch um zweiundzwanzig Jahrhunderte älter geworden. Wohl wird es mir unter diesen modernen Hellenen nicht werden; ich gedenke mich darum lediglich auf das Durchwandern der bedeutendsten Trümmer vergangner Größe zu beschränken und dann sobald als möglich nach Asien hinüberzueilen." Er beschreibt Tiryns und Mykene. „Das Eingangstor hat die gewöhnliche ägyp¬ tische Form. Ebenso das Löwentor; wie denn überhaupt diese Bauten alle¬ samt einen ägyptischen Charakter tragen und — was immer die albernen Ver¬ teidiger griechischer Autochthonie schwatzen mögen — ihren ägyptischen Ursprung nicht verleugnen können." Aus Athen berichtet er am 12. April 1833: Heute Morgen fand die feierliche Übergabe der Akropolis statt. Osman Bey und die Türken zogen ab, und der bayrische Oberst Palikan pflanzte die griechische Flagge auf der nördlichen Brustwehr der cekropischen Burg. Es war ein seltsames Schauspiel: die lärmende buutgemischte Menge der Türken, Griechen und Bayern und was sich sonst von neugierigen Franken in dem arg gelichteten Säulenwald des Parthenons versammelt hatte. Da ich noch immer zu keinem rechten Glauben ein die Regeneration Griechenlands kommen kann, so stimmte mich die heillose Ironie dieses modern lustigen Leichenschmauses nur trauriger. Ich stieg auf die westliche Zinne des Tempels, übersah den ganzen Jammer der entsetzlichen Ver¬ wüstung und weinte Tränen eines Schmerzes, den ich selbst in Rom nicht empfunden habe; denn dort fühlt sich die Seele doch ein wenig erhoben und gestärkt, wenn sie den riesigen Kampf des Lebens mit dem Tode betrachtet, und wie das erste fast mächtiger ist, da es so viel Unglück übersteht. Hier aber behält der weinende Ephesier Recht, dem das unselige Leben der Menschen wie ein immerwährender Leichenzug und die Erde als ein stets offnes Grab erschien. Was der platonische Sokrates, sein eignes Schicksal ahnend, von den damaligen Athenern sagt: daß einem Manne in diesen: Staate alles mögliche widerfahren könne, ist nun zur all¬ gemein erfüllten Prophezeiung über die ganze Stadt geworden, gleich jener des großen Thukydides, der auf der Sonnenhöhe ihrer Macht schon die einstigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/329>, abgerufen am 23.12.2024.