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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

dennoch den jüngsten Petersburger Vorgängen gegenüber über das "blutdürstige
absolute Zartum" entrüstet und in diesem die Wurzel alles Übels sucht, der sei
an die Pariser Junischlachten des Jahres 1848, sei an die Greuel der Kommune
von 1871 erinnert, von den republikanischen Schlächtereien der "großen" Revolution
ganz zu schweigen.

In Frankreich hat sich die Republik zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts,
im Jahre 1848 und 1871 hundertmal blutdürstiger und schonungsloser gezeigt als
je das absolute Zartum in Nußland. Diese Tatsache bleibt bestehn ungeachtet der
Entrüstung eines Teiles der Pariser Presse, der englischen Krokodilstränen und
der Phrasendrescherei in deutschen Zeitungen, von der sich das Publikum in seiner
Blindheit gefangen nehmen läßt. Was gedruckt ist, wird geglaubt, ob es auch
zehnmal der krasseste Unsinn ist, und je phrasenreicher der auf all diesen erfundnen
Nachrichten aufgebaute Leitartikel dem Philister in die Ohren dröhnt, desto wirkungs¬
voller ist er. Wie schön nahm sich da die Parallele zwischen dem angeblichen
Zuge russischer Arbeiter gegen Zarskoje-Scio und dem Zuge des Pariser Pöbels
am 5. Oktober 1789 nach Versailles aus! Aber dennoch war es ein hinkender
Vergleich! Denn abgesehen davon, daß der Zug nach Zarskoje-Scio gar nicht
unternommen worden ist, also mit dem Versailler auch nicht in Vergleich gestellt
werden konnte, besteht noch der große Unterschied, daß in Versailles leider der
Mut und die Entschlossenheit fehlten, die Straßenemente mit den treuen und kampf-
begetsterten Truppen niederzuschlagen, während die Unternehmer eines Zuges nach
Zarskoje-Scio gegen eiserne Mauern angerannt sein würden. Das Königtum in
Frankreich ist in der Hauptsache an seiner eignen Mutlosigkeit und an dem Mangel
nachhaltiger Entschlußkraft zugrunde gegangen, sonst hätte ein General der Bour-
bonen ebensogut "die Kammer ausfegen" können, wie es wenig Jahre später der
republikanische General Bonaparte getan hat.

Wenn die Kraft des Widerstands der russischen Regierung nicht erlahmt,
wird es und dem "Aufstande" ebenso wie mit dem "Aufstande" in sehr kurzer
Zeit vorbei sein, und der einzige Effekt neben den Toten wird vielleicht der sein,
daß die Recht behalten, die den Zaren vor Reformen gewarnt haben. Dieses
Ergebnis wäre freilich sehr zu bedauern. Nikolaus der Zweite ist nicht nur der
gebildetste aller russischen Zaren, der auch sein eignes Land kennt wie keiner
seiner Vorgänger, sondern er ist bis zu einem gewissen Grade auch der modernste
Monarch, den Rußland je gehabt hat, vielleicht zu modern, mehr als das heutige
Rußland ertragen kann. Von der ehrlichen Absicht erfüllt, sein Volk in friedlicher Ent¬
wicklung glücklich zu machen, hat er den Thron bestiegen. Aber er fand für seine
Gedanken keine Gehilfen und keine Werkzeuge. Als ein unglückliches Omen stand
die Katastrophe bei der Moskaner Krönung am Anfang seiner Regierung. Wider
Willen mußten er und seine deutsche Gemahlin die gegen Deutschland gerichteten
Pariser Huldigungen über sich ergehn lassen, jene Ausbrüche eines geradezu
fanatisch tobenden Freundschaftsfanatismus standen im grellsten Widerspruch zu dem
Ruhebedürfnis des Gefeierten. Er, der friedliebendste Zar, sah sich sodann zu
dem blutigsten Kriege veranlaßt, den die neuere Zeit gesehen hat; der Herrscher
mit dem wohlwollenden Herzen sah seine Regierung in fast nie endenden Kon¬
flikten mit deu Universitäten, in einem argen Gegensatz zu Finnland, und im
übrigen gänzlich ungeeignet, mit der Entwicklung, die Rußland seit einem Jahr¬
zehnt genommen hat, gleichen Schritt zu halten. Der Grundsatz: Aouvornsr o'ost
Müvoir hat in Petersburg ebenso versagt, wie das Fridericianische: touMrs e>u
veclstts! dort nicht beherzigt worden ist. Es fehlt die Entschlußkraft, die Schleuder¬
kraft, wie Bismarck sie nannte, vor allem "der Entschluß zur rechten Zeit." Ohne
diese zum Teil im Naturell des Kaisers begründeten Ursachen hätte Rußland nicht
einer innern Krisis zutreiben können wie der jetzigen, inmitten eines schweren aus¬
wärtigen Krieges hätte es nie dahin kommen können, daß der menschlichste aller
russischen Herrscher der Unmenschlichkeit geziehen wird! Nikolaus der Zweite ist


Maßgebliches und Unmaßgebliches

dennoch den jüngsten Petersburger Vorgängen gegenüber über das „blutdürstige
absolute Zartum" entrüstet und in diesem die Wurzel alles Übels sucht, der sei
an die Pariser Junischlachten des Jahres 1848, sei an die Greuel der Kommune
von 1871 erinnert, von den republikanischen Schlächtereien der „großen" Revolution
ganz zu schweigen.

In Frankreich hat sich die Republik zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts,
im Jahre 1848 und 1871 hundertmal blutdürstiger und schonungsloser gezeigt als
je das absolute Zartum in Nußland. Diese Tatsache bleibt bestehn ungeachtet der
Entrüstung eines Teiles der Pariser Presse, der englischen Krokodilstränen und
der Phrasendrescherei in deutschen Zeitungen, von der sich das Publikum in seiner
Blindheit gefangen nehmen läßt. Was gedruckt ist, wird geglaubt, ob es auch
zehnmal der krasseste Unsinn ist, und je phrasenreicher der auf all diesen erfundnen
Nachrichten aufgebaute Leitartikel dem Philister in die Ohren dröhnt, desto wirkungs¬
voller ist er. Wie schön nahm sich da die Parallele zwischen dem angeblichen
Zuge russischer Arbeiter gegen Zarskoje-Scio und dem Zuge des Pariser Pöbels
am 5. Oktober 1789 nach Versailles aus! Aber dennoch war es ein hinkender
Vergleich! Denn abgesehen davon, daß der Zug nach Zarskoje-Scio gar nicht
unternommen worden ist, also mit dem Versailler auch nicht in Vergleich gestellt
werden konnte, besteht noch der große Unterschied, daß in Versailles leider der
Mut und die Entschlossenheit fehlten, die Straßenemente mit den treuen und kampf-
begetsterten Truppen niederzuschlagen, während die Unternehmer eines Zuges nach
Zarskoje-Scio gegen eiserne Mauern angerannt sein würden. Das Königtum in
Frankreich ist in der Hauptsache an seiner eignen Mutlosigkeit und an dem Mangel
nachhaltiger Entschlußkraft zugrunde gegangen, sonst hätte ein General der Bour-
bonen ebensogut „die Kammer ausfegen" können, wie es wenig Jahre später der
republikanische General Bonaparte getan hat.

Wenn die Kraft des Widerstands der russischen Regierung nicht erlahmt,
wird es und dem „Aufstande" ebenso wie mit dem „Aufstande" in sehr kurzer
Zeit vorbei sein, und der einzige Effekt neben den Toten wird vielleicht der sein,
daß die Recht behalten, die den Zaren vor Reformen gewarnt haben. Dieses
Ergebnis wäre freilich sehr zu bedauern. Nikolaus der Zweite ist nicht nur der
gebildetste aller russischen Zaren, der auch sein eignes Land kennt wie keiner
seiner Vorgänger, sondern er ist bis zu einem gewissen Grade auch der modernste
Monarch, den Rußland je gehabt hat, vielleicht zu modern, mehr als das heutige
Rußland ertragen kann. Von der ehrlichen Absicht erfüllt, sein Volk in friedlicher Ent¬
wicklung glücklich zu machen, hat er den Thron bestiegen. Aber er fand für seine
Gedanken keine Gehilfen und keine Werkzeuge. Als ein unglückliches Omen stand
die Katastrophe bei der Moskaner Krönung am Anfang seiner Regierung. Wider
Willen mußten er und seine deutsche Gemahlin die gegen Deutschland gerichteten
Pariser Huldigungen über sich ergehn lassen, jene Ausbrüche eines geradezu
fanatisch tobenden Freundschaftsfanatismus standen im grellsten Widerspruch zu dem
Ruhebedürfnis des Gefeierten. Er, der friedliebendste Zar, sah sich sodann zu
dem blutigsten Kriege veranlaßt, den die neuere Zeit gesehen hat; der Herrscher
mit dem wohlwollenden Herzen sah seine Regierung in fast nie endenden Kon¬
flikten mit deu Universitäten, in einem argen Gegensatz zu Finnland, und im
übrigen gänzlich ungeeignet, mit der Entwicklung, die Rußland seit einem Jahr¬
zehnt genommen hat, gleichen Schritt zu halten. Der Grundsatz: Aouvornsr o'ost
Müvoir hat in Petersburg ebenso versagt, wie das Fridericianische: touMrs e>u
veclstts! dort nicht beherzigt worden ist. Es fehlt die Entschlußkraft, die Schleuder¬
kraft, wie Bismarck sie nannte, vor allem „der Entschluß zur rechten Zeit." Ohne
diese zum Teil im Naturell des Kaisers begründeten Ursachen hätte Rußland nicht
einer innern Krisis zutreiben können wie der jetzigen, inmitten eines schweren aus¬
wärtigen Krieges hätte es nie dahin kommen können, daß der menschlichste aller
russischen Herrscher der Unmenschlichkeit geziehen wird! Nikolaus der Zweite ist


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[0303] Maßgebliches und Unmaßgebliches dennoch den jüngsten Petersburger Vorgängen gegenüber über das „blutdürstige absolute Zartum" entrüstet und in diesem die Wurzel alles Übels sucht, der sei an die Pariser Junischlachten des Jahres 1848, sei an die Greuel der Kommune von 1871 erinnert, von den republikanischen Schlächtereien der „großen" Revolution ganz zu schweigen. In Frankreich hat sich die Republik zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts, im Jahre 1848 und 1871 hundertmal blutdürstiger und schonungsloser gezeigt als je das absolute Zartum in Nußland. Diese Tatsache bleibt bestehn ungeachtet der Entrüstung eines Teiles der Pariser Presse, der englischen Krokodilstränen und der Phrasendrescherei in deutschen Zeitungen, von der sich das Publikum in seiner Blindheit gefangen nehmen läßt. Was gedruckt ist, wird geglaubt, ob es auch zehnmal der krasseste Unsinn ist, und je phrasenreicher der auf all diesen erfundnen Nachrichten aufgebaute Leitartikel dem Philister in die Ohren dröhnt, desto wirkungs¬ voller ist er. Wie schön nahm sich da die Parallele zwischen dem angeblichen Zuge russischer Arbeiter gegen Zarskoje-Scio und dem Zuge des Pariser Pöbels am 5. Oktober 1789 nach Versailles aus! Aber dennoch war es ein hinkender Vergleich! Denn abgesehen davon, daß der Zug nach Zarskoje-Scio gar nicht unternommen worden ist, also mit dem Versailler auch nicht in Vergleich gestellt werden konnte, besteht noch der große Unterschied, daß in Versailles leider der Mut und die Entschlossenheit fehlten, die Straßenemente mit den treuen und kampf- begetsterten Truppen niederzuschlagen, während die Unternehmer eines Zuges nach Zarskoje-Scio gegen eiserne Mauern angerannt sein würden. Das Königtum in Frankreich ist in der Hauptsache an seiner eignen Mutlosigkeit und an dem Mangel nachhaltiger Entschlußkraft zugrunde gegangen, sonst hätte ein General der Bour- bonen ebensogut „die Kammer ausfegen" können, wie es wenig Jahre später der republikanische General Bonaparte getan hat. Wenn die Kraft des Widerstands der russischen Regierung nicht erlahmt, wird es und dem „Aufstande" ebenso wie mit dem „Aufstande" in sehr kurzer Zeit vorbei sein, und der einzige Effekt neben den Toten wird vielleicht der sein, daß die Recht behalten, die den Zaren vor Reformen gewarnt haben. Dieses Ergebnis wäre freilich sehr zu bedauern. Nikolaus der Zweite ist nicht nur der gebildetste aller russischen Zaren, der auch sein eignes Land kennt wie keiner seiner Vorgänger, sondern er ist bis zu einem gewissen Grade auch der modernste Monarch, den Rußland je gehabt hat, vielleicht zu modern, mehr als das heutige Rußland ertragen kann. Von der ehrlichen Absicht erfüllt, sein Volk in friedlicher Ent¬ wicklung glücklich zu machen, hat er den Thron bestiegen. Aber er fand für seine Gedanken keine Gehilfen und keine Werkzeuge. Als ein unglückliches Omen stand die Katastrophe bei der Moskaner Krönung am Anfang seiner Regierung. Wider Willen mußten er und seine deutsche Gemahlin die gegen Deutschland gerichteten Pariser Huldigungen über sich ergehn lassen, jene Ausbrüche eines geradezu fanatisch tobenden Freundschaftsfanatismus standen im grellsten Widerspruch zu dem Ruhebedürfnis des Gefeierten. Er, der friedliebendste Zar, sah sich sodann zu dem blutigsten Kriege veranlaßt, den die neuere Zeit gesehen hat; der Herrscher mit dem wohlwollenden Herzen sah seine Regierung in fast nie endenden Kon¬ flikten mit deu Universitäten, in einem argen Gegensatz zu Finnland, und im übrigen gänzlich ungeeignet, mit der Entwicklung, die Rußland seit einem Jahr¬ zehnt genommen hat, gleichen Schritt zu halten. Der Grundsatz: Aouvornsr o'ost Müvoir hat in Petersburg ebenso versagt, wie das Fridericianische: touMrs e>u veclstts! dort nicht beherzigt worden ist. Es fehlt die Entschlußkraft, die Schleuder¬ kraft, wie Bismarck sie nannte, vor allem „der Entschluß zur rechten Zeit." Ohne diese zum Teil im Naturell des Kaisers begründeten Ursachen hätte Rußland nicht einer innern Krisis zutreiben können wie der jetzigen, inmitten eines schweren aus¬ wärtigen Krieges hätte es nie dahin kommen können, daß der menschlichste aller russischen Herrscher der Unmenschlichkeit geziehen wird! Nikolaus der Zweite ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/303>, abgerufen am 23.07.2024.