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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Im alten Brüssel

Wir aßen auf dem Vorplatz, dessen rote Backsteinfliesen ein dicker Teppich
bedeckte, wie ihn die Bäuerinnen hierzulande aus de" Randstreifen ihres rauhen
Wolltuches flechten. Ein altes stummes Weib trug auf. Köstlich schmeckte die
Gemüsesuppe mit ihren hineingeschnittuen kräftigen Fleischstücken, und die gelben
Äpfel waren trotz dem Spätwinter noch voll Duft und Frische. Einen dunkeln
herben Rotwein, dessen Heimat die Gegend von Besancon vor, schenkte der Pfarr¬
herr fleißig in mein Glas, und er ließ es nicht zu, daß ich ihn nach der Sitte
des Landes mit Wasser mischte. Ich müsse mich nach der kalten Nacht im Freien
innerlich wieder erwärmen. Meinem Kameraden wurde das Essen in den Raum
im Erdgeschoß geschickt, wo man uns Quartier angewiesen hatte. Nach dem Essen
kam die Haushälterin, die sich den Fremden wohl ansehen und Lob für ihre Koch¬
kunst ernten mochte, ein schlankes Wesen von unbcuirischer Gestalt und einem blassen
friedvollen Gesicht, das etwas madonnenhaftes hatte. Seltsam berührte mich die
Ähnlichkeit ihrer Haltung mit dem großen Muttergottesbild, das ich vorhin in dem
Zimmer des Geistlichen gesehen hatte. Man hätte wetten mögen, das Mädchen
oder die junge Frau habe Modell dazu gestanden.

Eine halbe Landsmännin von euch, warf der Pfarrer hin, als sie sich still
wieder entfernt hatte. Ihr bemerkt vielleicht, wie wenig Ähnlichkeit sie mit den
Leuten dieser Gegend hat? Sie ist zwar dunkel wie eine Französin und spricht
unser Patois wie eine Jurnssierin, aber ihre Eltern sind ans Baden eingewandert;
ihr Bruder ist der Künstler, dem ich schöne Werke in der Kirche verdanke, ein
geschickter und frommer Holzschneider!

(Schluß folgt)




Im alten Brüssel
Llara Höhrath von(Fortsetzung)
11

H
"V-A^.>?^'"^5> lütje ging nicht mehr in Madame Gerards Atelier. Sie konnte das
Geschwätz der Mädchen über die unglückliche Miete nicht mit an¬
hören. Sie hatte auch alle Lust an der Erlernung der Korsett¬
fabrikation verloren. Das Empfangszimmer Madame Gürards blendete
sie längst nicht mehr mit seiner verstaubten Talmipracht. Und der
! Anblick der bunten, schillernden Seidenstoffe half ihr nicht länger
über die Eintönigkeit der ewigen Näherei hinweg. Nein, das war doch wohl
der richtige Lebensweg nicht für sie, zum Stillsitzen in düsterm Raum war sie
nicht geschaffen.

Deine Mutter, das Truitje, hätte es mich nicht fertig gebracht, bestätigte die
Großmutter.

Fiutje verlangte nach Luft und Licht, es lockte sie gewaltsam in die breiten,
hellen Straßen des schönen Brüssels hinaus.

Jeden Morgen wanderte ein Trupp Weiber und Mädchen die Steenport
hinunter mit Körben und Handwagen. Das waren die Fisch-, die Mossel- und
die Froitwijven, die da auszogen, um ihre Ware in dem geschäftigen, vom Markt¬
treiben erfüllten Kern der Stadt loszuschlagen.

Fintje hatte sich mit den Zitronen- und Orangenhändlerinnen des Winden¬
gangs besprochen. Nun hatte auch sie einen zitronengefüllten Korb am Arm hängen
und war in die Zunft der "gehenden Straßenverkäufer" aufgenommen. Diese


Im alten Brüssel

Wir aßen auf dem Vorplatz, dessen rote Backsteinfliesen ein dicker Teppich
bedeckte, wie ihn die Bäuerinnen hierzulande aus de» Randstreifen ihres rauhen
Wolltuches flechten. Ein altes stummes Weib trug auf. Köstlich schmeckte die
Gemüsesuppe mit ihren hineingeschnittuen kräftigen Fleischstücken, und die gelben
Äpfel waren trotz dem Spätwinter noch voll Duft und Frische. Einen dunkeln
herben Rotwein, dessen Heimat die Gegend von Besancon vor, schenkte der Pfarr¬
herr fleißig in mein Glas, und er ließ es nicht zu, daß ich ihn nach der Sitte
des Landes mit Wasser mischte. Ich müsse mich nach der kalten Nacht im Freien
innerlich wieder erwärmen. Meinem Kameraden wurde das Essen in den Raum
im Erdgeschoß geschickt, wo man uns Quartier angewiesen hatte. Nach dem Essen
kam die Haushälterin, die sich den Fremden wohl ansehen und Lob für ihre Koch¬
kunst ernten mochte, ein schlankes Wesen von unbcuirischer Gestalt und einem blassen
friedvollen Gesicht, das etwas madonnenhaftes hatte. Seltsam berührte mich die
Ähnlichkeit ihrer Haltung mit dem großen Muttergottesbild, das ich vorhin in dem
Zimmer des Geistlichen gesehen hatte. Man hätte wetten mögen, das Mädchen
oder die junge Frau habe Modell dazu gestanden.

Eine halbe Landsmännin von euch, warf der Pfarrer hin, als sie sich still
wieder entfernt hatte. Ihr bemerkt vielleicht, wie wenig Ähnlichkeit sie mit den
Leuten dieser Gegend hat? Sie ist zwar dunkel wie eine Französin und spricht
unser Patois wie eine Jurnssierin, aber ihre Eltern sind ans Baden eingewandert;
ihr Bruder ist der Künstler, dem ich schöne Werke in der Kirche verdanke, ein
geschickter und frommer Holzschneider!

(Schluß folgt)




Im alten Brüssel
Llara Höhrath von(Fortsetzung)
11

H
«V-A^.>?^'»^5> lütje ging nicht mehr in Madame Gerards Atelier. Sie konnte das
Geschwätz der Mädchen über die unglückliche Miete nicht mit an¬
hören. Sie hatte auch alle Lust an der Erlernung der Korsett¬
fabrikation verloren. Das Empfangszimmer Madame Gürards blendete
sie längst nicht mehr mit seiner verstaubten Talmipracht. Und der
! Anblick der bunten, schillernden Seidenstoffe half ihr nicht länger
über die Eintönigkeit der ewigen Näherei hinweg. Nein, das war doch wohl
der richtige Lebensweg nicht für sie, zum Stillsitzen in düsterm Raum war sie
nicht geschaffen.

Deine Mutter, das Truitje, hätte es mich nicht fertig gebracht, bestätigte die
Großmutter.

Fiutje verlangte nach Luft und Licht, es lockte sie gewaltsam in die breiten,
hellen Straßen des schönen Brüssels hinaus.

Jeden Morgen wanderte ein Trupp Weiber und Mädchen die Steenport
hinunter mit Körben und Handwagen. Das waren die Fisch-, die Mossel- und
die Froitwijven, die da auszogen, um ihre Ware in dem geschäftigen, vom Markt¬
treiben erfüllten Kern der Stadt loszuschlagen.

Fintje hatte sich mit den Zitronen- und Orangenhändlerinnen des Winden¬
gangs besprochen. Nun hatte auch sie einen zitronengefüllten Korb am Arm hängen
und war in die Zunft der „gehenden Straßenverkäufer" aufgenommen. Diese


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[0294] Im alten Brüssel Wir aßen auf dem Vorplatz, dessen rote Backsteinfliesen ein dicker Teppich bedeckte, wie ihn die Bäuerinnen hierzulande aus de» Randstreifen ihres rauhen Wolltuches flechten. Ein altes stummes Weib trug auf. Köstlich schmeckte die Gemüsesuppe mit ihren hineingeschnittuen kräftigen Fleischstücken, und die gelben Äpfel waren trotz dem Spätwinter noch voll Duft und Frische. Einen dunkeln herben Rotwein, dessen Heimat die Gegend von Besancon vor, schenkte der Pfarr¬ herr fleißig in mein Glas, und er ließ es nicht zu, daß ich ihn nach der Sitte des Landes mit Wasser mischte. Ich müsse mich nach der kalten Nacht im Freien innerlich wieder erwärmen. Meinem Kameraden wurde das Essen in den Raum im Erdgeschoß geschickt, wo man uns Quartier angewiesen hatte. Nach dem Essen kam die Haushälterin, die sich den Fremden wohl ansehen und Lob für ihre Koch¬ kunst ernten mochte, ein schlankes Wesen von unbcuirischer Gestalt und einem blassen friedvollen Gesicht, das etwas madonnenhaftes hatte. Seltsam berührte mich die Ähnlichkeit ihrer Haltung mit dem großen Muttergottesbild, das ich vorhin in dem Zimmer des Geistlichen gesehen hatte. Man hätte wetten mögen, das Mädchen oder die junge Frau habe Modell dazu gestanden. Eine halbe Landsmännin von euch, warf der Pfarrer hin, als sie sich still wieder entfernt hatte. Ihr bemerkt vielleicht, wie wenig Ähnlichkeit sie mit den Leuten dieser Gegend hat? Sie ist zwar dunkel wie eine Französin und spricht unser Patois wie eine Jurnssierin, aber ihre Eltern sind ans Baden eingewandert; ihr Bruder ist der Künstler, dem ich schöne Werke in der Kirche verdanke, ein geschickter und frommer Holzschneider! (Schluß folgt) Im alten Brüssel Llara Höhrath von(Fortsetzung) 11 H «V-A^.>?^'»^5> lütje ging nicht mehr in Madame Gerards Atelier. Sie konnte das Geschwätz der Mädchen über die unglückliche Miete nicht mit an¬ hören. Sie hatte auch alle Lust an der Erlernung der Korsett¬ fabrikation verloren. Das Empfangszimmer Madame Gürards blendete sie längst nicht mehr mit seiner verstaubten Talmipracht. Und der ! Anblick der bunten, schillernden Seidenstoffe half ihr nicht länger über die Eintönigkeit der ewigen Näherei hinweg. Nein, das war doch wohl der richtige Lebensweg nicht für sie, zum Stillsitzen in düsterm Raum war sie nicht geschaffen. Deine Mutter, das Truitje, hätte es mich nicht fertig gebracht, bestätigte die Großmutter. Fiutje verlangte nach Luft und Licht, es lockte sie gewaltsam in die breiten, hellen Straßen des schönen Brüssels hinaus. Jeden Morgen wanderte ein Trupp Weiber und Mädchen die Steenport hinunter mit Körben und Handwagen. Das waren die Fisch-, die Mossel- und die Froitwijven, die da auszogen, um ihre Ware in dem geschäftigen, vom Markt¬ treiben erfüllten Kern der Stadt loszuschlagen. Fintje hatte sich mit den Zitronen- und Orangenhändlerinnen des Winden¬ gangs besprochen. Nun hatte auch sie einen zitronengefüllten Korb am Arm hängen und war in die Zunft der „gehenden Straßenverkäufer" aufgenommen. Diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/294>, abgerufen am 22.12.2024.