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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Schriften und Gedanken zur Flottcnfrage

fühlbar geworden ist. Mit berechtigtem Stolz aber wird hervorgehoben, daß
unsre Schiffe während der Manöver allen Anforderungen gewachsen waren, und
daß keine ernstlichen Beschädigungen vorgekommen sind. Viel ungünstiger aber
für uns fällt die Betrachtung über die Fortschritte der fremden Kriegsflotten
aus, insbesondre der Stärkevergleich der fünf Seemächte für die Jahre 1904
und 1908. Namentlich England und die Vereinigten Staaten rüsten ganz ge¬
waltig, so zwar, daß die nordamerikanische Schlachtflotte schon 1908 doppelt
so viele Linienschiffe und dreimal so viele Panzerkreuzer kriegsbereit haben wird
als jetzt. Während unser jetziger Bestand an Linienschiffen und an Panzer¬
kreuzern noch etwas größer als der der nordamerikanischen Marine ist, wird
sich das Verhältnis bis 1908 sehr zu unfern Ungunsten verschieben, und zwar
so weit, daß der nordamerikanische Linienschiffsbestand 1908 nahezu das
Anderthalbfache und der Bestand an Panzerkreuzern sogar das Doppelte des
deutschen -- nach der Wasserverdrängung, dem besten Maße, gemessen -- sein
wird. Das ist ein geradezu beunruhigender Rückgang in dem Stärkeverhältnis
zwischen uns und den Vereinigten Staaten, der um so schwerer ins Gewicht
fallen wird, je höher der Bund der Landwirte den Schutzzoll auf amerikanisches
Getreide und Fleisch hinaufschraubt. Ein Blinder muß es sehen, daß dieses
Stärkeverhültnis der deutschen Flotte zu den beiden tatkräftigsten Seemächten
nicht im Einklang steht. Nauticus kennzeichnet Deutschlands Stellung dabei
mit folgendem: "Über die Grenzen seiner kontinentalen Großmachtstellung
herausgewachsen und auf das Meer als den Hcmpttrüger seiner Volksernährung
und Volkserhaltung angewiesen, steht es als Seemacht allein und nur auf sich
selbst angewiesen, um sich die mühsam errichteten Grundlagen seiner Volkskraft
und seiner Lebensfähigkeit zu erhalten."

Das Verhältnis der deutschen Flotte zu der englischen ist ungefähr wie
1: 5, wenn man den Bestand an Linienschiffen und großen Kreuzern zusammen¬
rechnet, noch etwas ungünstiger als 1:4, wenn man nur die Linienschiffe
rechnet; das ist um so unerfreulicher, als seit der neuen Freundschaft der
europäischen Westmächte und der Zerstörung des besten Teils der russische"!
Flotte das schöne Traumbild von der Vereinigung Festeuropas gegen England
zerronnen ist, von dem noch vor nicht langer Zeit der leider für Deutschlands
Seemachtsentwicklung viel zu früh gestorbne flottenfreundliche Reichstagsabge¬
ordnete Dr. Lieber sehr verständig schwärmte. Um so nötiger ist es, daß wir
andern Dr. Liebers Mahnruf nicht vergessen: "Die Waffen entscheiden über die
Welt, und nicht die Überlegenheit der Kultur, sondern Streitbarkeit und Sinnes¬
einigkeit erhalten die Völker!"

Wie traurig aber sieht es heutzutage bei uns mit der Sinneseinigkeit
aus! Gerade die berufnen Verkündiger christlicher Liebe und Demut benehmen
sich in unserm zwanzigsten Jahrhundert zuweilen fast ebenso kurzsichtig und
unduldsam wie zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges, von dessen Greueln ein
großer Teil in das Schuldbuch zänkischer Theologen aller Richtungen und
Bekenntnisse geschrieben werden kann. Können wir denn im Zeitalter der
Röntgen- und Marconistrahlen nicht mindestens dieselbe Geistes- und Gedanken¬
freiheit beanspruchen und ebensoviel Eintracht und Frieden zwischen den vielen


Schriften und Gedanken zur Flottcnfrage

fühlbar geworden ist. Mit berechtigtem Stolz aber wird hervorgehoben, daß
unsre Schiffe während der Manöver allen Anforderungen gewachsen waren, und
daß keine ernstlichen Beschädigungen vorgekommen sind. Viel ungünstiger aber
für uns fällt die Betrachtung über die Fortschritte der fremden Kriegsflotten
aus, insbesondre der Stärkevergleich der fünf Seemächte für die Jahre 1904
und 1908. Namentlich England und die Vereinigten Staaten rüsten ganz ge¬
waltig, so zwar, daß die nordamerikanische Schlachtflotte schon 1908 doppelt
so viele Linienschiffe und dreimal so viele Panzerkreuzer kriegsbereit haben wird
als jetzt. Während unser jetziger Bestand an Linienschiffen und an Panzer¬
kreuzern noch etwas größer als der der nordamerikanischen Marine ist, wird
sich das Verhältnis bis 1908 sehr zu unfern Ungunsten verschieben, und zwar
so weit, daß der nordamerikanische Linienschiffsbestand 1908 nahezu das
Anderthalbfache und der Bestand an Panzerkreuzern sogar das Doppelte des
deutschen — nach der Wasserverdrängung, dem besten Maße, gemessen — sein
wird. Das ist ein geradezu beunruhigender Rückgang in dem Stärkeverhältnis
zwischen uns und den Vereinigten Staaten, der um so schwerer ins Gewicht
fallen wird, je höher der Bund der Landwirte den Schutzzoll auf amerikanisches
Getreide und Fleisch hinaufschraubt. Ein Blinder muß es sehen, daß dieses
Stärkeverhültnis der deutschen Flotte zu den beiden tatkräftigsten Seemächten
nicht im Einklang steht. Nauticus kennzeichnet Deutschlands Stellung dabei
mit folgendem: „Über die Grenzen seiner kontinentalen Großmachtstellung
herausgewachsen und auf das Meer als den Hcmpttrüger seiner Volksernährung
und Volkserhaltung angewiesen, steht es als Seemacht allein und nur auf sich
selbst angewiesen, um sich die mühsam errichteten Grundlagen seiner Volkskraft
und seiner Lebensfähigkeit zu erhalten."

Das Verhältnis der deutschen Flotte zu der englischen ist ungefähr wie
1: 5, wenn man den Bestand an Linienschiffen und großen Kreuzern zusammen¬
rechnet, noch etwas ungünstiger als 1:4, wenn man nur die Linienschiffe
rechnet; das ist um so unerfreulicher, als seit der neuen Freundschaft der
europäischen Westmächte und der Zerstörung des besten Teils der russische«!
Flotte das schöne Traumbild von der Vereinigung Festeuropas gegen England
zerronnen ist, von dem noch vor nicht langer Zeit der leider für Deutschlands
Seemachtsentwicklung viel zu früh gestorbne flottenfreundliche Reichstagsabge¬
ordnete Dr. Lieber sehr verständig schwärmte. Um so nötiger ist es, daß wir
andern Dr. Liebers Mahnruf nicht vergessen: „Die Waffen entscheiden über die
Welt, und nicht die Überlegenheit der Kultur, sondern Streitbarkeit und Sinnes¬
einigkeit erhalten die Völker!"

Wie traurig aber sieht es heutzutage bei uns mit der Sinneseinigkeit
aus! Gerade die berufnen Verkündiger christlicher Liebe und Demut benehmen
sich in unserm zwanzigsten Jahrhundert zuweilen fast ebenso kurzsichtig und
unduldsam wie zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges, von dessen Greueln ein
großer Teil in das Schuldbuch zänkischer Theologen aller Richtungen und
Bekenntnisse geschrieben werden kann. Können wir denn im Zeitalter der
Röntgen- und Marconistrahlen nicht mindestens dieselbe Geistes- und Gedanken¬
freiheit beanspruchen und ebensoviel Eintracht und Frieden zwischen den vielen


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[0268] Schriften und Gedanken zur Flottcnfrage fühlbar geworden ist. Mit berechtigtem Stolz aber wird hervorgehoben, daß unsre Schiffe während der Manöver allen Anforderungen gewachsen waren, und daß keine ernstlichen Beschädigungen vorgekommen sind. Viel ungünstiger aber für uns fällt die Betrachtung über die Fortschritte der fremden Kriegsflotten aus, insbesondre der Stärkevergleich der fünf Seemächte für die Jahre 1904 und 1908. Namentlich England und die Vereinigten Staaten rüsten ganz ge¬ waltig, so zwar, daß die nordamerikanische Schlachtflotte schon 1908 doppelt so viele Linienschiffe und dreimal so viele Panzerkreuzer kriegsbereit haben wird als jetzt. Während unser jetziger Bestand an Linienschiffen und an Panzer¬ kreuzern noch etwas größer als der der nordamerikanischen Marine ist, wird sich das Verhältnis bis 1908 sehr zu unfern Ungunsten verschieben, und zwar so weit, daß der nordamerikanische Linienschiffsbestand 1908 nahezu das Anderthalbfache und der Bestand an Panzerkreuzern sogar das Doppelte des deutschen — nach der Wasserverdrängung, dem besten Maße, gemessen — sein wird. Das ist ein geradezu beunruhigender Rückgang in dem Stärkeverhältnis zwischen uns und den Vereinigten Staaten, der um so schwerer ins Gewicht fallen wird, je höher der Bund der Landwirte den Schutzzoll auf amerikanisches Getreide und Fleisch hinaufschraubt. Ein Blinder muß es sehen, daß dieses Stärkeverhültnis der deutschen Flotte zu den beiden tatkräftigsten Seemächten nicht im Einklang steht. Nauticus kennzeichnet Deutschlands Stellung dabei mit folgendem: „Über die Grenzen seiner kontinentalen Großmachtstellung herausgewachsen und auf das Meer als den Hcmpttrüger seiner Volksernährung und Volkserhaltung angewiesen, steht es als Seemacht allein und nur auf sich selbst angewiesen, um sich die mühsam errichteten Grundlagen seiner Volkskraft und seiner Lebensfähigkeit zu erhalten." Das Verhältnis der deutschen Flotte zu der englischen ist ungefähr wie 1: 5, wenn man den Bestand an Linienschiffen und großen Kreuzern zusammen¬ rechnet, noch etwas ungünstiger als 1:4, wenn man nur die Linienschiffe rechnet; das ist um so unerfreulicher, als seit der neuen Freundschaft der europäischen Westmächte und der Zerstörung des besten Teils der russische«! Flotte das schöne Traumbild von der Vereinigung Festeuropas gegen England zerronnen ist, von dem noch vor nicht langer Zeit der leider für Deutschlands Seemachtsentwicklung viel zu früh gestorbne flottenfreundliche Reichstagsabge¬ ordnete Dr. Lieber sehr verständig schwärmte. Um so nötiger ist es, daß wir andern Dr. Liebers Mahnruf nicht vergessen: „Die Waffen entscheiden über die Welt, und nicht die Überlegenheit der Kultur, sondern Streitbarkeit und Sinnes¬ einigkeit erhalten die Völker!" Wie traurig aber sieht es heutzutage bei uns mit der Sinneseinigkeit aus! Gerade die berufnen Verkündiger christlicher Liebe und Demut benehmen sich in unserm zwanzigsten Jahrhundert zuweilen fast ebenso kurzsichtig und unduldsam wie zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges, von dessen Greueln ein großer Teil in das Schuldbuch zänkischer Theologen aller Richtungen und Bekenntnisse geschrieben werden kann. Können wir denn im Zeitalter der Röntgen- und Marconistrahlen nicht mindestens dieselbe Geistes- und Gedanken¬ freiheit beanspruchen und ebensoviel Eintracht und Frieden zwischen den vielen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/268>, abgerufen am 23.12.2024.