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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

lichen Verhältnisse und dem der verständigem Kameraden. So große Massen zu
einer vierzehntägiger Kündigung zu bereden, wird immer schwer halten, weil sie
sich nur durch Agitation in Bewegung bringen und beherrschen lassen. Agitation
aber drängt immer zur Gewalttat, und der Kontraktbruch ist eine solche. Man
zwingt die Massen damit, die Brücken hinter sich abzubrechen, und gibt sie zugleich
gewissenlos dem Elend preis, denn bei einem solchen Aufstand ist gar kein Zweifel,
das; die Arbeiter -- leider uicht die Veranstalter -- die Kosten tragen. Ob und
welche Verbesserungen sich im Zechenbetrieb etwa durch die Gesetzgebung einführen
lassen, wird bei dieser Gelegenheit sicherlich genau geprüft werden. Ist aber einer¬
seits den Bergarbeitern das Recht zuerkannt, berechtigte Beschwerden auf dem
Wege des Ausstcmds geltend zu machen, so hat andrerseits dem gegenüber die All¬
gemeinheit ein Recht darauf, daß ein solcher Streik, der den Nationalwohlstand
schwer schädigt, weil er viele andre Industrien und ihre Arbeiter in Mitleiden¬
schaft zieht, nicht ohne weiteres leichtfertig und unnötig vom Zaune gebrochen
wird. Es wird deshalb nötig sein, ein Formen zu schaffen, vor dem in Zukunft
Streitigkeiten obligatorisch ausgetragen werden müssen. Ein andauernder Aufstand
der Bergarbeiter könnte ebenso zu einer nationalen Gefahr werden wie ein Auf¬
stand der Eisenbahnarbeiter, nur mit dem Unterschiede, daß bei diesem die Armee
in den Betrieb helfend eingreifen würde. Solche Aufstände können also nicht unter
das Rubrum gewöhnlicher Arbeitseinstellungen fallen und als solche behandelt
werden; sie stellen vielmehr eine nationale Kalamität dar und müssen demgemäß
als solche nach Möglichkeit dnrch vorbeugende Maßnahmen verhindert werden.
Diese Maßnahmen können nur auf dem Gebiete der Gesetzgebung liegen, sie zu
finden ist des Schweißes der Edeln wert.

Liegt es denn zum Beispiel im Interesse dieser um ihr tägliches Brot schwer
ringenden Massen, wenn sich die Zechenverwaltungen in Zukunft, wie es bei vielen
Industrien in England und an einzelnen Stellen auch in Deutschland längst der
Fall ist, auf Kündigungsfristen überhaupt nicht mehr einlassen, sondern den Arbeits¬
vertrag von einer Stunde zur andern für lösbar erklären? Das würde schließlich
die unvermeidliche Folge des Kontraktbrnchs sein. Nicht mit Unrecht wird seit
Dielen Jahren das Schwinden des persönlichen Verhältnisses zwischen dem Unter¬
nehmer und den Arbeitern beklagt. Die vierzehntägige Kündigungsfrist ist noch
ein Nest des alten persönlichen Verhältnisses, an dessen Beseitigung die Gesetzgebung
leider die Hauptschuld trägt. Es mußte den Todesstoß empfangen an dem Tage,
wo dem "Arbeitgeber" der künstlich geschaffne "Arbeitnehmer" -- ein Produkt
der der deutscheu Gesetzgebung eignen juristischen Spitzfindigkeit -- als gleich¬
berechtigt gegenübergestellt wurde. Diese Gleichberechtigung ist erkünstelt und gehört
zu den Schlagwörtern, mit denen wir uns so leicht über Wesen und Bedeutung
der Tatsache" täuschen lassen. Schon in der Bezeichnung "Arbeitgeber" liegt
ausgesprochen, daß der Brodherr doch der gebende Teil ist, wie das seiner geistigen
und wirtschaftlichen Überlegenheit entspricht. Gewiß ist die Industrie nichts ohne
die schaffenden Arme und Hände der Arbeitermassen, aber das führt noch nicht zu
einer "Gleichberechtigung," die erstens überhaupt nicht vorhanden ist, zweitens von
den Massen am allerwenigsten eingehalten wird, wenn sie den im beiderseitigen
Interesse aufgerichteten Schutzdamm der vierzehntägiger Kündigungsfrist ohne
weiteres durchbrechen. Während die Industrie zu ihrem Gedeihen unleugbar des
industriellen Friedens bedarf, sind alle unsre Arbeiterorgauisatiouen anf den
industriellen Krieg zugeschnitten, sozialdemokratische Bataillone, aber nicht Organi¬
sationen für die Blüte schaffender Arbeit. Bismarck hatte seinerzeit gehofft, es
werde möglich sein, den Gedanken der "Berufsgenossenschaft" zu einer die Arbeiter
und die Unternehmer friedlich umfassenden Gemeinschaft des wohl-
verstandnen beiderseitigen Interesses zu entwickeln, aber dieser große Ge¬
danke ist völlig verkümmert und abgestorben, die Berufsgenossenschaften haben sich
mehr und mehr zu bureaukratischen Einrichtungen ausgebaut, bei denen "der Kampf


Maßgebliches und Unmaßgebliches

lichen Verhältnisse und dem der verständigem Kameraden. So große Massen zu
einer vierzehntägiger Kündigung zu bereden, wird immer schwer halten, weil sie
sich nur durch Agitation in Bewegung bringen und beherrschen lassen. Agitation
aber drängt immer zur Gewalttat, und der Kontraktbruch ist eine solche. Man
zwingt die Massen damit, die Brücken hinter sich abzubrechen, und gibt sie zugleich
gewissenlos dem Elend preis, denn bei einem solchen Aufstand ist gar kein Zweifel,
das; die Arbeiter — leider uicht die Veranstalter — die Kosten tragen. Ob und
welche Verbesserungen sich im Zechenbetrieb etwa durch die Gesetzgebung einführen
lassen, wird bei dieser Gelegenheit sicherlich genau geprüft werden. Ist aber einer¬
seits den Bergarbeitern das Recht zuerkannt, berechtigte Beschwerden auf dem
Wege des Ausstcmds geltend zu machen, so hat andrerseits dem gegenüber die All¬
gemeinheit ein Recht darauf, daß ein solcher Streik, der den Nationalwohlstand
schwer schädigt, weil er viele andre Industrien und ihre Arbeiter in Mitleiden¬
schaft zieht, nicht ohne weiteres leichtfertig und unnötig vom Zaune gebrochen
wird. Es wird deshalb nötig sein, ein Formen zu schaffen, vor dem in Zukunft
Streitigkeiten obligatorisch ausgetragen werden müssen. Ein andauernder Aufstand
der Bergarbeiter könnte ebenso zu einer nationalen Gefahr werden wie ein Auf¬
stand der Eisenbahnarbeiter, nur mit dem Unterschiede, daß bei diesem die Armee
in den Betrieb helfend eingreifen würde. Solche Aufstände können also nicht unter
das Rubrum gewöhnlicher Arbeitseinstellungen fallen und als solche behandelt
werden; sie stellen vielmehr eine nationale Kalamität dar und müssen demgemäß
als solche nach Möglichkeit dnrch vorbeugende Maßnahmen verhindert werden.
Diese Maßnahmen können nur auf dem Gebiete der Gesetzgebung liegen, sie zu
finden ist des Schweißes der Edeln wert.

Liegt es denn zum Beispiel im Interesse dieser um ihr tägliches Brot schwer
ringenden Massen, wenn sich die Zechenverwaltungen in Zukunft, wie es bei vielen
Industrien in England und an einzelnen Stellen auch in Deutschland längst der
Fall ist, auf Kündigungsfristen überhaupt nicht mehr einlassen, sondern den Arbeits¬
vertrag von einer Stunde zur andern für lösbar erklären? Das würde schließlich
die unvermeidliche Folge des Kontraktbrnchs sein. Nicht mit Unrecht wird seit
Dielen Jahren das Schwinden des persönlichen Verhältnisses zwischen dem Unter¬
nehmer und den Arbeitern beklagt. Die vierzehntägige Kündigungsfrist ist noch
ein Nest des alten persönlichen Verhältnisses, an dessen Beseitigung die Gesetzgebung
leider die Hauptschuld trägt. Es mußte den Todesstoß empfangen an dem Tage,
wo dem „Arbeitgeber" der künstlich geschaffne „Arbeitnehmer" — ein Produkt
der der deutscheu Gesetzgebung eignen juristischen Spitzfindigkeit — als gleich¬
berechtigt gegenübergestellt wurde. Diese Gleichberechtigung ist erkünstelt und gehört
zu den Schlagwörtern, mit denen wir uns so leicht über Wesen und Bedeutung
der Tatsache» täuschen lassen. Schon in der Bezeichnung „Arbeitgeber" liegt
ausgesprochen, daß der Brodherr doch der gebende Teil ist, wie das seiner geistigen
und wirtschaftlichen Überlegenheit entspricht. Gewiß ist die Industrie nichts ohne
die schaffenden Arme und Hände der Arbeitermassen, aber das führt noch nicht zu
einer „Gleichberechtigung," die erstens überhaupt nicht vorhanden ist, zweitens von
den Massen am allerwenigsten eingehalten wird, wenn sie den im beiderseitigen
Interesse aufgerichteten Schutzdamm der vierzehntägiger Kündigungsfrist ohne
weiteres durchbrechen. Während die Industrie zu ihrem Gedeihen unleugbar des
industriellen Friedens bedarf, sind alle unsre Arbeiterorgauisatiouen anf den
industriellen Krieg zugeschnitten, sozialdemokratische Bataillone, aber nicht Organi¬
sationen für die Blüte schaffender Arbeit. Bismarck hatte seinerzeit gehofft, es
werde möglich sein, den Gedanken der „Berufsgenossenschaft" zu einer die Arbeiter
und die Unternehmer friedlich umfassenden Gemeinschaft des wohl-
verstandnen beiderseitigen Interesses zu entwickeln, aber dieser große Ge¬
danke ist völlig verkümmert und abgestorben, die Berufsgenossenschaften haben sich
mehr und mehr zu bureaukratischen Einrichtungen ausgebaut, bei denen „der Kampf


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[0247] Maßgebliches und Unmaßgebliches lichen Verhältnisse und dem der verständigem Kameraden. So große Massen zu einer vierzehntägiger Kündigung zu bereden, wird immer schwer halten, weil sie sich nur durch Agitation in Bewegung bringen und beherrschen lassen. Agitation aber drängt immer zur Gewalttat, und der Kontraktbruch ist eine solche. Man zwingt die Massen damit, die Brücken hinter sich abzubrechen, und gibt sie zugleich gewissenlos dem Elend preis, denn bei einem solchen Aufstand ist gar kein Zweifel, das; die Arbeiter — leider uicht die Veranstalter — die Kosten tragen. Ob und welche Verbesserungen sich im Zechenbetrieb etwa durch die Gesetzgebung einführen lassen, wird bei dieser Gelegenheit sicherlich genau geprüft werden. Ist aber einer¬ seits den Bergarbeitern das Recht zuerkannt, berechtigte Beschwerden auf dem Wege des Ausstcmds geltend zu machen, so hat andrerseits dem gegenüber die All¬ gemeinheit ein Recht darauf, daß ein solcher Streik, der den Nationalwohlstand schwer schädigt, weil er viele andre Industrien und ihre Arbeiter in Mitleiden¬ schaft zieht, nicht ohne weiteres leichtfertig und unnötig vom Zaune gebrochen wird. Es wird deshalb nötig sein, ein Formen zu schaffen, vor dem in Zukunft Streitigkeiten obligatorisch ausgetragen werden müssen. Ein andauernder Aufstand der Bergarbeiter könnte ebenso zu einer nationalen Gefahr werden wie ein Auf¬ stand der Eisenbahnarbeiter, nur mit dem Unterschiede, daß bei diesem die Armee in den Betrieb helfend eingreifen würde. Solche Aufstände können also nicht unter das Rubrum gewöhnlicher Arbeitseinstellungen fallen und als solche behandelt werden; sie stellen vielmehr eine nationale Kalamität dar und müssen demgemäß als solche nach Möglichkeit dnrch vorbeugende Maßnahmen verhindert werden. Diese Maßnahmen können nur auf dem Gebiete der Gesetzgebung liegen, sie zu finden ist des Schweißes der Edeln wert. Liegt es denn zum Beispiel im Interesse dieser um ihr tägliches Brot schwer ringenden Massen, wenn sich die Zechenverwaltungen in Zukunft, wie es bei vielen Industrien in England und an einzelnen Stellen auch in Deutschland längst der Fall ist, auf Kündigungsfristen überhaupt nicht mehr einlassen, sondern den Arbeits¬ vertrag von einer Stunde zur andern für lösbar erklären? Das würde schließlich die unvermeidliche Folge des Kontraktbrnchs sein. Nicht mit Unrecht wird seit Dielen Jahren das Schwinden des persönlichen Verhältnisses zwischen dem Unter¬ nehmer und den Arbeitern beklagt. Die vierzehntägige Kündigungsfrist ist noch ein Nest des alten persönlichen Verhältnisses, an dessen Beseitigung die Gesetzgebung leider die Hauptschuld trägt. Es mußte den Todesstoß empfangen an dem Tage, wo dem „Arbeitgeber" der künstlich geschaffne „Arbeitnehmer" — ein Produkt der der deutscheu Gesetzgebung eignen juristischen Spitzfindigkeit — als gleich¬ berechtigt gegenübergestellt wurde. Diese Gleichberechtigung ist erkünstelt und gehört zu den Schlagwörtern, mit denen wir uns so leicht über Wesen und Bedeutung der Tatsache» täuschen lassen. Schon in der Bezeichnung „Arbeitgeber" liegt ausgesprochen, daß der Brodherr doch der gebende Teil ist, wie das seiner geistigen und wirtschaftlichen Überlegenheit entspricht. Gewiß ist die Industrie nichts ohne die schaffenden Arme und Hände der Arbeitermassen, aber das führt noch nicht zu einer „Gleichberechtigung," die erstens überhaupt nicht vorhanden ist, zweitens von den Massen am allerwenigsten eingehalten wird, wenn sie den im beiderseitigen Interesse aufgerichteten Schutzdamm der vierzehntägiger Kündigungsfrist ohne weiteres durchbrechen. Während die Industrie zu ihrem Gedeihen unleugbar des industriellen Friedens bedarf, sind alle unsre Arbeiterorgauisatiouen anf den industriellen Krieg zugeschnitten, sozialdemokratische Bataillone, aber nicht Organi¬ sationen für die Blüte schaffender Arbeit. Bismarck hatte seinerzeit gehofft, es werde möglich sein, den Gedanken der „Berufsgenossenschaft" zu einer die Arbeiter und die Unternehmer friedlich umfassenden Gemeinschaft des wohl- verstandnen beiderseitigen Interesses zu entwickeln, aber dieser große Ge¬ danke ist völlig verkümmert und abgestorben, die Berufsgenossenschaften haben sich mehr und mehr zu bureaukratischen Einrichtungen ausgebaut, bei denen „der Kampf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/247>, abgerufen am 22.12.2024.