Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.Erinnerungen einer Lehrerin Verhältnisse unsrer Kinder aber lassen ein feines Schamgefühl nicht aufkommen. Zum Schluß noch ein komisches Badeerlebnis. Eines Tages klopft es während Außer der Badeeinrichtung 'gibt es noch eine andre, ebenfalls wenig be¬ Wie die Suppe den Kindern mundet, erfährt man daraus, daß oft trotz Auf Generalversammlungen wie auch bei sonstigen Gelegenheiten hat der Grenzboten I 1905 29
Erinnerungen einer Lehrerin Verhältnisse unsrer Kinder aber lassen ein feines Schamgefühl nicht aufkommen. Zum Schluß noch ein komisches Badeerlebnis. Eines Tages klopft es während Außer der Badeeinrichtung 'gibt es noch eine andre, ebenfalls wenig be¬ Wie die Suppe den Kindern mundet, erfährt man daraus, daß oft trotz Auf Generalversammlungen wie auch bei sonstigen Gelegenheiten hat der Grenzboten I 1905 29
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0221" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/87699"/> <fw type="header" place="top"> Erinnerungen einer Lehrerin</fw><lb/> <p xml:id="ID_891" prev="#ID_890"> Verhältnisse unsrer Kinder aber lassen ein feines Schamgefühl nicht aufkommen.<lb/> Sie sind ein Massen-An- und Ausziehn gewöhnt, und besonders unsre kleinen<lb/> sieben- bis achtjährigen Mädchen laufen beim Baden mit paradiesischer Unschuld<lb/> im Evakostüm herum.</p><lb/> <p xml:id="ID_892"> Zum Schluß noch ein komisches Badeerlebnis. Eines Tages klopft es während<lb/> des Unterrichts an meine Tür. Ich öffne, ein biedrer, nach Leim riechender<lb/> Tischler steht vor mir: „Ich komme wejen des Badens, ich will Sie nur jleech<lb/> sagen, meene Kieme habe nich mit." Ich weise darauf hin, daß sie doch kern¬<lb/> gesund sei, und erkundige mich nach seinen Gründen. Da antwortet der biedere<lb/> Mann im Brustton der Überzeugung: „Meer Jroßvater, Vater un ich habbn<lb/> nich jehabt, foljlich — (längre Pause) — braucht meene Kieme ooch nich zu<lb/> hättn."</p><lb/> <p xml:id="ID_893"> Außer der Badeeinrichtung 'gibt es noch eine andre, ebenfalls wenig be¬<lb/> kannte Fürsorge der Schule, nämlich die Austeilung warmen Frühstücks an be¬<lb/> dürftige Kinder in der Zeit vom 1. Dezember bis zum 1. März. Diese für die<lb/> Großstädte nicht genug zu schätzende Wohltat gilt nicht als Armenunterstützung,<lb/> hat also für die Eltern keine mit solcher verbundnen Folgen. Die Aufforderungen,<lb/> sich bei den betreffenden Rektoren zu melden, ergehn durch die Zeitungen und<lb/> durch mündliche Mitteilungen an die Kinder. Natürlich melden sich die ärmsten<lb/> Eltern, dann aber auch Mütter, die der Beruf (als Waschfrau usw.) schon vor<lb/> dem Aufstehn der Kleinen aus dem Hause führt, die also ihren Kindern vor<lb/> der Schule kein warmes Getränk geben können. Der Rektor schickt den Ordi¬<lb/> narien die Namen der Gemeldeten und vorgedruckte Zettel. Diese Zettel werdeu<lb/> vom Ordinarius ausgefüllt, wohl auch mit einer empfehlenden Bemerkung ver¬<lb/> sehen und gehn dann an den Armenpfleger. Dieser stellt die Bedürftigkeit der<lb/> Familie fest, und die Zettel kommen mit einem „bedürftig" oder „nicht bedürftig"<lb/> an den Ordinarius zurück. Darauf wird eine Marke verteilt, die die Kinder<lb/> bei dem Genüsse des Frühstücks vorzeigen müssen. Das Frühstück besteht aus<lb/> einer Roggenmehlsuppe und einem trocknen Brötchen. In welchen Quantitäten<lb/> die Suppe gekocht wird, beweisen am besten folgende Zahlen: In diesem Winter<lb/> erhielten 385 Kinder täglich Frühstück (unsre Schule hat etwa 2600 Kinder).<lb/> Zu diesem wurden dreizehn Pfund Mehl, drei Pfund Talg und ebensoviele<lb/> Pfund Salz verbraucht. Die Austeilung erfolgt eine halbe Stunde vor Beginn<lb/> des Unterrichts in den Kellerräumen der Schule durch den Hausmann unter der<lb/> Inspektion eines Lehrers.</p><lb/> <p xml:id="ID_894"> Wie die Suppe den Kindern mundet, erfährt man daraus, daß oft trotz<lb/> strengem Verbot Marken von einem Kinde an ein andres gegeben werden, damit<lb/> auch dieses unrechtmäßigerweise davon genieße. Mir wäre es lieber, wenn man<lb/> einem solchen verlangenden Kinde auch eine Marke statt der Strafe geben könnte.<lb/> Alle soziale Hilfe ist eben noch Stückwerk.</p><lb/> <p xml:id="ID_895"> Auf Generalversammlungen wie auch bei sonstigen Gelegenheiten hat der<lb/> „Landesverein preußischer Volksschullehrerinnen" auf die ungenügende Vor¬<lb/> bildung der Lehrerinnen zum Volksschuldienste hingewiesen. Die ungenügende<lb/> Vorbildung wird keine einsichtige Lehrerin leugnen, ebensowenig die Notwendig¬<lb/> keit, Seminare für Volksschullehrerinnen zu gründen.</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1905 29</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0221]
Erinnerungen einer Lehrerin
Verhältnisse unsrer Kinder aber lassen ein feines Schamgefühl nicht aufkommen.
Sie sind ein Massen-An- und Ausziehn gewöhnt, und besonders unsre kleinen
sieben- bis achtjährigen Mädchen laufen beim Baden mit paradiesischer Unschuld
im Evakostüm herum.
Zum Schluß noch ein komisches Badeerlebnis. Eines Tages klopft es während
des Unterrichts an meine Tür. Ich öffne, ein biedrer, nach Leim riechender
Tischler steht vor mir: „Ich komme wejen des Badens, ich will Sie nur jleech
sagen, meene Kieme habe nich mit." Ich weise darauf hin, daß sie doch kern¬
gesund sei, und erkundige mich nach seinen Gründen. Da antwortet der biedere
Mann im Brustton der Überzeugung: „Meer Jroßvater, Vater un ich habbn
nich jehabt, foljlich — (längre Pause) — braucht meene Kieme ooch nich zu
hättn."
Außer der Badeeinrichtung 'gibt es noch eine andre, ebenfalls wenig be¬
kannte Fürsorge der Schule, nämlich die Austeilung warmen Frühstücks an be¬
dürftige Kinder in der Zeit vom 1. Dezember bis zum 1. März. Diese für die
Großstädte nicht genug zu schätzende Wohltat gilt nicht als Armenunterstützung,
hat also für die Eltern keine mit solcher verbundnen Folgen. Die Aufforderungen,
sich bei den betreffenden Rektoren zu melden, ergehn durch die Zeitungen und
durch mündliche Mitteilungen an die Kinder. Natürlich melden sich die ärmsten
Eltern, dann aber auch Mütter, die der Beruf (als Waschfrau usw.) schon vor
dem Aufstehn der Kleinen aus dem Hause führt, die also ihren Kindern vor
der Schule kein warmes Getränk geben können. Der Rektor schickt den Ordi¬
narien die Namen der Gemeldeten und vorgedruckte Zettel. Diese Zettel werdeu
vom Ordinarius ausgefüllt, wohl auch mit einer empfehlenden Bemerkung ver¬
sehen und gehn dann an den Armenpfleger. Dieser stellt die Bedürftigkeit der
Familie fest, und die Zettel kommen mit einem „bedürftig" oder „nicht bedürftig"
an den Ordinarius zurück. Darauf wird eine Marke verteilt, die die Kinder
bei dem Genüsse des Frühstücks vorzeigen müssen. Das Frühstück besteht aus
einer Roggenmehlsuppe und einem trocknen Brötchen. In welchen Quantitäten
die Suppe gekocht wird, beweisen am besten folgende Zahlen: In diesem Winter
erhielten 385 Kinder täglich Frühstück (unsre Schule hat etwa 2600 Kinder).
Zu diesem wurden dreizehn Pfund Mehl, drei Pfund Talg und ebensoviele
Pfund Salz verbraucht. Die Austeilung erfolgt eine halbe Stunde vor Beginn
des Unterrichts in den Kellerräumen der Schule durch den Hausmann unter der
Inspektion eines Lehrers.
Wie die Suppe den Kindern mundet, erfährt man daraus, daß oft trotz
strengem Verbot Marken von einem Kinde an ein andres gegeben werden, damit
auch dieses unrechtmäßigerweise davon genieße. Mir wäre es lieber, wenn man
einem solchen verlangenden Kinde auch eine Marke statt der Strafe geben könnte.
Alle soziale Hilfe ist eben noch Stückwerk.
Auf Generalversammlungen wie auch bei sonstigen Gelegenheiten hat der
„Landesverein preußischer Volksschullehrerinnen" auf die ungenügende Vor¬
bildung der Lehrerinnen zum Volksschuldienste hingewiesen. Die ungenügende
Vorbildung wird keine einsichtige Lehrerin leugnen, ebensowenig die Notwendig¬
keit, Seminare für Volksschullehrerinnen zu gründen.
Grenzboten I 1905 29
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