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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Erinnerungen einer Lehrerin

Daß Frankreich hier wie so oft auch für uns die Spenderin gewesen ist,
darf uns nicht peinlich berühren. Wenn auch der gesamte mittelalterliche
Motivenschatz zuerst in Frankreich literarisch verwertet und von den deutschen
Dichtern dann benutzt worden ist, von Tristan und Isolde hat keiner lieb¬
licher gesungen als Gottfried von Straßburg, Wolframs Tagelieder wissen
dem Trennungsschmerz zweier Liebenden noch viel beredter" Ausdruck zu
geben als viele seiner provenzalischen Vorbilder, sein Parzival läßt die
französische Quelle weit hinter sich zurück, ja sogar im Minneliede ist keinem
Welschen der Ausdruck inniger Liebe, die sich mit treuherziger Schalkheit
paart, so gut gelungen wie unserm Herrn Walter von der Vogelweide in

s^nem


llnäor an-r Iwan-n, im dor Iisiäv
Os. unssr "vsior hotes pas --

Gleichwohl wird man sich gern in dem "altertümlichen Gärtlein" des französischen
Minnesanges ergehn. Wenn ich Schmellers Urteil über die Carmina Bnrana
mit einer geringfügigen Änderung auf die ersten Blüten der Frühlingszeit des
französischen Minnesanges übertragen darf, so möchte ich sagen: Wie sehr
verschieden diese Blumen seien an Farbe und innerm Wert, ein eigentümlicher
Reiz, der ihnen unverkümmert bleibt, liegt darin, daß sie lebendiges Zeugnis
geben von der Weise, in der man sich vor mehr als acht Jahrhunderten
klagend oder jubelnd ausgesprochen hat über Gefühle, Freuden und Leiden, die
ein altes Herkommen sind und ein ewiges Dableiben unter den Kindern der
Menschen.




Erinnerungen einer Lehrerin

-MM"!N sechs Dienstjahren glaube ich mir ein begründetes Urteil über
die Volksschule verschafft zu haben, und ich glaube damit auch
vor die Öffentlichkeit treten zu können. Denn ich meine, wie das
Kind in den ersten Lebensjahren die reichsten Erfahrungen sammelt,
! so auch der Lehrer in den ersten Dienstjahren. Ich bin überzeugt,
daß mir sogar dreißig noch kommende Arbeitsjahre nicht mehr so viel geben
könnten wie die vergangnen sechs. Ich will aber keine wissenschaftliche, weder
"hochpädagvgische" Abhandlung über die Volksschule, noch über den Unterricht
darin schreiben, sondern schlicht und einfach und ganz persönlich nur das, was
ich erlebt, gesehen, erfahren und beobachtet habe. Ich will auch keine typische
Persönlichkeit einer Lehrerin zeichnen, darum kann ich allen Volksschullehrerinnen
oder andern Personen, die sich an meinen Ausführungen ärgern sollten, zum
Tröste sagen, daß dem Folgenden alle Vorzüge aber auch alle Nachteile einer
rein persönlichen Meinung anhaften werden.

Wenn ich an das erste dieser Jahre zurückdenke, so drängt sich in den
Vordergrund der Erinnerungen die Einführung des Badens an unsrer Schule.
Es war die erste Schule unsrer Stadt, um der das Baden versucht werden sollte.


Erinnerungen einer Lehrerin

Daß Frankreich hier wie so oft auch für uns die Spenderin gewesen ist,
darf uns nicht peinlich berühren. Wenn auch der gesamte mittelalterliche
Motivenschatz zuerst in Frankreich literarisch verwertet und von den deutschen
Dichtern dann benutzt worden ist, von Tristan und Isolde hat keiner lieb¬
licher gesungen als Gottfried von Straßburg, Wolframs Tagelieder wissen
dem Trennungsschmerz zweier Liebenden noch viel beredter» Ausdruck zu
geben als viele seiner provenzalischen Vorbilder, sein Parzival läßt die
französische Quelle weit hinter sich zurück, ja sogar im Minneliede ist keinem
Welschen der Ausdruck inniger Liebe, die sich mit treuherziger Schalkheit
paart, so gut gelungen wie unserm Herrn Walter von der Vogelweide in

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llnäor an-r Iwan-n, im dor Iisiäv
Os. unssr «vsior hotes pas —

Gleichwohl wird man sich gern in dem „altertümlichen Gärtlein" des französischen
Minnesanges ergehn. Wenn ich Schmellers Urteil über die Carmina Bnrana
mit einer geringfügigen Änderung auf die ersten Blüten der Frühlingszeit des
französischen Minnesanges übertragen darf, so möchte ich sagen: Wie sehr
verschieden diese Blumen seien an Farbe und innerm Wert, ein eigentümlicher
Reiz, der ihnen unverkümmert bleibt, liegt darin, daß sie lebendiges Zeugnis
geben von der Weise, in der man sich vor mehr als acht Jahrhunderten
klagend oder jubelnd ausgesprochen hat über Gefühle, Freuden und Leiden, die
ein altes Herkommen sind und ein ewiges Dableiben unter den Kindern der
Menschen.




Erinnerungen einer Lehrerin

-MM"!N sechs Dienstjahren glaube ich mir ein begründetes Urteil über
die Volksschule verschafft zu haben, und ich glaube damit auch
vor die Öffentlichkeit treten zu können. Denn ich meine, wie das
Kind in den ersten Lebensjahren die reichsten Erfahrungen sammelt,
! so auch der Lehrer in den ersten Dienstjahren. Ich bin überzeugt,
daß mir sogar dreißig noch kommende Arbeitsjahre nicht mehr so viel geben
könnten wie die vergangnen sechs. Ich will aber keine wissenschaftliche, weder
„hochpädagvgische" Abhandlung über die Volksschule, noch über den Unterricht
darin schreiben, sondern schlicht und einfach und ganz persönlich nur das, was
ich erlebt, gesehen, erfahren und beobachtet habe. Ich will auch keine typische
Persönlichkeit einer Lehrerin zeichnen, darum kann ich allen Volksschullehrerinnen
oder andern Personen, die sich an meinen Ausführungen ärgern sollten, zum
Tröste sagen, daß dem Folgenden alle Vorzüge aber auch alle Nachteile einer
rein persönlichen Meinung anhaften werden.

Wenn ich an das erste dieser Jahre zurückdenke, so drängt sich in den
Vordergrund der Erinnerungen die Einführung des Badens an unsrer Schule.
Es war die erste Schule unsrer Stadt, um der das Baden versucht werden sollte.


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[0218] Erinnerungen einer Lehrerin Daß Frankreich hier wie so oft auch für uns die Spenderin gewesen ist, darf uns nicht peinlich berühren. Wenn auch der gesamte mittelalterliche Motivenschatz zuerst in Frankreich literarisch verwertet und von den deutschen Dichtern dann benutzt worden ist, von Tristan und Isolde hat keiner lieb¬ licher gesungen als Gottfried von Straßburg, Wolframs Tagelieder wissen dem Trennungsschmerz zweier Liebenden noch viel beredter» Ausdruck zu geben als viele seiner provenzalischen Vorbilder, sein Parzival läßt die französische Quelle weit hinter sich zurück, ja sogar im Minneliede ist keinem Welschen der Ausdruck inniger Liebe, die sich mit treuherziger Schalkheit paart, so gut gelungen wie unserm Herrn Walter von der Vogelweide in s^nem llnäor an-r Iwan-n, im dor Iisiäv Os. unssr «vsior hotes pas — Gleichwohl wird man sich gern in dem „altertümlichen Gärtlein" des französischen Minnesanges ergehn. Wenn ich Schmellers Urteil über die Carmina Bnrana mit einer geringfügigen Änderung auf die ersten Blüten der Frühlingszeit des französischen Minnesanges übertragen darf, so möchte ich sagen: Wie sehr verschieden diese Blumen seien an Farbe und innerm Wert, ein eigentümlicher Reiz, der ihnen unverkümmert bleibt, liegt darin, daß sie lebendiges Zeugnis geben von der Weise, in der man sich vor mehr als acht Jahrhunderten klagend oder jubelnd ausgesprochen hat über Gefühle, Freuden und Leiden, die ein altes Herkommen sind und ein ewiges Dableiben unter den Kindern der Menschen. Erinnerungen einer Lehrerin -MM"!N sechs Dienstjahren glaube ich mir ein begründetes Urteil über die Volksschule verschafft zu haben, und ich glaube damit auch vor die Öffentlichkeit treten zu können. Denn ich meine, wie das Kind in den ersten Lebensjahren die reichsten Erfahrungen sammelt, ! so auch der Lehrer in den ersten Dienstjahren. Ich bin überzeugt, daß mir sogar dreißig noch kommende Arbeitsjahre nicht mehr so viel geben könnten wie die vergangnen sechs. Ich will aber keine wissenschaftliche, weder „hochpädagvgische" Abhandlung über die Volksschule, noch über den Unterricht darin schreiben, sondern schlicht und einfach und ganz persönlich nur das, was ich erlebt, gesehen, erfahren und beobachtet habe. Ich will auch keine typische Persönlichkeit einer Lehrerin zeichnen, darum kann ich allen Volksschullehrerinnen oder andern Personen, die sich an meinen Ausführungen ärgern sollten, zum Tröste sagen, daß dem Folgenden alle Vorzüge aber auch alle Nachteile einer rein persönlichen Meinung anhaften werden. Wenn ich an das erste dieser Jahre zurückdenke, so drängt sich in den Vordergrund der Erinnerungen die Einführung des Badens an unsrer Schule. Es war die erste Schule unsrer Stadt, um der das Baden versucht werden sollte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/218>, abgerufen am 23.07.2024.