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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Minnesangs Frühling in Frankreich

an der Gestaltung der ältesten Liebeslieder gehabt zu haben, deren Einfluß
auf den Minnesang wir nachher erörtern wollen.

In Poitou und Limousin sangen die Frauen schon in alten Zeiten bei
ihren weiblichen Handarbeiten, beim Weben, Sticken, Nähen und Spinnen
Lieder, in denen man von zwei Liebenden erzählte, die nach Überwindung der
verschiedensten Hindernisse glücklich vereinigt werden. Am meisten aber fühlte
sich das Volk zu frohen Liedern angeregt, wenn der Winter geschwunden war,
und der Frühling seinen Einzug gehalten hatte. Da feierte man das alt¬
germanische Maifest durch Spiel und Tanz unter dem Maibaum. Neues
Leben -- neues Lieben: der uralte Parallelismus zwischen Natur- und
Seelenleben findet in diesen ältesten rein volkstümlichen Minneliedern seinen
Ausdruck.

Nicht nur junge Mädchen, sondern auch Frauen sprangen den Neigen
mit. Eine gewisse Maifreiheit galt als Gesetz. Die wohlgemeinten Ratschläge
der sorgenden Mutter, besonders aber die Warnungen und Drohungen des
Ehemanns werden in den Wind geschlagen. Die Ehe bedeutete ja schon da¬
mals nicht überall die Fülle des erträumten Glücks, und die vliansou <1s asi
lus-riss, das Lied der unglücklich Verheirateten, gehört neben den erwähnten
Romanzen und Frühlingstanzliedern ebenfalls zu den volkstümlichen Ge¬
sängen, die, wie wir sehen werden, den Minnesang im engern Sinne mächtig
beeinflussen sollten.

In den letztgenannten Liedern klagt zum Beispiel ein junge, liebebedürf-

Frau.

Über ihren Entschluß läßt sie uns nicht im Zweifel:

Bin zu lang ihm treu gewesen.
Jetzt mach ich kein Federlesen.
Meine Rache soll den Bösen
Ereilen.
Warum will mein Mann mir Schläge
Erteilen? (Abers, von Suchter)

Die vornehmern Kreise standen diesen Belustigungen des Niedern Volks
nicht so fern. Städter und Ritter werden hin und wieder dem Neigen zu¬
geschaut, vielleicht gar diese oder jene Dorsschöne herumgeschwenkt haben.
Auch auf galante Abenteuer ging man aus.

Wir kennen eine Reihe von Pastourellen (allerdings meist spätem Datums),
in denen ein Ritter einer ländlichen Dirne, einer Schäferin, begegnet, deren
Liebe er begehrt. Er wird beständig barsch abgewiesen. Auch Geschenke, die
er ihr anbietet, vermögen nichts. Ja er wird sogar von der spröden Schönen


Minnesangs Frühling in Frankreich

an der Gestaltung der ältesten Liebeslieder gehabt zu haben, deren Einfluß
auf den Minnesang wir nachher erörtern wollen.

In Poitou und Limousin sangen die Frauen schon in alten Zeiten bei
ihren weiblichen Handarbeiten, beim Weben, Sticken, Nähen und Spinnen
Lieder, in denen man von zwei Liebenden erzählte, die nach Überwindung der
verschiedensten Hindernisse glücklich vereinigt werden. Am meisten aber fühlte
sich das Volk zu frohen Liedern angeregt, wenn der Winter geschwunden war,
und der Frühling seinen Einzug gehalten hatte. Da feierte man das alt¬
germanische Maifest durch Spiel und Tanz unter dem Maibaum. Neues
Leben — neues Lieben: der uralte Parallelismus zwischen Natur- und
Seelenleben findet in diesen ältesten rein volkstümlichen Minneliedern seinen
Ausdruck.

Nicht nur junge Mädchen, sondern auch Frauen sprangen den Neigen
mit. Eine gewisse Maifreiheit galt als Gesetz. Die wohlgemeinten Ratschläge
der sorgenden Mutter, besonders aber die Warnungen und Drohungen des
Ehemanns werden in den Wind geschlagen. Die Ehe bedeutete ja schon da¬
mals nicht überall die Fülle des erträumten Glücks, und die vliansou <1s asi
lus-riss, das Lied der unglücklich Verheirateten, gehört neben den erwähnten
Romanzen und Frühlingstanzliedern ebenfalls zu den volkstümlichen Ge¬
sängen, die, wie wir sehen werden, den Minnesang im engern Sinne mächtig
beeinflussen sollten.

In den letztgenannten Liedern klagt zum Beispiel ein junge, liebebedürf-

Frau.

Über ihren Entschluß läßt sie uns nicht im Zweifel:

Bin zu lang ihm treu gewesen.
Jetzt mach ich kein Federlesen.
Meine Rache soll den Bösen
Ereilen.
Warum will mein Mann mir Schläge
Erteilen? (Abers, von Suchter)

Die vornehmern Kreise standen diesen Belustigungen des Niedern Volks
nicht so fern. Städter und Ritter werden hin und wieder dem Neigen zu¬
geschaut, vielleicht gar diese oder jene Dorsschöne herumgeschwenkt haben.
Auch auf galante Abenteuer ging man aus.

Wir kennen eine Reihe von Pastourellen (allerdings meist spätem Datums),
in denen ein Ritter einer ländlichen Dirne, einer Schäferin, begegnet, deren
Liebe er begehrt. Er wird beständig barsch abgewiesen. Auch Geschenke, die
er ihr anbietet, vermögen nichts. Ja er wird sogar von der spröden Schönen


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[0209] Minnesangs Frühling in Frankreich an der Gestaltung der ältesten Liebeslieder gehabt zu haben, deren Einfluß auf den Minnesang wir nachher erörtern wollen. In Poitou und Limousin sangen die Frauen schon in alten Zeiten bei ihren weiblichen Handarbeiten, beim Weben, Sticken, Nähen und Spinnen Lieder, in denen man von zwei Liebenden erzählte, die nach Überwindung der verschiedensten Hindernisse glücklich vereinigt werden. Am meisten aber fühlte sich das Volk zu frohen Liedern angeregt, wenn der Winter geschwunden war, und der Frühling seinen Einzug gehalten hatte. Da feierte man das alt¬ germanische Maifest durch Spiel und Tanz unter dem Maibaum. Neues Leben — neues Lieben: der uralte Parallelismus zwischen Natur- und Seelenleben findet in diesen ältesten rein volkstümlichen Minneliedern seinen Ausdruck. Nicht nur junge Mädchen, sondern auch Frauen sprangen den Neigen mit. Eine gewisse Maifreiheit galt als Gesetz. Die wohlgemeinten Ratschläge der sorgenden Mutter, besonders aber die Warnungen und Drohungen des Ehemanns werden in den Wind geschlagen. Die Ehe bedeutete ja schon da¬ mals nicht überall die Fülle des erträumten Glücks, und die vliansou <1s asi lus-riss, das Lied der unglücklich Verheirateten, gehört neben den erwähnten Romanzen und Frühlingstanzliedern ebenfalls zu den volkstümlichen Ge¬ sängen, die, wie wir sehen werden, den Minnesang im engern Sinne mächtig beeinflussen sollten. In den letztgenannten Liedern klagt zum Beispiel ein junge, liebebedürf- Frau. Über ihren Entschluß läßt sie uns nicht im Zweifel: Bin zu lang ihm treu gewesen. Jetzt mach ich kein Federlesen. Meine Rache soll den Bösen Ereilen. Warum will mein Mann mir Schläge Erteilen? (Abers, von Suchter) Die vornehmern Kreise standen diesen Belustigungen des Niedern Volks nicht so fern. Städter und Ritter werden hin und wieder dem Neigen zu¬ geschaut, vielleicht gar diese oder jene Dorsschöne herumgeschwenkt haben. Auch auf galante Abenteuer ging man aus. Wir kennen eine Reihe von Pastourellen (allerdings meist spätem Datums), in denen ein Ritter einer ländlichen Dirne, einer Schäferin, begegnet, deren Liebe er begehrt. Er wird beständig barsch abgewiesen. Auch Geschenke, die er ihr anbietet, vermögen nichts. Ja er wird sogar von der spröden Schönen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/209>, abgerufen am 23.07.2024.