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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Minnesangs Frühling in Frankreich

geweckt und aufrechterhalten, daß sie nicht nur Genossen eines Standes, sondern
eines Volkes seien.

In solcher Verfassung hat das Zunftwesen jahrhundertelang gedauert,
ohne jedoch mit der Zeit fortzuschreiten und sich den neuen Verhältnissen an¬
zupassen. Die Formen wurden nur reicher und entarteten zum verschnörkelten
Formelkram; alle Bestimmungen, der Zunftzwang, die Gewerbepolizei der Zünfte,
das Meisterstück usw. erwiesen sich als zweischneidige Waffen. In religiöser
Beziehung grub ihm die Reformation einen Teil des Nährbodens ab, in
politischer tat das das siegreich vordringende Territorialfürstentum. Den Haupt¬
stoß erlitten sie in ihrem Lebensnerv durch den allgemeinen wirtschaftlichen
Stillstand Deutschlands, der sich mehr und mehr zum Rückgang steigerte. Die
Zeiten waren vorbei, wo nach Gustav Freytags Schilderung an einfache Waren
und schmuckloses Gerät Millionen Arbeiter ihre beste Kraft Hingaben mit dem
Gefühl, eine Kunst zu haben, die sie vor den meisten voraus hatten, wo sie als
Bewahrer seiner Geheimnisse, vieler kluger Vorschriften und Handgriffe saßen,
die kein andrer kannte als die Mitglieder ihrer Brüderschaft, und die der übrigen
Welt so unentbehrlich waren, wo sie stolz darauf waren, unter ihren Genoffen
die tüchtigsten zu sein, und wußten, daß ihre Kunst, redlich geübt nach Hand¬
werksbrauch, ihnen ein mannhaftes Leben sichere, Achtung guter Leute, eignen
Haushalt und eine ehrliche Stellung in ihrer Stadt.

Schon im sechzehnten Jahrhundert empfand man die Übelstände; von da
an wurde das Zunftwesen mehr und mehr von allen Weiterschauenden und
Vorwärtsstrebenden verurteilt, sodaß alle ältern Arbeiten darüber wieder und
wieder betonen, man müsse bei seiner Betrachtung die Zeit des Mittelalters,
wo es allerdings nützlich gewesen, und die neuere, in der es schädlich sei,
unterscheiden.

So ist die Form, worin frühere gewerbliche Zustände einen angemessenen
Ausdruck gefunden haben, mit ihnen vergangen, doch geblieben ist der Beitrag,
den das Zunftwesen zur Kulturentwicklung geliefert hat: es verhalf der sittlichen
Idee, die dem Altertum fremd war, zum Siege, daß die freie Arbeit, die Arbeit
der fleißigen Hand auch ihre Ehre hat; es ermöglichte so dem dritten und dem
vierten Stand ein gesundes Leben.




Minnesangs Frühling in Frankreich
R. Uießmann von in Bernlmrg

cum wir Herrn Walter von der Vogelweide um eine Erklärung
der Minne angingen, so sagte er wohl:

Er würde also Minnesang als Liebeslied deuten. Für unfern Zweck
wäre diese Definition etwas zu weit. Heute bezeichnen wir mit Minnesang


Minnesangs Frühling in Frankreich

geweckt und aufrechterhalten, daß sie nicht nur Genossen eines Standes, sondern
eines Volkes seien.

In solcher Verfassung hat das Zunftwesen jahrhundertelang gedauert,
ohne jedoch mit der Zeit fortzuschreiten und sich den neuen Verhältnissen an¬
zupassen. Die Formen wurden nur reicher und entarteten zum verschnörkelten
Formelkram; alle Bestimmungen, der Zunftzwang, die Gewerbepolizei der Zünfte,
das Meisterstück usw. erwiesen sich als zweischneidige Waffen. In religiöser
Beziehung grub ihm die Reformation einen Teil des Nährbodens ab, in
politischer tat das das siegreich vordringende Territorialfürstentum. Den Haupt¬
stoß erlitten sie in ihrem Lebensnerv durch den allgemeinen wirtschaftlichen
Stillstand Deutschlands, der sich mehr und mehr zum Rückgang steigerte. Die
Zeiten waren vorbei, wo nach Gustav Freytags Schilderung an einfache Waren
und schmuckloses Gerät Millionen Arbeiter ihre beste Kraft Hingaben mit dem
Gefühl, eine Kunst zu haben, die sie vor den meisten voraus hatten, wo sie als
Bewahrer seiner Geheimnisse, vieler kluger Vorschriften und Handgriffe saßen,
die kein andrer kannte als die Mitglieder ihrer Brüderschaft, und die der übrigen
Welt so unentbehrlich waren, wo sie stolz darauf waren, unter ihren Genoffen
die tüchtigsten zu sein, und wußten, daß ihre Kunst, redlich geübt nach Hand¬
werksbrauch, ihnen ein mannhaftes Leben sichere, Achtung guter Leute, eignen
Haushalt und eine ehrliche Stellung in ihrer Stadt.

Schon im sechzehnten Jahrhundert empfand man die Übelstände; von da
an wurde das Zunftwesen mehr und mehr von allen Weiterschauenden und
Vorwärtsstrebenden verurteilt, sodaß alle ältern Arbeiten darüber wieder und
wieder betonen, man müsse bei seiner Betrachtung die Zeit des Mittelalters,
wo es allerdings nützlich gewesen, und die neuere, in der es schädlich sei,
unterscheiden.

So ist die Form, worin frühere gewerbliche Zustände einen angemessenen
Ausdruck gefunden haben, mit ihnen vergangen, doch geblieben ist der Beitrag,
den das Zunftwesen zur Kulturentwicklung geliefert hat: es verhalf der sittlichen
Idee, die dem Altertum fremd war, zum Siege, daß die freie Arbeit, die Arbeit
der fleißigen Hand auch ihre Ehre hat; es ermöglichte so dem dritten und dem
vierten Stand ein gesundes Leben.




Minnesangs Frühling in Frankreich
R. Uießmann von in Bernlmrg

cum wir Herrn Walter von der Vogelweide um eine Erklärung
der Minne angingen, so sagte er wohl:

Er würde also Minnesang als Liebeslied deuten. Für unfern Zweck
wäre diese Definition etwas zu weit. Heute bezeichnen wir mit Minnesang


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[0207] Minnesangs Frühling in Frankreich geweckt und aufrechterhalten, daß sie nicht nur Genossen eines Standes, sondern eines Volkes seien. In solcher Verfassung hat das Zunftwesen jahrhundertelang gedauert, ohne jedoch mit der Zeit fortzuschreiten und sich den neuen Verhältnissen an¬ zupassen. Die Formen wurden nur reicher und entarteten zum verschnörkelten Formelkram; alle Bestimmungen, der Zunftzwang, die Gewerbepolizei der Zünfte, das Meisterstück usw. erwiesen sich als zweischneidige Waffen. In religiöser Beziehung grub ihm die Reformation einen Teil des Nährbodens ab, in politischer tat das das siegreich vordringende Territorialfürstentum. Den Haupt¬ stoß erlitten sie in ihrem Lebensnerv durch den allgemeinen wirtschaftlichen Stillstand Deutschlands, der sich mehr und mehr zum Rückgang steigerte. Die Zeiten waren vorbei, wo nach Gustav Freytags Schilderung an einfache Waren und schmuckloses Gerät Millionen Arbeiter ihre beste Kraft Hingaben mit dem Gefühl, eine Kunst zu haben, die sie vor den meisten voraus hatten, wo sie als Bewahrer seiner Geheimnisse, vieler kluger Vorschriften und Handgriffe saßen, die kein andrer kannte als die Mitglieder ihrer Brüderschaft, und die der übrigen Welt so unentbehrlich waren, wo sie stolz darauf waren, unter ihren Genoffen die tüchtigsten zu sein, und wußten, daß ihre Kunst, redlich geübt nach Hand¬ werksbrauch, ihnen ein mannhaftes Leben sichere, Achtung guter Leute, eignen Haushalt und eine ehrliche Stellung in ihrer Stadt. Schon im sechzehnten Jahrhundert empfand man die Übelstände; von da an wurde das Zunftwesen mehr und mehr von allen Weiterschauenden und Vorwärtsstrebenden verurteilt, sodaß alle ältern Arbeiten darüber wieder und wieder betonen, man müsse bei seiner Betrachtung die Zeit des Mittelalters, wo es allerdings nützlich gewesen, und die neuere, in der es schädlich sei, unterscheiden. So ist die Form, worin frühere gewerbliche Zustände einen angemessenen Ausdruck gefunden haben, mit ihnen vergangen, doch geblieben ist der Beitrag, den das Zunftwesen zur Kulturentwicklung geliefert hat: es verhalf der sittlichen Idee, die dem Altertum fremd war, zum Siege, daß die freie Arbeit, die Arbeit der fleißigen Hand auch ihre Ehre hat; es ermöglichte so dem dritten und dem vierten Stand ein gesundes Leben. Minnesangs Frühling in Frankreich R. Uießmann von in Bernlmrg cum wir Herrn Walter von der Vogelweide um eine Erklärung der Minne angingen, so sagte er wohl: Er würde also Minnesang als Liebeslied deuten. Für unfern Zweck wäre diese Definition etwas zu weit. Heute bezeichnen wir mit Minnesang

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/207>, abgerufen am 23.07.2024.