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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Die Mobilmachung von ^370

und mehr ins Hintertreffen. Wie tief ist heute die nationalliberale Partei, die
einstmals die begeisterte Trägerin des Reichsgedankens war, gesunken, seitdem
sie 1879 das Erstgeburtsrecht ihres wohlbegründeten Machtanspruchs, ihrer
Teilnahme an der Regierung um das Linsengericht ihrer Prinzipien preisgegeben
hat, und es ist ganz vergebliche Arbeit, durch eine stärkere Betonung dieser alten
Prinzipien eine Reorganisation der Partei herbeiführen zu wollen. Eine solche
wäre wahrhaftig wünschenswert, denn die Rolle, die heute das liberale Bürger¬
tum im Reichstage spielt, entspricht seiner Bedeutung keineswegs, und doch
wäre das engste Bündnis des Bürgertums mit dem Kaisertum das natürlichste
von der Welt. Aber es wäre nur dann möglich, wenn das Bürgertum wieder
mit voller Energie für die innere Einheit der Nation und ihre äußere Macht¬
stellung einträte, wenn es also im Innern die Beseitigung der zahlreichen
Hindernisse, die dem Zusammenwachsen der Nation zum Beispiel ans den? Ge¬
biete des Verkehrslebens und des Berechtigungswcsens noch entgegenstehn,
und die durch Vereinbarungen zu heben die Einzelregierungen unfähig zu sein
scheinen, offen und nachdrücklich forderte, unter Umständen durch eine Aus¬
dehnung der Reichsgesetzgebung, und wenn es sich nach außen ebenso offen und
nachdrücklich zur Welt- und Kolonialpolitik bekennen wollte. Freilich die un¬
entbehrliche Grundlage für eine solche wäre die Reichsfinanzreform. Es ist doch
auf die Dauer ein unerträglicher und geradezu gefährlicher Zustand, daß das
Reich, seitdem sein Finanzwesen durch das Scheitern des Neichseisenbahnprojekts
und des Tabakmonopols auf einen toten Strang geraten ist, finanziell nicht
auf eigne Füße zu stehn kommt, daß es immer wieder in verstärktem Maße
die Matrikularbeiträge, also die roheste Form der Besteuerung, die nach der
Kopfzahl, in Anspruch nehmen muß, während der Wohlstand des Volks be¬
ständig zunimmt, und die Finanzlage Preußens glänzend ist. Das alte Reich
ist nicht zum wenigsten daran zugrunde gegangen, daß es finanziell nicht
selbständig zu werden vermochte, weil die kurzsichtige Selbstsucht und der Un¬
verstand seiner Glieder es daran verhinderte. Soll sich das im zwanzigsten
Jahrhundert wiederholen?

Männer machen die Geschichte. Solche Männer stehn an der Spitze des
Reichs, nur daß man ihnen fortwährend Steine in den Weg wirft. Aber wo
" sind im heutigen Reichstage Männer, die Geschichte machen?




Die Mobilmachung von ^870

>n der Rede, die der Kriegsminister Generalleutnant von Einem
bei der Enthüllung des Roondenkmcils in Berlin hielt, hob er
hervor, wie Roon oft ausgesprochen habe, daß die Mobil-
inachungstage von 1870 die ruhigsten seines Dienstlebens ge-
I Wesen seien; alle Anordnungen seien so vorbereitet gewesen, daß
die Generalkommandos nicht eine einzige Anfrage an das Kriegsministerium
zu stellen gehabt Hütten. Dieser Ausspruch, der anscheinend so verwegen klingt,


Die Mobilmachung von ^370

und mehr ins Hintertreffen. Wie tief ist heute die nationalliberale Partei, die
einstmals die begeisterte Trägerin des Reichsgedankens war, gesunken, seitdem
sie 1879 das Erstgeburtsrecht ihres wohlbegründeten Machtanspruchs, ihrer
Teilnahme an der Regierung um das Linsengericht ihrer Prinzipien preisgegeben
hat, und es ist ganz vergebliche Arbeit, durch eine stärkere Betonung dieser alten
Prinzipien eine Reorganisation der Partei herbeiführen zu wollen. Eine solche
wäre wahrhaftig wünschenswert, denn die Rolle, die heute das liberale Bürger¬
tum im Reichstage spielt, entspricht seiner Bedeutung keineswegs, und doch
wäre das engste Bündnis des Bürgertums mit dem Kaisertum das natürlichste
von der Welt. Aber es wäre nur dann möglich, wenn das Bürgertum wieder
mit voller Energie für die innere Einheit der Nation und ihre äußere Macht¬
stellung einträte, wenn es also im Innern die Beseitigung der zahlreichen
Hindernisse, die dem Zusammenwachsen der Nation zum Beispiel ans den? Ge¬
biete des Verkehrslebens und des Berechtigungswcsens noch entgegenstehn,
und die durch Vereinbarungen zu heben die Einzelregierungen unfähig zu sein
scheinen, offen und nachdrücklich forderte, unter Umständen durch eine Aus¬
dehnung der Reichsgesetzgebung, und wenn es sich nach außen ebenso offen und
nachdrücklich zur Welt- und Kolonialpolitik bekennen wollte. Freilich die un¬
entbehrliche Grundlage für eine solche wäre die Reichsfinanzreform. Es ist doch
auf die Dauer ein unerträglicher und geradezu gefährlicher Zustand, daß das
Reich, seitdem sein Finanzwesen durch das Scheitern des Neichseisenbahnprojekts
und des Tabakmonopols auf einen toten Strang geraten ist, finanziell nicht
auf eigne Füße zu stehn kommt, daß es immer wieder in verstärktem Maße
die Matrikularbeiträge, also die roheste Form der Besteuerung, die nach der
Kopfzahl, in Anspruch nehmen muß, während der Wohlstand des Volks be¬
ständig zunimmt, und die Finanzlage Preußens glänzend ist. Das alte Reich
ist nicht zum wenigsten daran zugrunde gegangen, daß es finanziell nicht
selbständig zu werden vermochte, weil die kurzsichtige Selbstsucht und der Un¬
verstand seiner Glieder es daran verhinderte. Soll sich das im zwanzigsten
Jahrhundert wiederholen?

Männer machen die Geschichte. Solche Männer stehn an der Spitze des
Reichs, nur daß man ihnen fortwährend Steine in den Weg wirft. Aber wo
» sind im heutigen Reichstage Männer, die Geschichte machen?




Die Mobilmachung von ^870

>n der Rede, die der Kriegsminister Generalleutnant von Einem
bei der Enthüllung des Roondenkmcils in Berlin hielt, hob er
hervor, wie Roon oft ausgesprochen habe, daß die Mobil-
inachungstage von 1870 die ruhigsten seines Dienstlebens ge-
I Wesen seien; alle Anordnungen seien so vorbereitet gewesen, daß
die Generalkommandos nicht eine einzige Anfrage an das Kriegsministerium
zu stellen gehabt Hütten. Dieser Ausspruch, der anscheinend so verwegen klingt,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/20>, abgerufen am 22.12.2024.