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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Im alten Brüssel

den Kopf darüber zerbrochen, wie der düstere Schlupfwinkel armer Lumpensammler
zu dem lieblichen Namen gekommen sein mochte. Sie erfreuten sich ja alle der
duftigsten, poetischsten Bezeichnungen, die unsauber" Höhlen und Gänge des Quartier
des Marolles. Das klang wie Notschreie entbehrender, in Schmutz und Armut
versinkender Menschheit: Palmen-, Kamelien-, Blauveilchengang! Der Sirenengang,
die Gasse des Gebets, des Heiligen GeistesI Fintje selbst wohnte ja im Winden¬
gang. Winden aber sind leichte, feine, wehende Sommerblumen!

Arm in Arm schlenderten die jungen Marolliennes die Hoogstraat hinauf.
Langsam ging Miete, als eile es ihr nicht, heimzukommen; das schöne Gesicht hielt
sie beharrlich gesenkt. Fintjes Augen dagegen suchten hungrig die spärlichen
Himmelsftecken, die gleich hellen Vorhängen die kurzen Seitengassen der Hoogstraat
abschlossen. Miete aber mochte in diese lichten Himmelsausschnitte nicht hineinsehen,
weil in jedem ein großer, dräuender Schatten stand: der Justizpalast. Wie eine
übernatürliche, düstere Erscheinung ragte er in den farbenfrohen Abendhimmel hinein.

Miete hatte einen großen Bruder, der viele Nächte auswärts zubrachte, und
wenn er einmal heimkam, meist eine größere Summe Geldes mitbrachte, obschon
er nirgends in Arbeit stand. Der Stiefvater fragte nicht, woher das Geld käme,
und die Mutter auch nicht, sie waren alle froh darüber. Aber eine böse Ahnung
sagte es Wicken, eines Tags werde der Bruder nicht heimkommen, und jedesmal,
wenn der Justizpalast, wo die Verbrecher gerichtet wurden, ihr vor die Angen kam,
packte sie die Furcht.

Miete war ein schweigsames, nach innen gekehrtes Geschöpf; trotzdem schloß
sich das lebhafte Fintje eng an sie an, es sah mit einer Art scheuer Bewunderung
auf zu ihr, die immer gut blieb und saust und nie böse Worte gab. Miete hatte
sich die Erlaubnis, Madame Görards Atelier besuchen zu dürfen, mühsam erringen
müssen, denn die Mutter hätte es lieber gesehen, wenn die Tochter ihr bei dem
übelriechenden Lumpengeschäft tätig zur Hand gegangen wäre. Die Mutter, alt
und gebückt von den Jahren, war eins der Lumpenweiber, die im Morgengrauen
mit ihrem grauen Sack Brüssels Straßen durchwandern. Hsd js Kssn voääen
su bssQsn? Ihre Stimme klang heiser von dem ewigen eintönigen Ruf. Mieters
kleine Schwester, das Wantje, war der müden Mutter ein Dorn im Auge: noch ein
unnützer Mund weiter zu stopfen! Wantje wurde herumgestoßen und ausgezankt.
Mieter fiel es schwer, das mit anzusehen, weil sie die kleine Schwester mit einer
heißen, mütterlichen Zärtlichkeit liebte. Und ihr höchster Wunsch war nun, es so
weit zu bringen, daß sie einst allein für das Wantje sorgen könnte, und daß sie
dieses einmal mit ihr geborgen in dem Zimmer bei Madame GLrard arbeiten sähe.
Wenn Miete von daheim erzählte, sprach sie nur von dem Wantje, lieber aber hörte
sie Fintje erzählen vom Pouchenellekeller, von der Hexe und vom Marionettenonkelchen.
Fintje, die immer noch bei der Großmutter in dem engen Kellerverschlag schlafen und
des Abends in Oomkes erleuchteter Stube sitzen durfte, kam der Lumpensammlers¬
tochter aus dem Roten Röschengang vor wie eine glückliche junge Prinzessin.
'

Fintje selbst aber wollte noch viel höher hinaus, sie war eine del Trap. Ein
Ungewisses Zukunftsbild schwebte ihr vor, ganz in Duft und Licht gewoben, eine
Vision, wie sie gern in düstern Kellern geboren wird. Das Stillsitzen und Steppen
und Fischbeinannähen im Korsettgeschäft, das bedeutete für sie nur die erste Stufe
auf dem Wege in die Höhe, sicher die langweiligste, geduldheischendste von allen.

Wenn nur bald wieder Kirmes wäre! Wenn nur schon Fastnacht wäre! Wenn
sich nur irgendetwas ereignen wollte! So eilig hatte es Fintje mit dem Leben!
Endlich hatte sie Mieter etwas Neues zu erzählen.

Ein Fremder war zu Papa Toone in die Schenkstube getreten und hatte um
Anstellung bei dessen Theater gebeten. Papa Toone war das Angebot just gelegen
gekommen, weil es ihm bei den Aufführungen an Stimmen fehlte. Der Fremde
nannte sich Jan l'Grand und gab vor, Schauspieler bei einer herumziehenden
Theatertruppe gewesen zu sein, was sein modulationsreiches Organ, seine vornehmen
Bewegungen und sein schriftreines Französisch auch beglaubigten. Er saß viel als


Im alten Brüssel

den Kopf darüber zerbrochen, wie der düstere Schlupfwinkel armer Lumpensammler
zu dem lieblichen Namen gekommen sein mochte. Sie erfreuten sich ja alle der
duftigsten, poetischsten Bezeichnungen, die unsauber» Höhlen und Gänge des Quartier
des Marolles. Das klang wie Notschreie entbehrender, in Schmutz und Armut
versinkender Menschheit: Palmen-, Kamelien-, Blauveilchengang! Der Sirenengang,
die Gasse des Gebets, des Heiligen GeistesI Fintje selbst wohnte ja im Winden¬
gang. Winden aber sind leichte, feine, wehende Sommerblumen!

Arm in Arm schlenderten die jungen Marolliennes die Hoogstraat hinauf.
Langsam ging Miete, als eile es ihr nicht, heimzukommen; das schöne Gesicht hielt
sie beharrlich gesenkt. Fintjes Augen dagegen suchten hungrig die spärlichen
Himmelsftecken, die gleich hellen Vorhängen die kurzen Seitengassen der Hoogstraat
abschlossen. Miete aber mochte in diese lichten Himmelsausschnitte nicht hineinsehen,
weil in jedem ein großer, dräuender Schatten stand: der Justizpalast. Wie eine
übernatürliche, düstere Erscheinung ragte er in den farbenfrohen Abendhimmel hinein.

Miete hatte einen großen Bruder, der viele Nächte auswärts zubrachte, und
wenn er einmal heimkam, meist eine größere Summe Geldes mitbrachte, obschon
er nirgends in Arbeit stand. Der Stiefvater fragte nicht, woher das Geld käme,
und die Mutter auch nicht, sie waren alle froh darüber. Aber eine böse Ahnung
sagte es Wicken, eines Tags werde der Bruder nicht heimkommen, und jedesmal,
wenn der Justizpalast, wo die Verbrecher gerichtet wurden, ihr vor die Angen kam,
packte sie die Furcht.

Miete war ein schweigsames, nach innen gekehrtes Geschöpf; trotzdem schloß
sich das lebhafte Fintje eng an sie an, es sah mit einer Art scheuer Bewunderung
auf zu ihr, die immer gut blieb und saust und nie böse Worte gab. Miete hatte
sich die Erlaubnis, Madame Görards Atelier besuchen zu dürfen, mühsam erringen
müssen, denn die Mutter hätte es lieber gesehen, wenn die Tochter ihr bei dem
übelriechenden Lumpengeschäft tätig zur Hand gegangen wäre. Die Mutter, alt
und gebückt von den Jahren, war eins der Lumpenweiber, die im Morgengrauen
mit ihrem grauen Sack Brüssels Straßen durchwandern. Hsd js Kssn voääen
su bssQsn? Ihre Stimme klang heiser von dem ewigen eintönigen Ruf. Mieters
kleine Schwester, das Wantje, war der müden Mutter ein Dorn im Auge: noch ein
unnützer Mund weiter zu stopfen! Wantje wurde herumgestoßen und ausgezankt.
Mieter fiel es schwer, das mit anzusehen, weil sie die kleine Schwester mit einer
heißen, mütterlichen Zärtlichkeit liebte. Und ihr höchster Wunsch war nun, es so
weit zu bringen, daß sie einst allein für das Wantje sorgen könnte, und daß sie
dieses einmal mit ihr geborgen in dem Zimmer bei Madame GLrard arbeiten sähe.
Wenn Miete von daheim erzählte, sprach sie nur von dem Wantje, lieber aber hörte
sie Fintje erzählen vom Pouchenellekeller, von der Hexe und vom Marionettenonkelchen.
Fintje, die immer noch bei der Großmutter in dem engen Kellerverschlag schlafen und
des Abends in Oomkes erleuchteter Stube sitzen durfte, kam der Lumpensammlers¬
tochter aus dem Roten Röschengang vor wie eine glückliche junge Prinzessin.
'

Fintje selbst aber wollte noch viel höher hinaus, sie war eine del Trap. Ein
Ungewisses Zukunftsbild schwebte ihr vor, ganz in Duft und Licht gewoben, eine
Vision, wie sie gern in düstern Kellern geboren wird. Das Stillsitzen und Steppen
und Fischbeinannähen im Korsettgeschäft, das bedeutete für sie nur die erste Stufe
auf dem Wege in die Höhe, sicher die langweiligste, geduldheischendste von allen.

Wenn nur bald wieder Kirmes wäre! Wenn nur schon Fastnacht wäre! Wenn
sich nur irgendetwas ereignen wollte! So eilig hatte es Fintje mit dem Leben!
Endlich hatte sie Mieter etwas Neues zu erzählen.

Ein Fremder war zu Papa Toone in die Schenkstube getreten und hatte um
Anstellung bei dessen Theater gebeten. Papa Toone war das Angebot just gelegen
gekommen, weil es ihm bei den Aufführungen an Stimmen fehlte. Der Fremde
nannte sich Jan l'Grand und gab vor, Schauspieler bei einer herumziehenden
Theatertruppe gewesen zu sein, was sein modulationsreiches Organ, seine vornehmen
Bewegungen und sein schriftreines Französisch auch beglaubigten. Er saß viel als


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[0182] Im alten Brüssel den Kopf darüber zerbrochen, wie der düstere Schlupfwinkel armer Lumpensammler zu dem lieblichen Namen gekommen sein mochte. Sie erfreuten sich ja alle der duftigsten, poetischsten Bezeichnungen, die unsauber» Höhlen und Gänge des Quartier des Marolles. Das klang wie Notschreie entbehrender, in Schmutz und Armut versinkender Menschheit: Palmen-, Kamelien-, Blauveilchengang! Der Sirenengang, die Gasse des Gebets, des Heiligen GeistesI Fintje selbst wohnte ja im Winden¬ gang. Winden aber sind leichte, feine, wehende Sommerblumen! Arm in Arm schlenderten die jungen Marolliennes die Hoogstraat hinauf. Langsam ging Miete, als eile es ihr nicht, heimzukommen; das schöne Gesicht hielt sie beharrlich gesenkt. Fintjes Augen dagegen suchten hungrig die spärlichen Himmelsftecken, die gleich hellen Vorhängen die kurzen Seitengassen der Hoogstraat abschlossen. Miete aber mochte in diese lichten Himmelsausschnitte nicht hineinsehen, weil in jedem ein großer, dräuender Schatten stand: der Justizpalast. Wie eine übernatürliche, düstere Erscheinung ragte er in den farbenfrohen Abendhimmel hinein. Miete hatte einen großen Bruder, der viele Nächte auswärts zubrachte, und wenn er einmal heimkam, meist eine größere Summe Geldes mitbrachte, obschon er nirgends in Arbeit stand. Der Stiefvater fragte nicht, woher das Geld käme, und die Mutter auch nicht, sie waren alle froh darüber. Aber eine böse Ahnung sagte es Wicken, eines Tags werde der Bruder nicht heimkommen, und jedesmal, wenn der Justizpalast, wo die Verbrecher gerichtet wurden, ihr vor die Angen kam, packte sie die Furcht. Miete war ein schweigsames, nach innen gekehrtes Geschöpf; trotzdem schloß sich das lebhafte Fintje eng an sie an, es sah mit einer Art scheuer Bewunderung auf zu ihr, die immer gut blieb und saust und nie böse Worte gab. Miete hatte sich die Erlaubnis, Madame Görards Atelier besuchen zu dürfen, mühsam erringen müssen, denn die Mutter hätte es lieber gesehen, wenn die Tochter ihr bei dem übelriechenden Lumpengeschäft tätig zur Hand gegangen wäre. Die Mutter, alt und gebückt von den Jahren, war eins der Lumpenweiber, die im Morgengrauen mit ihrem grauen Sack Brüssels Straßen durchwandern. Hsd js Kssn voääen su bssQsn? Ihre Stimme klang heiser von dem ewigen eintönigen Ruf. Mieters kleine Schwester, das Wantje, war der müden Mutter ein Dorn im Auge: noch ein unnützer Mund weiter zu stopfen! Wantje wurde herumgestoßen und ausgezankt. Mieter fiel es schwer, das mit anzusehen, weil sie die kleine Schwester mit einer heißen, mütterlichen Zärtlichkeit liebte. Und ihr höchster Wunsch war nun, es so weit zu bringen, daß sie einst allein für das Wantje sorgen könnte, und daß sie dieses einmal mit ihr geborgen in dem Zimmer bei Madame GLrard arbeiten sähe. Wenn Miete von daheim erzählte, sprach sie nur von dem Wantje, lieber aber hörte sie Fintje erzählen vom Pouchenellekeller, von der Hexe und vom Marionettenonkelchen. Fintje, die immer noch bei der Großmutter in dem engen Kellerverschlag schlafen und des Abends in Oomkes erleuchteter Stube sitzen durfte, kam der Lumpensammlers¬ tochter aus dem Roten Röschengang vor wie eine glückliche junge Prinzessin. ' Fintje selbst aber wollte noch viel höher hinaus, sie war eine del Trap. Ein Ungewisses Zukunftsbild schwebte ihr vor, ganz in Duft und Licht gewoben, eine Vision, wie sie gern in düstern Kellern geboren wird. Das Stillsitzen und Steppen und Fischbeinannähen im Korsettgeschäft, das bedeutete für sie nur die erste Stufe auf dem Wege in die Höhe, sicher die langweiligste, geduldheischendste von allen. Wenn nur bald wieder Kirmes wäre! Wenn nur schon Fastnacht wäre! Wenn sich nur irgendetwas ereignen wollte! So eilig hatte es Fintje mit dem Leben! Endlich hatte sie Mieter etwas Neues zu erzählen. Ein Fremder war zu Papa Toone in die Schenkstube getreten und hatte um Anstellung bei dessen Theater gebeten. Papa Toone war das Angebot just gelegen gekommen, weil es ihm bei den Aufführungen an Stimmen fehlte. Der Fremde nannte sich Jan l'Grand und gab vor, Schauspieler bei einer herumziehenden Theatertruppe gewesen zu sein, was sein modulationsreiches Organ, seine vornehmen Bewegungen und sein schriftreines Französisch auch beglaubigten. Er saß viel als

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/182>, abgerufen am 23.07.2024.