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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Im alten Brüssel

Hände der Mädchen fest. Und die jungen Angen, die in dem trüben Halbdunkel
der Stichlinie unverrückt folgen sollten, brannten. Oft zitterten die Finger der
Arbeiterinnen vor Ungeduld. Der scharfe Essensgeruch, der manchmal aus der be¬
nachbarten Küche in das Atelier strömte, erregte die jungen immer hungrigen
Geschöpfe. Doch ob sie auch das Fenster weit aufrissen, immer stand da der Kamin
und verwehrte neidisch Luft und Licht den Eingang.

Oft sangen sie. Am häufigsten ein Liedchen vom Frühling und von der Liebe.
'

Lsuis Anrour 1a vis nsse <zns missrs -- sa.n,s aurour -- Wilh amour --
sangen sie alle zusammen, die verhaltnen Mädchenstimmen zitterten mit scheuem
Flügelschlag über dem lärmenden Treiben der gleichgiltigen geschäftigen Maschinen.

Mit ihrem trägen Gang schwankte die dicke Madame Gerard zwischen dem
Atelier und dem Empfangszimmer hin und her. Sie war eine echte Marollienne,
wenngleich eine vornehme, reiche. Das feine Wallonenköpfchen thronte fremdartig über
dem allzu üppigen Körper der Flamcinderin. Mit künstlerischem Raffinement frisiert
umrahmte das schwarze Haar in gebauschten Wellen ihr junges, schönes Gesicht.

Sie ging in leichter, weißer, spitzengarnierter Bluse und weißleinenem Unterrock
einher, denn ihrem blühenden Fett war immer zu heiß, und einen Kleiderrock trug
sie nur Sonntags auf der Straße. Nachlässig bauschte sie vor ihren Kunden die
schillernden Seidenstoffe zur Auswahl aus und schrieb träge die Maße auf. Sie
wußte, daß es ihr an Bestellungen nie fehlen würde. Ihr Haus arbeitete zu gut
und zu billig, schon ihre Mutter hatte das Geschäft zu seinem jetzigen Ruf gebracht.
Und nebenan arbeiteten fleißig ihre Mädchen, die ganz jungen umsonst, die altern
für geringen Lohn. Und dazu verdiente auch noch ihr Mann, der Schlosser, der
unter Madames Räumen seine Werkstatt hatte.

Hie und da kam er einmal herauf ins Atelier. Die gebückt sitzenden Arbei¬
terinnen richteten sich unwillkürlich gerade auf, wenn sie seine Schritte die Treppe
heraufkommen hörten. In ihrem Weiberinstinkt fuhren sie geschwind mit ordnender
Hand über die Haare, und in den arbeitsmatten Augen glühte neues, funkelndes
Leben auf. Trat der Schlosser unter die Tür, hoben sie alle die Köpfe, sogar die
bucklige kleine Belöke bemühte sich, eine gefälligere Pose anzunehmen. Denn sie waren
alle arme gefangne kleine Vögel, denen nach Sonne und Liebe verlangte in ihrem
dumpfen Arbeitsraum, und die es schon dankbar empfanden, wenn die Tür einmal
aufging, und ein Abgesandter des Lebens, ein Mann, unter sie trat, und Wenns
auch nur ein schwarzberußter Schlosser war, nur der spärlichverdienende Gatte der
vielverdienenden Patronin.

Nun, immer fleißig, ihr Mädchen? fragte regelmäßig der Schlosser, indem er
sich lauernd umsah. Hatte er sich von der Abwesenheit Madames überzeugt, trat
er hinter den Stuhl eines der Mädchen und kniff es mit der geschwärzten Hand
in die Backe oder tätschelte ihr liebevoll Hals und Arm. Nun, Kleine, hast du
denn schon einen Liebhaber, he?

Darauf gab ihm das Mädchen eine kecke Antwort, oder es kicherte oder er¬
rötete verschämt, je nach dem Temperament. Der Schlosser machte keinen Unter¬
schied. Er trat einmal zu dieser, dann zu jener. Wenn aber Madame hereinkam,
erbat er sich in aller Höflichkeit von ihr den Kellerschlüssel und verschwand wieder.
Dann senkten sich die sechs Köpfe, und langsam trat in den jungen Gesichtern die
frühere Müdigkeit wieder zutage. Weiter schlichen die Stunden, bis die rostige
Wanduhr endlich das Zeichen zum Feierabend gab. Dann packten sie zusammen,
die einen hastig, die andern langsam, zögernd, denn nicht alle kehrten gern aus
dem düstern Atelier in ihr Heim zurück. Für manche bedeutete dieses sitzende
Arbeiten an der Maschine ein Ausruhen und Feiertaghalten.

Die letzte von allen, die die steile Treppe in Madame Gerards Haus hinunter¬
kam, war immer Miete. Trotzdem wartete das eilige, unruhige Fintje Tag für
Tag geduldig auf die stille Freundin mit dem sanften Madvnnengesicht. Sie hatten
ein und denselben Weg, denn Wieke wohnte auch in einer Jmpasse der Hoogstraat,
in dem engen, übelriechenden Roten Röschengang. Die Mädchen hatten sich nie


Im alten Brüssel

Hände der Mädchen fest. Und die jungen Angen, die in dem trüben Halbdunkel
der Stichlinie unverrückt folgen sollten, brannten. Oft zitterten die Finger der
Arbeiterinnen vor Ungeduld. Der scharfe Essensgeruch, der manchmal aus der be¬
nachbarten Küche in das Atelier strömte, erregte die jungen immer hungrigen
Geschöpfe. Doch ob sie auch das Fenster weit aufrissen, immer stand da der Kamin
und verwehrte neidisch Luft und Licht den Eingang.

Oft sangen sie. Am häufigsten ein Liedchen vom Frühling und von der Liebe.
'

Lsuis Anrour 1a vis nsse <zns missrs — sa.n,s aurour — Wilh amour —
sangen sie alle zusammen, die verhaltnen Mädchenstimmen zitterten mit scheuem
Flügelschlag über dem lärmenden Treiben der gleichgiltigen geschäftigen Maschinen.

Mit ihrem trägen Gang schwankte die dicke Madame Gerard zwischen dem
Atelier und dem Empfangszimmer hin und her. Sie war eine echte Marollienne,
wenngleich eine vornehme, reiche. Das feine Wallonenköpfchen thronte fremdartig über
dem allzu üppigen Körper der Flamcinderin. Mit künstlerischem Raffinement frisiert
umrahmte das schwarze Haar in gebauschten Wellen ihr junges, schönes Gesicht.

Sie ging in leichter, weißer, spitzengarnierter Bluse und weißleinenem Unterrock
einher, denn ihrem blühenden Fett war immer zu heiß, und einen Kleiderrock trug
sie nur Sonntags auf der Straße. Nachlässig bauschte sie vor ihren Kunden die
schillernden Seidenstoffe zur Auswahl aus und schrieb träge die Maße auf. Sie
wußte, daß es ihr an Bestellungen nie fehlen würde. Ihr Haus arbeitete zu gut
und zu billig, schon ihre Mutter hatte das Geschäft zu seinem jetzigen Ruf gebracht.
Und nebenan arbeiteten fleißig ihre Mädchen, die ganz jungen umsonst, die altern
für geringen Lohn. Und dazu verdiente auch noch ihr Mann, der Schlosser, der
unter Madames Räumen seine Werkstatt hatte.

Hie und da kam er einmal herauf ins Atelier. Die gebückt sitzenden Arbei¬
terinnen richteten sich unwillkürlich gerade auf, wenn sie seine Schritte die Treppe
heraufkommen hörten. In ihrem Weiberinstinkt fuhren sie geschwind mit ordnender
Hand über die Haare, und in den arbeitsmatten Augen glühte neues, funkelndes
Leben auf. Trat der Schlosser unter die Tür, hoben sie alle die Köpfe, sogar die
bucklige kleine Belöke bemühte sich, eine gefälligere Pose anzunehmen. Denn sie waren
alle arme gefangne kleine Vögel, denen nach Sonne und Liebe verlangte in ihrem
dumpfen Arbeitsraum, und die es schon dankbar empfanden, wenn die Tür einmal
aufging, und ein Abgesandter des Lebens, ein Mann, unter sie trat, und Wenns
auch nur ein schwarzberußter Schlosser war, nur der spärlichverdienende Gatte der
vielverdienenden Patronin.

Nun, immer fleißig, ihr Mädchen? fragte regelmäßig der Schlosser, indem er
sich lauernd umsah. Hatte er sich von der Abwesenheit Madames überzeugt, trat
er hinter den Stuhl eines der Mädchen und kniff es mit der geschwärzten Hand
in die Backe oder tätschelte ihr liebevoll Hals und Arm. Nun, Kleine, hast du
denn schon einen Liebhaber, he?

Darauf gab ihm das Mädchen eine kecke Antwort, oder es kicherte oder er¬
rötete verschämt, je nach dem Temperament. Der Schlosser machte keinen Unter¬
schied. Er trat einmal zu dieser, dann zu jener. Wenn aber Madame hereinkam,
erbat er sich in aller Höflichkeit von ihr den Kellerschlüssel und verschwand wieder.
Dann senkten sich die sechs Köpfe, und langsam trat in den jungen Gesichtern die
frühere Müdigkeit wieder zutage. Weiter schlichen die Stunden, bis die rostige
Wanduhr endlich das Zeichen zum Feierabend gab. Dann packten sie zusammen,
die einen hastig, die andern langsam, zögernd, denn nicht alle kehrten gern aus
dem düstern Atelier in ihr Heim zurück. Für manche bedeutete dieses sitzende
Arbeiten an der Maschine ein Ausruhen und Feiertaghalten.

Die letzte von allen, die die steile Treppe in Madame Gerards Haus hinunter¬
kam, war immer Miete. Trotzdem wartete das eilige, unruhige Fintje Tag für
Tag geduldig auf die stille Freundin mit dem sanften Madvnnengesicht. Sie hatten
ein und denselben Weg, denn Wieke wohnte auch in einer Jmpasse der Hoogstraat,
in dem engen, übelriechenden Roten Röschengang. Die Mädchen hatten sich nie


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[0181] Im alten Brüssel Hände der Mädchen fest. Und die jungen Angen, die in dem trüben Halbdunkel der Stichlinie unverrückt folgen sollten, brannten. Oft zitterten die Finger der Arbeiterinnen vor Ungeduld. Der scharfe Essensgeruch, der manchmal aus der be¬ nachbarten Küche in das Atelier strömte, erregte die jungen immer hungrigen Geschöpfe. Doch ob sie auch das Fenster weit aufrissen, immer stand da der Kamin und verwehrte neidisch Luft und Licht den Eingang. Oft sangen sie. Am häufigsten ein Liedchen vom Frühling und von der Liebe. ' Lsuis Anrour 1a vis nsse <zns missrs — sa.n,s aurour — Wilh amour — sangen sie alle zusammen, die verhaltnen Mädchenstimmen zitterten mit scheuem Flügelschlag über dem lärmenden Treiben der gleichgiltigen geschäftigen Maschinen. Mit ihrem trägen Gang schwankte die dicke Madame Gerard zwischen dem Atelier und dem Empfangszimmer hin und her. Sie war eine echte Marollienne, wenngleich eine vornehme, reiche. Das feine Wallonenköpfchen thronte fremdartig über dem allzu üppigen Körper der Flamcinderin. Mit künstlerischem Raffinement frisiert umrahmte das schwarze Haar in gebauschten Wellen ihr junges, schönes Gesicht. Sie ging in leichter, weißer, spitzengarnierter Bluse und weißleinenem Unterrock einher, denn ihrem blühenden Fett war immer zu heiß, und einen Kleiderrock trug sie nur Sonntags auf der Straße. Nachlässig bauschte sie vor ihren Kunden die schillernden Seidenstoffe zur Auswahl aus und schrieb träge die Maße auf. Sie wußte, daß es ihr an Bestellungen nie fehlen würde. Ihr Haus arbeitete zu gut und zu billig, schon ihre Mutter hatte das Geschäft zu seinem jetzigen Ruf gebracht. Und nebenan arbeiteten fleißig ihre Mädchen, die ganz jungen umsonst, die altern für geringen Lohn. Und dazu verdiente auch noch ihr Mann, der Schlosser, der unter Madames Räumen seine Werkstatt hatte. Hie und da kam er einmal herauf ins Atelier. Die gebückt sitzenden Arbei¬ terinnen richteten sich unwillkürlich gerade auf, wenn sie seine Schritte die Treppe heraufkommen hörten. In ihrem Weiberinstinkt fuhren sie geschwind mit ordnender Hand über die Haare, und in den arbeitsmatten Augen glühte neues, funkelndes Leben auf. Trat der Schlosser unter die Tür, hoben sie alle die Köpfe, sogar die bucklige kleine Belöke bemühte sich, eine gefälligere Pose anzunehmen. Denn sie waren alle arme gefangne kleine Vögel, denen nach Sonne und Liebe verlangte in ihrem dumpfen Arbeitsraum, und die es schon dankbar empfanden, wenn die Tür einmal aufging, und ein Abgesandter des Lebens, ein Mann, unter sie trat, und Wenns auch nur ein schwarzberußter Schlosser war, nur der spärlichverdienende Gatte der vielverdienenden Patronin. Nun, immer fleißig, ihr Mädchen? fragte regelmäßig der Schlosser, indem er sich lauernd umsah. Hatte er sich von der Abwesenheit Madames überzeugt, trat er hinter den Stuhl eines der Mädchen und kniff es mit der geschwärzten Hand in die Backe oder tätschelte ihr liebevoll Hals und Arm. Nun, Kleine, hast du denn schon einen Liebhaber, he? Darauf gab ihm das Mädchen eine kecke Antwort, oder es kicherte oder er¬ rötete verschämt, je nach dem Temperament. Der Schlosser machte keinen Unter¬ schied. Er trat einmal zu dieser, dann zu jener. Wenn aber Madame hereinkam, erbat er sich in aller Höflichkeit von ihr den Kellerschlüssel und verschwand wieder. Dann senkten sich die sechs Köpfe, und langsam trat in den jungen Gesichtern die frühere Müdigkeit wieder zutage. Weiter schlichen die Stunden, bis die rostige Wanduhr endlich das Zeichen zum Feierabend gab. Dann packten sie zusammen, die einen hastig, die andern langsam, zögernd, denn nicht alle kehrten gern aus dem düstern Atelier in ihr Heim zurück. Für manche bedeutete dieses sitzende Arbeiten an der Maschine ein Ausruhen und Feiertaghalten. Die letzte von allen, die die steile Treppe in Madame Gerards Haus hinunter¬ kam, war immer Miete. Trotzdem wartete das eilige, unruhige Fintje Tag für Tag geduldig auf die stille Freundin mit dem sanften Madvnnengesicht. Sie hatten ein und denselben Weg, denn Wieke wohnte auch in einer Jmpasse der Hoogstraat, in dem engen, übelriechenden Roten Röschengang. Die Mädchen hatten sich nie

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/181>, abgerufen am 22.12.2024.