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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Im alten Brüssel

hereinkamen? Ob ihm nicht ungemütlich wurde in dem kleinen, kahlen, weißen
Zimmer, diesem armen, festgebannten Gespenst? Denn sicher war es ein Gespenst,
wie sie in den Märchen vorkamen.

Warum wohnt "das da" ganz allein in der kleinen Stube? fragte Fintje mit
verhaltner Stimme den Herrn Portier, der hier zuhause war und alles wußte.

Das ist unser berühmter Christuskopf, ungeheure Dimensionen, ein Meister¬
werk, extra von Leonard, dem Schüler des Wiertz für uns gemalt.

Also doch nur gemalt, kein wirkliches Märchengespenst! Eigentlich kath ihr
leid, Wenns auch recht beruhigend war.

Und ich möcht doch, das Gesicht wäre am Leben, sagte sie mit einem kleinen
Seufzer.

Kindergeschwätz, sagte der Portier, der alles wußte, und dann mußten sie
beide hinaus aus dem Saal und dem Volkshaus, denn der Vetter wollte weiter¬
putzen.


5

Sonntag Nachmittag im Quartier des Marolles.

Niemand in den Häusern. Nur die Schenken sitzen gedrängt voll. Die alten
Leute, die Kränklichen und die Weiber sonnen sich vor ihren Häusern, schwatzen
und rauchen.

Die Burschen mit ihren Schätzen und die jüngern Ehepaare sind mit Kind
und Kegel ausgezogen aufs Land, vor die Stadt hinaus. Nicht mehr nach der
Verte Allele wie in alten Zeiten, aber hinüber durch lange gepflasterte Straßen
nach "Aente" und dem "Fort Jacot," wo gute Wirtshäuser ihnen winken, wo sie
in Wald und Feld die Moderluft städtischer Armut aus Haar und Kleidern lüften.
Paarweise und in ganzen Gruppen ziehn sie aus. Erstaunlich ist es anzusehen,
wie leicht sie alle den grauen Alltag abzuschütteln gewußt haben, wie sie Plötzlich
wohlhabenden Bürgern zum Verwechseln ähnlich sehen, diese armen Marolliens,
wenn sie im hellen Sonnenschein des Sonntagnachmittags ausziehn auf die Jagd
nach dem Vergnügen.

Sogar dri in sich gekehrten Ovale wollte es hente nicht in der Stube
dulden. Er löschte die Lampe aus, die ihm die Seiten seines Buches mit ihrem
gelben, müden Alltagslicht beleuchtet hatte. Draußen schien die Sonne, draußen
war es Sonntag.

Ovale stülpte seine Schülermütze auf und zählte die wenigen Sons aus
seiner Tasche.

Wenn er das Fintje mitnähme, was würde das für verzückte Gesichter
schneiden! Und das Geld reichte eben für zwei.

Auf der alten Bank vor dem Hause saß die Hexe aus dem Pouchenellekeller
und ließ sich von der Sonne bescheinen. Niemand saß bei ihr. Wer von den
Weibern der Windengasse hätte neben der unheimlichen Alten sitzen mögen, die
nichts vom Schwatzen, nichts vom Vergnügen hielt, die gleich von Menschen und
Dingen die bösen Seiten sah, keine Freude am Leben hatte und ihren starren
Willen nie beugen wollte, nicht einmal vor dem lieben Gott!

Auch Fintje hatte nicht bei der Großmutter ausgehalten. Sie stand an der
Ecke des Wiudeugangs und der Hoogstraat und drehte den Kopf bald nach links,
bald nach rechts. Die Kameradinnen waren alle auf und davon. Sie sprangen
und tanzten wohl hinter irgendeiner Musikbande her, die zu erlauschen sie ver¬
säumt hatte. Eben wollte sie auf gut Glück die Hoogstraat hinunterrennen, da
hörte sie Oomkes Stimme.

Fintje. willst du mit?

Wohin?

Na, in den "Jardin rompu," ins Konzert.

Ich in den Jardin rompu? Ich?

Sie kreischte laut auf in ihrem freudigen Schreck.


Grenzboten I 1906 23
Im alten Brüssel

hereinkamen? Ob ihm nicht ungemütlich wurde in dem kleinen, kahlen, weißen
Zimmer, diesem armen, festgebannten Gespenst? Denn sicher war es ein Gespenst,
wie sie in den Märchen vorkamen.

Warum wohnt „das da" ganz allein in der kleinen Stube? fragte Fintje mit
verhaltner Stimme den Herrn Portier, der hier zuhause war und alles wußte.

Das ist unser berühmter Christuskopf, ungeheure Dimensionen, ein Meister¬
werk, extra von Leonard, dem Schüler des Wiertz für uns gemalt.

Also doch nur gemalt, kein wirkliches Märchengespenst! Eigentlich kath ihr
leid, Wenns auch recht beruhigend war.

Und ich möcht doch, das Gesicht wäre am Leben, sagte sie mit einem kleinen
Seufzer.

Kindergeschwätz, sagte der Portier, der alles wußte, und dann mußten sie
beide hinaus aus dem Saal und dem Volkshaus, denn der Vetter wollte weiter¬
putzen.


5

Sonntag Nachmittag im Quartier des Marolles.

Niemand in den Häusern. Nur die Schenken sitzen gedrängt voll. Die alten
Leute, die Kränklichen und die Weiber sonnen sich vor ihren Häusern, schwatzen
und rauchen.

Die Burschen mit ihren Schätzen und die jüngern Ehepaare sind mit Kind
und Kegel ausgezogen aufs Land, vor die Stadt hinaus. Nicht mehr nach der
Verte Allele wie in alten Zeiten, aber hinüber durch lange gepflasterte Straßen
nach „Aente" und dem „Fort Jacot," wo gute Wirtshäuser ihnen winken, wo sie
in Wald und Feld die Moderluft städtischer Armut aus Haar und Kleidern lüften.
Paarweise und in ganzen Gruppen ziehn sie aus. Erstaunlich ist es anzusehen,
wie leicht sie alle den grauen Alltag abzuschütteln gewußt haben, wie sie Plötzlich
wohlhabenden Bürgern zum Verwechseln ähnlich sehen, diese armen Marolliens,
wenn sie im hellen Sonnenschein des Sonntagnachmittags ausziehn auf die Jagd
nach dem Vergnügen.

Sogar dri in sich gekehrten Ovale wollte es hente nicht in der Stube
dulden. Er löschte die Lampe aus, die ihm die Seiten seines Buches mit ihrem
gelben, müden Alltagslicht beleuchtet hatte. Draußen schien die Sonne, draußen
war es Sonntag.

Ovale stülpte seine Schülermütze auf und zählte die wenigen Sons aus
seiner Tasche.

Wenn er das Fintje mitnähme, was würde das für verzückte Gesichter
schneiden! Und das Geld reichte eben für zwei.

Auf der alten Bank vor dem Hause saß die Hexe aus dem Pouchenellekeller
und ließ sich von der Sonne bescheinen. Niemand saß bei ihr. Wer von den
Weibern der Windengasse hätte neben der unheimlichen Alten sitzen mögen, die
nichts vom Schwatzen, nichts vom Vergnügen hielt, die gleich von Menschen und
Dingen die bösen Seiten sah, keine Freude am Leben hatte und ihren starren
Willen nie beugen wollte, nicht einmal vor dem lieben Gott!

Auch Fintje hatte nicht bei der Großmutter ausgehalten. Sie stand an der
Ecke des Wiudeugangs und der Hoogstraat und drehte den Kopf bald nach links,
bald nach rechts. Die Kameradinnen waren alle auf und davon. Sie sprangen
und tanzten wohl hinter irgendeiner Musikbande her, die zu erlauschen sie ver¬
säumt hatte. Eben wollte sie auf gut Glück die Hoogstraat hinunterrennen, da
hörte sie Oomkes Stimme.

Fintje. willst du mit?

Wohin?

Na, in den „Jardin rompu," ins Konzert.

Ich in den Jardin rompu? Ich?

Sie kreischte laut auf in ihrem freudigen Schreck.


Grenzboten I 1906 23
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[0177] Im alten Brüssel hereinkamen? Ob ihm nicht ungemütlich wurde in dem kleinen, kahlen, weißen Zimmer, diesem armen, festgebannten Gespenst? Denn sicher war es ein Gespenst, wie sie in den Märchen vorkamen. Warum wohnt „das da" ganz allein in der kleinen Stube? fragte Fintje mit verhaltner Stimme den Herrn Portier, der hier zuhause war und alles wußte. Das ist unser berühmter Christuskopf, ungeheure Dimensionen, ein Meister¬ werk, extra von Leonard, dem Schüler des Wiertz für uns gemalt. Also doch nur gemalt, kein wirkliches Märchengespenst! Eigentlich kath ihr leid, Wenns auch recht beruhigend war. Und ich möcht doch, das Gesicht wäre am Leben, sagte sie mit einem kleinen Seufzer. Kindergeschwätz, sagte der Portier, der alles wußte, und dann mußten sie beide hinaus aus dem Saal und dem Volkshaus, denn der Vetter wollte weiter¬ putzen. 5 Sonntag Nachmittag im Quartier des Marolles. Niemand in den Häusern. Nur die Schenken sitzen gedrängt voll. Die alten Leute, die Kränklichen und die Weiber sonnen sich vor ihren Häusern, schwatzen und rauchen. Die Burschen mit ihren Schätzen und die jüngern Ehepaare sind mit Kind und Kegel ausgezogen aufs Land, vor die Stadt hinaus. Nicht mehr nach der Verte Allele wie in alten Zeiten, aber hinüber durch lange gepflasterte Straßen nach „Aente" und dem „Fort Jacot," wo gute Wirtshäuser ihnen winken, wo sie in Wald und Feld die Moderluft städtischer Armut aus Haar und Kleidern lüften. Paarweise und in ganzen Gruppen ziehn sie aus. Erstaunlich ist es anzusehen, wie leicht sie alle den grauen Alltag abzuschütteln gewußt haben, wie sie Plötzlich wohlhabenden Bürgern zum Verwechseln ähnlich sehen, diese armen Marolliens, wenn sie im hellen Sonnenschein des Sonntagnachmittags ausziehn auf die Jagd nach dem Vergnügen. Sogar dri in sich gekehrten Ovale wollte es hente nicht in der Stube dulden. Er löschte die Lampe aus, die ihm die Seiten seines Buches mit ihrem gelben, müden Alltagslicht beleuchtet hatte. Draußen schien die Sonne, draußen war es Sonntag. Ovale stülpte seine Schülermütze auf und zählte die wenigen Sons aus seiner Tasche. Wenn er das Fintje mitnähme, was würde das für verzückte Gesichter schneiden! Und das Geld reichte eben für zwei. Auf der alten Bank vor dem Hause saß die Hexe aus dem Pouchenellekeller und ließ sich von der Sonne bescheinen. Niemand saß bei ihr. Wer von den Weibern der Windengasse hätte neben der unheimlichen Alten sitzen mögen, die nichts vom Schwatzen, nichts vom Vergnügen hielt, die gleich von Menschen und Dingen die bösen Seiten sah, keine Freude am Leben hatte und ihren starren Willen nie beugen wollte, nicht einmal vor dem lieben Gott! Auch Fintje hatte nicht bei der Großmutter ausgehalten. Sie stand an der Ecke des Wiudeugangs und der Hoogstraat und drehte den Kopf bald nach links, bald nach rechts. Die Kameradinnen waren alle auf und davon. Sie sprangen und tanzten wohl hinter irgendeiner Musikbande her, die zu erlauschen sie ver¬ säumt hatte. Eben wollte sie auf gut Glück die Hoogstraat hinunterrennen, da hörte sie Oomkes Stimme. Fintje. willst du mit? Wohin? Na, in den „Jardin rompu," ins Konzert. Ich in den Jardin rompu? Ich? Sie kreischte laut auf in ihrem freudigen Schreck. Grenzboten I 1906 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/177>, abgerufen am 22.12.2024.