Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Don der Reichshauptstadt nach dem Riesengebirge durch die Luft

werden? Man empfängt nicht den Eindruck, daß es sich immer um das große
Ziel handle, das Bild des bedeutenden Menschen in möglichster Klarheit
Hervorgehn zu lassen, sondern daß auch die Genugtuung des Aufspürens, des
Durchdringens der Intimität, des Aufzeigens menschlich kleiner Züge im Spiele
sei; es können da ähnliche Antriebe gegenüber dem Leben der Entfernten und
Erhöhter wirken, wie sie als Neugier gegenüber dem Leben der Nahen, der
nach Zeit und Ort Benachbarten so unerfreulich hervortreten. Aber mag man
hier seine Zweifel zurückdrängen und das Ergebnis immerhin schätzen: es ist
das nicht die einzige Art, wie sich die Neugier gerade auf dem literarischen
Gebiete regt. Auch zu wissen, wie das literarische Gebilde, wie die einzelnen
Gestalten einer Dichtung, wie die geschilderten Beziehungen aus dem persönlichen
äußern und innern Erleben des Dichtenden entstanden sind, auch das kann,
wie es eine würdige Aufgabe der literarischen Forschung sein kann, doch auch
ein vordringliches Spiel der persönlichen Neugierde werden. Die Italiener
verwenden -- um hier auf eine Bemerkung des Eingangs zurückzukommen --
ihr Wort ouriositg. sehr verständlicherweise anch für Vorwitz und ebenso für
eigensinnige Liebhaberei. Die Dichter selbst werden durch diese Versuche meist
sehr verstimmt; sie beanspruchen es als ihr Recht, daß sich ihr persönlich
intimes Leben vor der Forschbegierde oder Spürsucht verschließe; und auch was
sie an Gestalten, Charakterzügen, Lebensbeziehungen der Wirklichkeit entliehen
haben, wollen sie nicht untersucht wissen, schon weil sie da selbst als die Indiskreten
erscheinen, wenn dies auch in Wahrheit nur die aufspürenden und ansteckenden
Historiker oder Kritiker sind. So die lebenden Dichter; und die toten? Sie würden
vielleicht von ihrem Grabe aus nicht viel freundlicher darauf herüberschauen, aber
immerhin verblaßt dem Entfernten und Vergangnen gegenüber eher die grelle
Farbe der Neugier. Im ganzen läßt sich die Grenze des Berechtigten und des
Anfechtbaren durch keine Formel feststellen; doch die Möglichkeit der Grenzüber¬
schreitung fehlt sicher uicht. Keine Veredlung Schutze vor dem Rückschlag ins Roh¬
ursprüngliche, und keine begriffliche Scheidung hat Macht über die Strömungen
der Wirklichkeit.




Von der Reichshauptstadt nach dem Riesengebirge
durch die Luft
Johannes poeschel von(Schluß)

in langgezogner Pfiff dringt zu uus herauf. Richtig, gerade
unter uus fährt mit zwei Lokomotiven bespannt der Schnellzug
nach Görlitz, der 10 Uhr 50 Minuten Verum verlassen hat und
Großstadtmüde in die Sommerfrischen des Riesengebirges bringt.
Unser Ballonschatten huscht neben ihm her. Wer ist schneller?
Wir als die Klügern geben das Rennen auf und gönnen ihm seinen Vor¬
sprung. Die armen Reisenden da unten in ihren rußgeschwärzten, durst-


Don der Reichshauptstadt nach dem Riesengebirge durch die Luft

werden? Man empfängt nicht den Eindruck, daß es sich immer um das große
Ziel handle, das Bild des bedeutenden Menschen in möglichster Klarheit
Hervorgehn zu lassen, sondern daß auch die Genugtuung des Aufspürens, des
Durchdringens der Intimität, des Aufzeigens menschlich kleiner Züge im Spiele
sei; es können da ähnliche Antriebe gegenüber dem Leben der Entfernten und
Erhöhter wirken, wie sie als Neugier gegenüber dem Leben der Nahen, der
nach Zeit und Ort Benachbarten so unerfreulich hervortreten. Aber mag man
hier seine Zweifel zurückdrängen und das Ergebnis immerhin schätzen: es ist
das nicht die einzige Art, wie sich die Neugier gerade auf dem literarischen
Gebiete regt. Auch zu wissen, wie das literarische Gebilde, wie die einzelnen
Gestalten einer Dichtung, wie die geschilderten Beziehungen aus dem persönlichen
äußern und innern Erleben des Dichtenden entstanden sind, auch das kann,
wie es eine würdige Aufgabe der literarischen Forschung sein kann, doch auch
ein vordringliches Spiel der persönlichen Neugierde werden. Die Italiener
verwenden — um hier auf eine Bemerkung des Eingangs zurückzukommen —
ihr Wort ouriositg. sehr verständlicherweise anch für Vorwitz und ebenso für
eigensinnige Liebhaberei. Die Dichter selbst werden durch diese Versuche meist
sehr verstimmt; sie beanspruchen es als ihr Recht, daß sich ihr persönlich
intimes Leben vor der Forschbegierde oder Spürsucht verschließe; und auch was
sie an Gestalten, Charakterzügen, Lebensbeziehungen der Wirklichkeit entliehen
haben, wollen sie nicht untersucht wissen, schon weil sie da selbst als die Indiskreten
erscheinen, wenn dies auch in Wahrheit nur die aufspürenden und ansteckenden
Historiker oder Kritiker sind. So die lebenden Dichter; und die toten? Sie würden
vielleicht von ihrem Grabe aus nicht viel freundlicher darauf herüberschauen, aber
immerhin verblaßt dem Entfernten und Vergangnen gegenüber eher die grelle
Farbe der Neugier. Im ganzen läßt sich die Grenze des Berechtigten und des
Anfechtbaren durch keine Formel feststellen; doch die Möglichkeit der Grenzüber¬
schreitung fehlt sicher uicht. Keine Veredlung Schutze vor dem Rückschlag ins Roh¬
ursprüngliche, und keine begriffliche Scheidung hat Macht über die Strömungen
der Wirklichkeit.




Von der Reichshauptstadt nach dem Riesengebirge
durch die Luft
Johannes poeschel von(Schluß)

in langgezogner Pfiff dringt zu uus herauf. Richtig, gerade
unter uus fährt mit zwei Lokomotiven bespannt der Schnellzug
nach Görlitz, der 10 Uhr 50 Minuten Verum verlassen hat und
Großstadtmüde in die Sommerfrischen des Riesengebirges bringt.
Unser Ballonschatten huscht neben ihm her. Wer ist schneller?
Wir als die Klügern geben das Rennen auf und gönnen ihm seinen Vor¬
sprung. Die armen Reisenden da unten in ihren rußgeschwärzten, durst-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0156" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/87634"/>
          <fw type="header" place="top"> Don der Reichshauptstadt nach dem Riesengebirge durch die Luft</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_598" prev="#ID_597"> werden? Man empfängt nicht den Eindruck, daß es sich immer um das große<lb/>
Ziel handle, das Bild des bedeutenden Menschen in möglichster Klarheit<lb/>
Hervorgehn zu lassen, sondern daß auch die Genugtuung des Aufspürens, des<lb/>
Durchdringens der Intimität, des Aufzeigens menschlich kleiner Züge im Spiele<lb/>
sei; es können da ähnliche Antriebe gegenüber dem Leben der Entfernten und<lb/>
Erhöhter wirken, wie sie als Neugier gegenüber dem Leben der Nahen, der<lb/>
nach Zeit und Ort Benachbarten so unerfreulich hervortreten. Aber mag man<lb/>
hier seine Zweifel zurückdrängen und das Ergebnis immerhin schätzen: es ist<lb/>
das nicht die einzige Art, wie sich die Neugier gerade auf dem literarischen<lb/>
Gebiete regt. Auch zu wissen, wie das literarische Gebilde, wie die einzelnen<lb/>
Gestalten einer Dichtung, wie die geschilderten Beziehungen aus dem persönlichen<lb/>
äußern und innern Erleben des Dichtenden entstanden sind, auch das kann,<lb/>
wie es eine würdige Aufgabe der literarischen Forschung sein kann, doch auch<lb/>
ein vordringliches Spiel der persönlichen Neugierde werden. Die Italiener<lb/>
verwenden &#x2014; um hier auf eine Bemerkung des Eingangs zurückzukommen &#x2014;<lb/>
ihr Wort ouriositg. sehr verständlicherweise anch für Vorwitz und ebenso für<lb/>
eigensinnige Liebhaberei. Die Dichter selbst werden durch diese Versuche meist<lb/>
sehr verstimmt; sie beanspruchen es als ihr Recht, daß sich ihr persönlich<lb/>
intimes Leben vor der Forschbegierde oder Spürsucht verschließe; und auch was<lb/>
sie an Gestalten, Charakterzügen, Lebensbeziehungen der Wirklichkeit entliehen<lb/>
haben, wollen sie nicht untersucht wissen, schon weil sie da selbst als die Indiskreten<lb/>
erscheinen, wenn dies auch in Wahrheit nur die aufspürenden und ansteckenden<lb/>
Historiker oder Kritiker sind. So die lebenden Dichter; und die toten? Sie würden<lb/>
vielleicht von ihrem Grabe aus nicht viel freundlicher darauf herüberschauen, aber<lb/>
immerhin verblaßt dem Entfernten und Vergangnen gegenüber eher die grelle<lb/>
Farbe der Neugier. Im ganzen läßt sich die Grenze des Berechtigten und des<lb/>
Anfechtbaren durch keine Formel feststellen; doch die Möglichkeit der Grenzüber¬<lb/>
schreitung fehlt sicher uicht. Keine Veredlung Schutze vor dem Rückschlag ins Roh¬<lb/>
ursprüngliche, und keine begriffliche Scheidung hat Macht über die Strömungen<lb/>
der Wirklichkeit.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Von der Reichshauptstadt nach dem Riesengebirge<lb/>
durch die Luft<lb/><note type="byline"> Johannes poeschel</note> von(Schluß)</head><lb/>
          <p xml:id="ID_599" next="#ID_600"> in langgezogner Pfiff dringt zu uus herauf. Richtig, gerade<lb/>
unter uus fährt mit zwei Lokomotiven bespannt der Schnellzug<lb/>
nach Görlitz, der 10 Uhr 50 Minuten Verum verlassen hat und<lb/>
Großstadtmüde in die Sommerfrischen des Riesengebirges bringt.<lb/>
Unser Ballonschatten huscht neben ihm her. Wer ist schneller?<lb/>
Wir als die Klügern geben das Rennen auf und gönnen ihm seinen Vor¬<lb/>
sprung.  Die armen Reisenden da unten in ihren rußgeschwärzten, durst-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0156] Don der Reichshauptstadt nach dem Riesengebirge durch die Luft werden? Man empfängt nicht den Eindruck, daß es sich immer um das große Ziel handle, das Bild des bedeutenden Menschen in möglichster Klarheit Hervorgehn zu lassen, sondern daß auch die Genugtuung des Aufspürens, des Durchdringens der Intimität, des Aufzeigens menschlich kleiner Züge im Spiele sei; es können da ähnliche Antriebe gegenüber dem Leben der Entfernten und Erhöhter wirken, wie sie als Neugier gegenüber dem Leben der Nahen, der nach Zeit und Ort Benachbarten so unerfreulich hervortreten. Aber mag man hier seine Zweifel zurückdrängen und das Ergebnis immerhin schätzen: es ist das nicht die einzige Art, wie sich die Neugier gerade auf dem literarischen Gebiete regt. Auch zu wissen, wie das literarische Gebilde, wie die einzelnen Gestalten einer Dichtung, wie die geschilderten Beziehungen aus dem persönlichen äußern und innern Erleben des Dichtenden entstanden sind, auch das kann, wie es eine würdige Aufgabe der literarischen Forschung sein kann, doch auch ein vordringliches Spiel der persönlichen Neugierde werden. Die Italiener verwenden — um hier auf eine Bemerkung des Eingangs zurückzukommen — ihr Wort ouriositg. sehr verständlicherweise anch für Vorwitz und ebenso für eigensinnige Liebhaberei. Die Dichter selbst werden durch diese Versuche meist sehr verstimmt; sie beanspruchen es als ihr Recht, daß sich ihr persönlich intimes Leben vor der Forschbegierde oder Spürsucht verschließe; und auch was sie an Gestalten, Charakterzügen, Lebensbeziehungen der Wirklichkeit entliehen haben, wollen sie nicht untersucht wissen, schon weil sie da selbst als die Indiskreten erscheinen, wenn dies auch in Wahrheit nur die aufspürenden und ansteckenden Historiker oder Kritiker sind. So die lebenden Dichter; und die toten? Sie würden vielleicht von ihrem Grabe aus nicht viel freundlicher darauf herüberschauen, aber immerhin verblaßt dem Entfernten und Vergangnen gegenüber eher die grelle Farbe der Neugier. Im ganzen läßt sich die Grenze des Berechtigten und des Anfechtbaren durch keine Formel feststellen; doch die Möglichkeit der Grenzüber¬ schreitung fehlt sicher uicht. Keine Veredlung Schutze vor dem Rückschlag ins Roh¬ ursprüngliche, und keine begriffliche Scheidung hat Macht über die Strömungen der Wirklichkeit. Von der Reichshauptstadt nach dem Riesengebirge durch die Luft Johannes poeschel von(Schluß) in langgezogner Pfiff dringt zu uus herauf. Richtig, gerade unter uus fährt mit zwei Lokomotiven bespannt der Schnellzug nach Görlitz, der 10 Uhr 50 Minuten Verum verlassen hat und Großstadtmüde in die Sommerfrischen des Riesengebirges bringt. Unser Ballonschatten huscht neben ihm her. Wer ist schneller? Wir als die Klügern geben das Rennen auf und gönnen ihm seinen Vor¬ sprung. Die armen Reisenden da unten in ihren rußgeschwärzten, durst-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/156
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/156>, abgerufen am 22.12.2024.