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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Neugier und Wißbegier

andern: Getier ist ihr -- ist wenigstens einem bestimmten Alter -- wertvoller
als das schone Landschaftsgebiet der oberitalicinschen Seen oder die großartige
Region der Hochalpen. So ist es denn großenteils Sache der Erziehung, der
tatsächlichen Erziehung im weitern Sinne, nicht bloß der planmäßig angelegten,
ob die Jugend mehr zur Neugier oder zur Wißbegier vorgestimmt ins Leben
eintritt.

Nun sind ja aber die Schulen da, die Wißbegier zu erwecken, sie zu
befriedigen, sie wach zu halten. Nur daß Einrichtung und Leben der Schulen
in diesem Punkte auch so viel Gefährdendes mit sich bringen: das Wissensollen
ist dem Wissenwollen nicht günstig, das Anregen gelingt lange nicht jedem
Lehrenden so leicht, wie man glaubt, die Vereinigung vieler Schüler kann auch
herabstimmende Wirkung auf den einzelnen ausüben, fast ebensogut wie be¬
lebende. Und namentlich wird die Mannigfaltigkeit der Unterrichtsfächer und
die verlangte Gleichmäßigkeit der Teilnahme dem Gedeihen einer recht lebendigen
Wißbegier leicht nachteilig. Gleichwohl bleibt der zusammenhängende Unterricht
die zuverlässigste Grundlage für eine wertvolle Wißbegier. Denn dazu gehört
doch mehr als die bloße Lust, allerlei Belehrung zu empfangen, sich allerlei
Kenntnis zu verschaffen; es gehört dazu der Wille zum Aufbau, zum innern
Zusammenhang des Erkannten; das Neue muß sich dem schon Erworbnen an¬
schließen und einfügen, und der innere Besitz muß die Aufnahme neuer Ein¬
drücke erleichtern oder gar erst ermöglichen. Dürfen die zur Aufnahme von
Wissen berufnen Schüler nicht mit irgendwelcher Regelmäßigkeit schon als
wißbegierig angesehen werden, so ist doch das Maß fruchtbarer Wißbegier,
das die Reifen später entwickeln, sehr abhängig eben von der frühen Wissens¬
bildung.

Fruchtbare Wißbegier: das mag freilich wieder ein Begriff für sich sein,
eine besondre Wertnüance der Wißbegier überhaupt. Aber auf die sehr ver-
schiednen Abstufungen und Spielarten der Wißbegier muß überhaupt noch die
Rede kommen, ebenso wie die der Neugier; und das oben erwähnte Jneinander-
spielen der beiden wird sich dabei weiterhin ergeben.

Bei niedrer Bildungs- oder Kulturstufe bleibt überhaupt für den weitem
Verlauf des Lebens ein Mittleres zwischen Neugier und Wißbegier, das wir
aber vorwiegend als Neugier empfinden werden, übrigens ohne daß sie uns
als solche verstimmen könnte. Man wird ja auch der das Volk wie die Jugend
erfüllenden Schaulust, die als eine besondre Form der Neugier gelten mag,
nicht grollen. Verstimmend wirkt Neugier erst, wo sie einen mehr ethischen
als intellektuellen Bildungsdefekt verrät. So ist sie bekanntlich ein Zug im
Bilde des Philisters, natürlich nicht bloß des männlichen. Die Frage nach
dem, was es Neues gebe, deutet da meist auf das Bedürfnis, aus dem Leben
des Mitmenschen zu erfahren, was vom Regelmäßiger irgendwie abweicht, nicht
um an ihrem großen oder kleinen Schicksal sympathetischen Anteil zu nehmen,
sondern um davon eine Sensation zu empfangen. Und den in diesem Sinne
nach Neuem Lüsternen dient dann die besondre Klasse der Neuigkeitskrämer.
Solche Neugier ist gewissermaßen eine Karikatur des sympathetischen Interesses
gegenüber dem Leben der Menschen; ja mehr als das, vielfach besiegt und er-


Neugier und Wißbegier

andern: Getier ist ihr — ist wenigstens einem bestimmten Alter — wertvoller
als das schone Landschaftsgebiet der oberitalicinschen Seen oder die großartige
Region der Hochalpen. So ist es denn großenteils Sache der Erziehung, der
tatsächlichen Erziehung im weitern Sinne, nicht bloß der planmäßig angelegten,
ob die Jugend mehr zur Neugier oder zur Wißbegier vorgestimmt ins Leben
eintritt.

Nun sind ja aber die Schulen da, die Wißbegier zu erwecken, sie zu
befriedigen, sie wach zu halten. Nur daß Einrichtung und Leben der Schulen
in diesem Punkte auch so viel Gefährdendes mit sich bringen: das Wissensollen
ist dem Wissenwollen nicht günstig, das Anregen gelingt lange nicht jedem
Lehrenden so leicht, wie man glaubt, die Vereinigung vieler Schüler kann auch
herabstimmende Wirkung auf den einzelnen ausüben, fast ebensogut wie be¬
lebende. Und namentlich wird die Mannigfaltigkeit der Unterrichtsfächer und
die verlangte Gleichmäßigkeit der Teilnahme dem Gedeihen einer recht lebendigen
Wißbegier leicht nachteilig. Gleichwohl bleibt der zusammenhängende Unterricht
die zuverlässigste Grundlage für eine wertvolle Wißbegier. Denn dazu gehört
doch mehr als die bloße Lust, allerlei Belehrung zu empfangen, sich allerlei
Kenntnis zu verschaffen; es gehört dazu der Wille zum Aufbau, zum innern
Zusammenhang des Erkannten; das Neue muß sich dem schon Erworbnen an¬
schließen und einfügen, und der innere Besitz muß die Aufnahme neuer Ein¬
drücke erleichtern oder gar erst ermöglichen. Dürfen die zur Aufnahme von
Wissen berufnen Schüler nicht mit irgendwelcher Regelmäßigkeit schon als
wißbegierig angesehen werden, so ist doch das Maß fruchtbarer Wißbegier,
das die Reifen später entwickeln, sehr abhängig eben von der frühen Wissens¬
bildung.

Fruchtbare Wißbegier: das mag freilich wieder ein Begriff für sich sein,
eine besondre Wertnüance der Wißbegier überhaupt. Aber auf die sehr ver-
schiednen Abstufungen und Spielarten der Wißbegier muß überhaupt noch die
Rede kommen, ebenso wie die der Neugier; und das oben erwähnte Jneinander-
spielen der beiden wird sich dabei weiterhin ergeben.

Bei niedrer Bildungs- oder Kulturstufe bleibt überhaupt für den weitem
Verlauf des Lebens ein Mittleres zwischen Neugier und Wißbegier, das wir
aber vorwiegend als Neugier empfinden werden, übrigens ohne daß sie uns
als solche verstimmen könnte. Man wird ja auch der das Volk wie die Jugend
erfüllenden Schaulust, die als eine besondre Form der Neugier gelten mag,
nicht grollen. Verstimmend wirkt Neugier erst, wo sie einen mehr ethischen
als intellektuellen Bildungsdefekt verrät. So ist sie bekanntlich ein Zug im
Bilde des Philisters, natürlich nicht bloß des männlichen. Die Frage nach
dem, was es Neues gebe, deutet da meist auf das Bedürfnis, aus dem Leben
des Mitmenschen zu erfahren, was vom Regelmäßiger irgendwie abweicht, nicht
um an ihrem großen oder kleinen Schicksal sympathetischen Anteil zu nehmen,
sondern um davon eine Sensation zu empfangen. Und den in diesem Sinne
nach Neuem Lüsternen dient dann die besondre Klasse der Neuigkeitskrämer.
Solche Neugier ist gewissermaßen eine Karikatur des sympathetischen Interesses
gegenüber dem Leben der Menschen; ja mehr als das, vielfach besiegt und er-


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[0151] Neugier und Wißbegier andern: Getier ist ihr — ist wenigstens einem bestimmten Alter — wertvoller als das schone Landschaftsgebiet der oberitalicinschen Seen oder die großartige Region der Hochalpen. So ist es denn großenteils Sache der Erziehung, der tatsächlichen Erziehung im weitern Sinne, nicht bloß der planmäßig angelegten, ob die Jugend mehr zur Neugier oder zur Wißbegier vorgestimmt ins Leben eintritt. Nun sind ja aber die Schulen da, die Wißbegier zu erwecken, sie zu befriedigen, sie wach zu halten. Nur daß Einrichtung und Leben der Schulen in diesem Punkte auch so viel Gefährdendes mit sich bringen: das Wissensollen ist dem Wissenwollen nicht günstig, das Anregen gelingt lange nicht jedem Lehrenden so leicht, wie man glaubt, die Vereinigung vieler Schüler kann auch herabstimmende Wirkung auf den einzelnen ausüben, fast ebensogut wie be¬ lebende. Und namentlich wird die Mannigfaltigkeit der Unterrichtsfächer und die verlangte Gleichmäßigkeit der Teilnahme dem Gedeihen einer recht lebendigen Wißbegier leicht nachteilig. Gleichwohl bleibt der zusammenhängende Unterricht die zuverlässigste Grundlage für eine wertvolle Wißbegier. Denn dazu gehört doch mehr als die bloße Lust, allerlei Belehrung zu empfangen, sich allerlei Kenntnis zu verschaffen; es gehört dazu der Wille zum Aufbau, zum innern Zusammenhang des Erkannten; das Neue muß sich dem schon Erworbnen an¬ schließen und einfügen, und der innere Besitz muß die Aufnahme neuer Ein¬ drücke erleichtern oder gar erst ermöglichen. Dürfen die zur Aufnahme von Wissen berufnen Schüler nicht mit irgendwelcher Regelmäßigkeit schon als wißbegierig angesehen werden, so ist doch das Maß fruchtbarer Wißbegier, das die Reifen später entwickeln, sehr abhängig eben von der frühen Wissens¬ bildung. Fruchtbare Wißbegier: das mag freilich wieder ein Begriff für sich sein, eine besondre Wertnüance der Wißbegier überhaupt. Aber auf die sehr ver- schiednen Abstufungen und Spielarten der Wißbegier muß überhaupt noch die Rede kommen, ebenso wie die der Neugier; und das oben erwähnte Jneinander- spielen der beiden wird sich dabei weiterhin ergeben. Bei niedrer Bildungs- oder Kulturstufe bleibt überhaupt für den weitem Verlauf des Lebens ein Mittleres zwischen Neugier und Wißbegier, das wir aber vorwiegend als Neugier empfinden werden, übrigens ohne daß sie uns als solche verstimmen könnte. Man wird ja auch der das Volk wie die Jugend erfüllenden Schaulust, die als eine besondre Form der Neugier gelten mag, nicht grollen. Verstimmend wirkt Neugier erst, wo sie einen mehr ethischen als intellektuellen Bildungsdefekt verrät. So ist sie bekanntlich ein Zug im Bilde des Philisters, natürlich nicht bloß des männlichen. Die Frage nach dem, was es Neues gebe, deutet da meist auf das Bedürfnis, aus dem Leben des Mitmenschen zu erfahren, was vom Regelmäßiger irgendwie abweicht, nicht um an ihrem großen oder kleinen Schicksal sympathetischen Anteil zu nehmen, sondern um davon eine Sensation zu empfangen. Und den in diesem Sinne nach Neuem Lüsternen dient dann die besondre Klasse der Neuigkeitskrämer. Solche Neugier ist gewissermaßen eine Karikatur des sympathetischen Interesses gegenüber dem Leben der Menschen; ja mehr als das, vielfach besiegt und er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/151>, abgerufen am 22.12.2024.