Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.Line neue Geschichte Alexanders des Ersten von Rußland Verwaltungen, -landtcige und -gerichte betrafen je ein Gouvernement; ebensolche Diese "Verfassung" wäre doch mehr gewesen, als sie auf den ersten Blick Was sich dem Erlaß dieser Verfassung in den Weg stellte, war neben Line neue Geschichte Alexanders des Ersten von Rußland Verwaltungen, -landtcige und -gerichte betrafen je ein Gouvernement; ebensolche Diese „Verfassung" wäre doch mehr gewesen, als sie auf den ersten Blick Was sich dem Erlaß dieser Verfassung in den Weg stellte, war neben <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0135" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/87613"/> <fw type="header" place="top"> Line neue Geschichte Alexanders des Ersten von Rußland</fw><lb/> <p xml:id="ID_534" prev="#ID_533"> Verwaltungen, -landtcige und -gerichte betrafen je ein Gouvernement; ebensolche<lb/> kleinere Organismen erhielten die Kreise und endlich die kleinsten die Ge¬<lb/> meinden. Damit Hand in Hand sollten die Grundrechte der Einzelnen und die<lb/> Rechte der einzelnen Stande festgelegt werden. Die Grundrechte lauteten:<lb/> „1. Niemand darf ohne gerichtlichen Spruch bestraft werden. 2. Niemand soll<lb/> Persönliche Dienste nach der Willkür eines audern leisten, sondern das Gesetz<lb/> bestimmt je nach dein Stande des Einzelnen die Art des Dienstes, zu dem er ver¬<lb/> pflichtet ist. 3. Jedermann darf bewegliches und unbewegliches Eigentum erwerben<lb/> und darüber auf gesetzlicher Grundlage verfügen. Unbewegliches besiedeltes Grund¬<lb/> eigentum zu erwerben steht jedoch nur bestimmten Ständen zu. 4. Niemand ist<lb/> verpflichtet, materielle Dienste nach Willkür eines andern zu leisten."</p><lb/> <p xml:id="ID_535"> Diese „Verfassung" wäre doch mehr gewesen, als sie auf den ersten Blick<lb/> scheinen will. Vor allen Dingen hätte sie der so dringend notwendigen öffent¬<lb/> lichen Kritik der Verwaltung eine Stätte geboten. Es hätte dann nur von den<lb/> vorhandnen geistigen Kräften abgehangen, diese nutzbringend anzuwenden, sich<lb/> damit unentbehrlich zu machen und damit auch zu weitern Rechten zu kommen.<lb/> Die Kritik Hütte die allmächtige Bureaukratie vom Thron stürzen können. Die<lb/> „unumschränkte" Macht des Zaren hätte sich zuletzt ohne die Zustimmung des<lb/> Reichstags gar nicht mehr handhaben lassen. Die Leibeigenschaft ist ja inzwischen<lb/> ohnedies gefallen, sie wäre schon aufgehoben worden durch die Spercmskische<lb/> Verfassung, wenn diese in Kraft getreten wäre. Wie wertvoll die persönliche<lb/> Freiheit, die Gleichheit vor dem Gesetz geworden wäre, tritt leicht hervor, wenn<lb/> man bedenkt, daß sie noch heute ein Desiderium der vorwärts drängenden<lb/> Elemente ist. Die von Speranski beabsichtigte Justizreform ist ebenfalls noch<lb/> heute eine Sache, die diese vergeblich fordern.</p><lb/> <p xml:id="ID_536"> Was sich dem Erlaß dieser Verfassung in den Weg stellte, war neben<lb/> der Scheu des Monarchen, einen Entschluß zu fassen, und der Schwierig¬<lb/> keit, geeignete Parlamentarier zu finden, ein allmählicher Wechsel in der aus¬<lb/> wärtigen Politik. Im Laufe des Jahres 1810 wandte sich Alexander innerlich<lb/> von Napoleon ab, ohne jedoch äußerlich etwas davon merken zu lassen. Die<lb/> Altrussen waren von jeher Gegner des Bündnisses mit Frankreich gewesen, und<lb/> sie richteten ihre Angriffe gegen Speranski, der den französischen Einfluß ver¬<lb/> körperte. Außerdem war dieser Freimaurer, nicht nur obenhin, die Logen sollten<lb/> helfen, die innere Reform Rußlands durchzuführen. Alexander mißtraute seinem<lb/> einflußreichen Ratgeber nicht und hatte auch keinen Grund dazu, aber er war<lb/> ein abgesagter Gegner aller geheimen Gesellschaften; er befürchtete Jakobinismus<lb/> von ihnen. Bei dieser Abneigung packten ihn die Altrussen, und so mußte denn<lb/> Speranski im März 1812 geopfert werden. Wenn man die Abrechnung mit<lb/> Napoleon als unausbleiblich ansah, so müßte man mindestens einen Aufschub<lb/> der Verfassungspläne als notwendig bezeichnen. Es wurde aber ein vollständiger<lb/> Sturz Speranskis daraus und damit ein Wendepunkt im Leben Alexanders.<lb/> „Die französische Periode seines Regiments mit ihren Hoffnungen, Illusionen,<lb/> Enttäuschungen und Schwankungen hat ihren Abschluß gefunden. Mit der Auf¬<lb/> opferung Speranskis hatte der Kaiser innerlich die Brücken hinter sich abge¬<lb/> brochen. Er schritt bewußt in einen Kampf auf Leben und Tod."</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0135]
Line neue Geschichte Alexanders des Ersten von Rußland
Verwaltungen, -landtcige und -gerichte betrafen je ein Gouvernement; ebensolche
kleinere Organismen erhielten die Kreise und endlich die kleinsten die Ge¬
meinden. Damit Hand in Hand sollten die Grundrechte der Einzelnen und die
Rechte der einzelnen Stande festgelegt werden. Die Grundrechte lauteten:
„1. Niemand darf ohne gerichtlichen Spruch bestraft werden. 2. Niemand soll
Persönliche Dienste nach der Willkür eines audern leisten, sondern das Gesetz
bestimmt je nach dein Stande des Einzelnen die Art des Dienstes, zu dem er ver¬
pflichtet ist. 3. Jedermann darf bewegliches und unbewegliches Eigentum erwerben
und darüber auf gesetzlicher Grundlage verfügen. Unbewegliches besiedeltes Grund¬
eigentum zu erwerben steht jedoch nur bestimmten Ständen zu. 4. Niemand ist
verpflichtet, materielle Dienste nach Willkür eines andern zu leisten."
Diese „Verfassung" wäre doch mehr gewesen, als sie auf den ersten Blick
scheinen will. Vor allen Dingen hätte sie der so dringend notwendigen öffent¬
lichen Kritik der Verwaltung eine Stätte geboten. Es hätte dann nur von den
vorhandnen geistigen Kräften abgehangen, diese nutzbringend anzuwenden, sich
damit unentbehrlich zu machen und damit auch zu weitern Rechten zu kommen.
Die Kritik Hütte die allmächtige Bureaukratie vom Thron stürzen können. Die
„unumschränkte" Macht des Zaren hätte sich zuletzt ohne die Zustimmung des
Reichstags gar nicht mehr handhaben lassen. Die Leibeigenschaft ist ja inzwischen
ohnedies gefallen, sie wäre schon aufgehoben worden durch die Spercmskische
Verfassung, wenn diese in Kraft getreten wäre. Wie wertvoll die persönliche
Freiheit, die Gleichheit vor dem Gesetz geworden wäre, tritt leicht hervor, wenn
man bedenkt, daß sie noch heute ein Desiderium der vorwärts drängenden
Elemente ist. Die von Speranski beabsichtigte Justizreform ist ebenfalls noch
heute eine Sache, die diese vergeblich fordern.
Was sich dem Erlaß dieser Verfassung in den Weg stellte, war neben
der Scheu des Monarchen, einen Entschluß zu fassen, und der Schwierig¬
keit, geeignete Parlamentarier zu finden, ein allmählicher Wechsel in der aus¬
wärtigen Politik. Im Laufe des Jahres 1810 wandte sich Alexander innerlich
von Napoleon ab, ohne jedoch äußerlich etwas davon merken zu lassen. Die
Altrussen waren von jeher Gegner des Bündnisses mit Frankreich gewesen, und
sie richteten ihre Angriffe gegen Speranski, der den französischen Einfluß ver¬
körperte. Außerdem war dieser Freimaurer, nicht nur obenhin, die Logen sollten
helfen, die innere Reform Rußlands durchzuführen. Alexander mißtraute seinem
einflußreichen Ratgeber nicht und hatte auch keinen Grund dazu, aber er war
ein abgesagter Gegner aller geheimen Gesellschaften; er befürchtete Jakobinismus
von ihnen. Bei dieser Abneigung packten ihn die Altrussen, und so mußte denn
Speranski im März 1812 geopfert werden. Wenn man die Abrechnung mit
Napoleon als unausbleiblich ansah, so müßte man mindestens einen Aufschub
der Verfassungspläne als notwendig bezeichnen. Es wurde aber ein vollständiger
Sturz Speranskis daraus und damit ein Wendepunkt im Leben Alexanders.
„Die französische Periode seines Regiments mit ihren Hoffnungen, Illusionen,
Enttäuschungen und Schwankungen hat ihren Abschluß gefunden. Mit der Auf¬
opferung Speranskis hatte der Kaiser innerlich die Brücken hinter sich abge¬
brochen. Er schritt bewußt in einen Kampf auf Leben und Tod."
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