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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Während sich so im lieben Deutschland Einrichtungen, die sich eigentlich von
selbst verstünden, nur langsam und mühsam Bahn brechen, noch jetzt im vierund¬
dreißigsten Jahre des geeinten Reichs, lehren uns die Dinge, die draußen in der
Welt geschehen, daß wir mit der Behäbigkeit, mit der wir uns zu wirtschaftlichen
Neuerungen aufraffen, durchaus nicht auf der Höhe einer schnell vorwärts schreitenden
Zeit stehn. Es hat diese deutsche Schwerfälligkeit in mancher Hinsicht sicherlich ihr
Gutes, aber bei der Lösung von Verkehrsfragen sollte man sich doch darüber klar sein,
daß sie die gesamte Leistungsfähigkeit unsers Wirtschaftslebens beeinflussen, wo wir
ohnehin jeden Nerv anspannen müssen, wenn wir neben andern aufstrebenden Nationen
auf der Höhe bleiben wollen. Wann und wie immer der Friedensschluß in Ostasien
eintreten mag, nach dem Frieden werden wir mit einem gesteigerten Wettbewerb
aller in Ostasien interessierten Nationen rechnen und dazu alle unsre Kräfte zu¬
sammennehmen müssen. Wer draußen im Welthandel unter heutigen Verhältnissen
einen Platz, zumal in der vordersten Reihe, behaupten will, darf zuHanse nicht mit
Einrichtungen rechnen müssen, die eigentlich längst in die historische Rumpelkammer
gehören. Auf diesem Gebiete sind bei uns noch manche Lorbeeren zu erwerben,
leider ist es in Deutschland immer erst die Not, die uns beten lehrt. Der Haupt¬
widerstand liegt in allen diesen Dingen fast immer bei der Bureaukratie der Einzel¬
staaten, die uoch immer auf dem Standpunkt steht, daß sie um ihrer selbst willen
da sei, nud demgemäß Verkehrsfragen als Machtfragen behandelt und entscheidet.
Wollen wir Deutschland nicht zum Range von Holland und Spanien, zur Macht
zweiten Ranges, hinabsinken sehen, so müssen wir uns klar machen, daß sich das
Deutsche Reich neben England und Amerika, zu denen sich noch das aufstrebende
Japan gesellt, nur durch Anspannung und Konzentrierung aller seiner Kräfte be¬
haupten kann. Wie weit wir aber von dieser Erkenntnis noch entfernt sind, lehrt
der Reichstag. Es ist eine recht auffällige Erscheinung, daß der Reichstag diesem
gewaltigen Pulsschlag im Völkerleben völlig fremd und gleichgiltig gegenübersteht.
Weder betätigt er eine Initiative auf diesem Gebiete, noch leistet er der Initiative
der Regierung eine verständnisvolle Unterstützung; während eigentlich die Volks¬
vertretung der drängende und die Regierung der prüfend zurückhaltende Teil sein
sollte. Die Inferiorität unsrer Volksvertretung in diesen Dingen beruht -- abge¬
sehen von dem übermäßigen Anteil der Sozialdemokratie -- in dem Umstände,
daß die einzelnen Fraktionen und ihre Mitglieder noch in den Eierschalen irgend¬
welcher längst aufgetragnen Konfliktsperioden stecken, zum Teil auch so beschränkt sind,
daß sie über den engen Horizont der Parteiinteressen nicht Hinausznsehen vermögen.
Nicht oft genug kann daraus hingewiesen werden, daß uns im Reichstag Leute, die
etwas von der Welt gesehen haben, vollständig fehlen. Der eine oder der andre
hat vielleicht eine Mittelmeerfahrt mitgemacht oder gar die Ausstellung in Se. Louis
besucht, das genügt aber nicht, einen Einblick in die deutschen Überseeinteressen zu
gewinnen. Es wäre vou hohem Werte, wenn alljährlich mindestens ein
Dutzend Volksvertreter auf Reichskosten nach Ostasien ginge und mit
den dortigen Deutschen enge Fühlung nähme, ebenso wie die Frage zu erwägen
wäre, ob nicht in Schanghai eine deutsche Handelskammer organisiert und jedem
deutschen Generalkonsulat, so weit es ausführbar wäre, eine seinen gesamten Amts¬
bezirk umfassende Handelskammer zur Seite gestellt werden sollte. Gelänge eine
solche Organisation, so könnte der weitern Frage nahegetreten werden, ob diese
Handelskammerbezirke nicht auch als Wahlbezirke zum Reichstage konstituiert werden
könnten. In Bremen und Hamburg sind genug tüchtige Männer, die früher in andern
Weltteilen gelebt haben; ans diese könnte gegebnenfalls die Wahl gelenkt werden.
Der Kaiser hat am 18. Januar 1896 gerade auch den Reichstag aufgefordert,
ihm zu helfen "dieses größere Deutschland -- die Deutschen im Auslande --
fest an das heimische zu gliedern"; durch die Konstituierung solcher Wahl¬
bezirke, die es den Deutschen im Auslande ermöglichten, intensiver an der Gesetz¬
gebung und der Entwicklung der Heimat mitzuwirken, würde ein großer Schritt
in dieser Richtung geschehen. Im heutigen Reichstage ist niemand, der früher in


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Während sich so im lieben Deutschland Einrichtungen, die sich eigentlich von
selbst verstünden, nur langsam und mühsam Bahn brechen, noch jetzt im vierund¬
dreißigsten Jahre des geeinten Reichs, lehren uns die Dinge, die draußen in der
Welt geschehen, daß wir mit der Behäbigkeit, mit der wir uns zu wirtschaftlichen
Neuerungen aufraffen, durchaus nicht auf der Höhe einer schnell vorwärts schreitenden
Zeit stehn. Es hat diese deutsche Schwerfälligkeit in mancher Hinsicht sicherlich ihr
Gutes, aber bei der Lösung von Verkehrsfragen sollte man sich doch darüber klar sein,
daß sie die gesamte Leistungsfähigkeit unsers Wirtschaftslebens beeinflussen, wo wir
ohnehin jeden Nerv anspannen müssen, wenn wir neben andern aufstrebenden Nationen
auf der Höhe bleiben wollen. Wann und wie immer der Friedensschluß in Ostasien
eintreten mag, nach dem Frieden werden wir mit einem gesteigerten Wettbewerb
aller in Ostasien interessierten Nationen rechnen und dazu alle unsre Kräfte zu¬
sammennehmen müssen. Wer draußen im Welthandel unter heutigen Verhältnissen
einen Platz, zumal in der vordersten Reihe, behaupten will, darf zuHanse nicht mit
Einrichtungen rechnen müssen, die eigentlich längst in die historische Rumpelkammer
gehören. Auf diesem Gebiete sind bei uns noch manche Lorbeeren zu erwerben,
leider ist es in Deutschland immer erst die Not, die uns beten lehrt. Der Haupt¬
widerstand liegt in allen diesen Dingen fast immer bei der Bureaukratie der Einzel¬
staaten, die uoch immer auf dem Standpunkt steht, daß sie um ihrer selbst willen
da sei, nud demgemäß Verkehrsfragen als Machtfragen behandelt und entscheidet.
Wollen wir Deutschland nicht zum Range von Holland und Spanien, zur Macht
zweiten Ranges, hinabsinken sehen, so müssen wir uns klar machen, daß sich das
Deutsche Reich neben England und Amerika, zu denen sich noch das aufstrebende
Japan gesellt, nur durch Anspannung und Konzentrierung aller seiner Kräfte be¬
haupten kann. Wie weit wir aber von dieser Erkenntnis noch entfernt sind, lehrt
der Reichstag. Es ist eine recht auffällige Erscheinung, daß der Reichstag diesem
gewaltigen Pulsschlag im Völkerleben völlig fremd und gleichgiltig gegenübersteht.
Weder betätigt er eine Initiative auf diesem Gebiete, noch leistet er der Initiative
der Regierung eine verständnisvolle Unterstützung; während eigentlich die Volks¬
vertretung der drängende und die Regierung der prüfend zurückhaltende Teil sein
sollte. Die Inferiorität unsrer Volksvertretung in diesen Dingen beruht — abge¬
sehen von dem übermäßigen Anteil der Sozialdemokratie — in dem Umstände,
daß die einzelnen Fraktionen und ihre Mitglieder noch in den Eierschalen irgend¬
welcher längst aufgetragnen Konfliktsperioden stecken, zum Teil auch so beschränkt sind,
daß sie über den engen Horizont der Parteiinteressen nicht Hinausznsehen vermögen.
Nicht oft genug kann daraus hingewiesen werden, daß uns im Reichstag Leute, die
etwas von der Welt gesehen haben, vollständig fehlen. Der eine oder der andre
hat vielleicht eine Mittelmeerfahrt mitgemacht oder gar die Ausstellung in Se. Louis
besucht, das genügt aber nicht, einen Einblick in die deutschen Überseeinteressen zu
gewinnen. Es wäre vou hohem Werte, wenn alljährlich mindestens ein
Dutzend Volksvertreter auf Reichskosten nach Ostasien ginge und mit
den dortigen Deutschen enge Fühlung nähme, ebenso wie die Frage zu erwägen
wäre, ob nicht in Schanghai eine deutsche Handelskammer organisiert und jedem
deutschen Generalkonsulat, so weit es ausführbar wäre, eine seinen gesamten Amts¬
bezirk umfassende Handelskammer zur Seite gestellt werden sollte. Gelänge eine
solche Organisation, so könnte der weitern Frage nahegetreten werden, ob diese
Handelskammerbezirke nicht auch als Wahlbezirke zum Reichstage konstituiert werden
könnten. In Bremen und Hamburg sind genug tüchtige Männer, die früher in andern
Weltteilen gelebt haben; ans diese könnte gegebnenfalls die Wahl gelenkt werden.
Der Kaiser hat am 18. Januar 1896 gerade auch den Reichstag aufgefordert,
ihm zu helfen „dieses größere Deutschland — die Deutschen im Auslande —
fest an das heimische zu gliedern"; durch die Konstituierung solcher Wahl¬
bezirke, die es den Deutschen im Auslande ermöglichten, intensiver an der Gesetz¬
gebung und der Entwicklung der Heimat mitzuwirken, würde ein großer Schritt
in dieser Richtung geschehen. Im heutigen Reichstage ist niemand, der früher in


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[0124] Maßgebliches und Unmaßgebliches Während sich so im lieben Deutschland Einrichtungen, die sich eigentlich von selbst verstünden, nur langsam und mühsam Bahn brechen, noch jetzt im vierund¬ dreißigsten Jahre des geeinten Reichs, lehren uns die Dinge, die draußen in der Welt geschehen, daß wir mit der Behäbigkeit, mit der wir uns zu wirtschaftlichen Neuerungen aufraffen, durchaus nicht auf der Höhe einer schnell vorwärts schreitenden Zeit stehn. Es hat diese deutsche Schwerfälligkeit in mancher Hinsicht sicherlich ihr Gutes, aber bei der Lösung von Verkehrsfragen sollte man sich doch darüber klar sein, daß sie die gesamte Leistungsfähigkeit unsers Wirtschaftslebens beeinflussen, wo wir ohnehin jeden Nerv anspannen müssen, wenn wir neben andern aufstrebenden Nationen auf der Höhe bleiben wollen. Wann und wie immer der Friedensschluß in Ostasien eintreten mag, nach dem Frieden werden wir mit einem gesteigerten Wettbewerb aller in Ostasien interessierten Nationen rechnen und dazu alle unsre Kräfte zu¬ sammennehmen müssen. Wer draußen im Welthandel unter heutigen Verhältnissen einen Platz, zumal in der vordersten Reihe, behaupten will, darf zuHanse nicht mit Einrichtungen rechnen müssen, die eigentlich längst in die historische Rumpelkammer gehören. Auf diesem Gebiete sind bei uns noch manche Lorbeeren zu erwerben, leider ist es in Deutschland immer erst die Not, die uns beten lehrt. Der Haupt¬ widerstand liegt in allen diesen Dingen fast immer bei der Bureaukratie der Einzel¬ staaten, die uoch immer auf dem Standpunkt steht, daß sie um ihrer selbst willen da sei, nud demgemäß Verkehrsfragen als Machtfragen behandelt und entscheidet. Wollen wir Deutschland nicht zum Range von Holland und Spanien, zur Macht zweiten Ranges, hinabsinken sehen, so müssen wir uns klar machen, daß sich das Deutsche Reich neben England und Amerika, zu denen sich noch das aufstrebende Japan gesellt, nur durch Anspannung und Konzentrierung aller seiner Kräfte be¬ haupten kann. Wie weit wir aber von dieser Erkenntnis noch entfernt sind, lehrt der Reichstag. Es ist eine recht auffällige Erscheinung, daß der Reichstag diesem gewaltigen Pulsschlag im Völkerleben völlig fremd und gleichgiltig gegenübersteht. Weder betätigt er eine Initiative auf diesem Gebiete, noch leistet er der Initiative der Regierung eine verständnisvolle Unterstützung; während eigentlich die Volks¬ vertretung der drängende und die Regierung der prüfend zurückhaltende Teil sein sollte. Die Inferiorität unsrer Volksvertretung in diesen Dingen beruht — abge¬ sehen von dem übermäßigen Anteil der Sozialdemokratie — in dem Umstände, daß die einzelnen Fraktionen und ihre Mitglieder noch in den Eierschalen irgend¬ welcher längst aufgetragnen Konfliktsperioden stecken, zum Teil auch so beschränkt sind, daß sie über den engen Horizont der Parteiinteressen nicht Hinausznsehen vermögen. Nicht oft genug kann daraus hingewiesen werden, daß uns im Reichstag Leute, die etwas von der Welt gesehen haben, vollständig fehlen. Der eine oder der andre hat vielleicht eine Mittelmeerfahrt mitgemacht oder gar die Ausstellung in Se. Louis besucht, das genügt aber nicht, einen Einblick in die deutschen Überseeinteressen zu gewinnen. Es wäre vou hohem Werte, wenn alljährlich mindestens ein Dutzend Volksvertreter auf Reichskosten nach Ostasien ginge und mit den dortigen Deutschen enge Fühlung nähme, ebenso wie die Frage zu erwägen wäre, ob nicht in Schanghai eine deutsche Handelskammer organisiert und jedem deutschen Generalkonsulat, so weit es ausführbar wäre, eine seinen gesamten Amts¬ bezirk umfassende Handelskammer zur Seite gestellt werden sollte. Gelänge eine solche Organisation, so könnte der weitern Frage nahegetreten werden, ob diese Handelskammerbezirke nicht auch als Wahlbezirke zum Reichstage konstituiert werden könnten. In Bremen und Hamburg sind genug tüchtige Männer, die früher in andern Weltteilen gelebt haben; ans diese könnte gegebnenfalls die Wahl gelenkt werden. Der Kaiser hat am 18. Januar 1896 gerade auch den Reichstag aufgefordert, ihm zu helfen „dieses größere Deutschland — die Deutschen im Auslande — fest an das heimische zu gliedern"; durch die Konstituierung solcher Wahl¬ bezirke, die es den Deutschen im Auslande ermöglichten, intensiver an der Gesetz¬ gebung und der Entwicklung der Heimat mitzuwirken, würde ein großer Schritt in dieser Richtung geschehen. Im heutigen Reichstage ist niemand, der früher in

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/124>, abgerufen am 23.07.2024.