Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
von der Neichshauptstcidt nach dem Riesengebirge durch die Luft

Reizen gegenüber, ja davon läßt sich durch Worte nur eine schwache Vor¬
stellung geben!

Was das Erklimmen von Alpengipfeln so verlockend macht, "auf den
Bergen ist Freiheit," das gilt in viel höherm Maße von der Luftschiffahrt.
Nicht bloß für das leibliche Auge erweitert sich der Gesichtskreis. Die Erde
scheint immer mehr zurückzuweichen, wenn sich der Ballon erhebt, immer kleiner
werden die Gegenstände, als wenn wir, durch ein Fernrohr schauend, dieses
langsam schärfer stellen, mächtige Gebäude schwinden zu winzigen Figürchen
zusammen und verflachen sich, nnr ihr Schattenbild läßt bei schrägstchender
Sonne auf ihr Höheuverhültnis einen Schluß zu, immer ausgedehnter wird
die Reliefkarte, die sich zu unsern Füßen ausbreitet, nach der Mitte zu schein¬
bar etwas vertieft, nach den Rändern sanft ansteigend, immer weniger haftet
das Auge an Einzelheiten, sondern wendet sich entzückt der Betrachtung
größerer Landschaftsbilder zu, vou denen Städte, weite Forste und umfang¬
reiche Seen nur kleine Bestandteile sind. Da schwinden auch all die kleinlichen
Sorgen und Rücksichten, die uns da unten bewegten, mehr und mehr. Mag
das Herz von Kummer und Leid noch so schwer niedergebeugt sein, hier fühlt
es sich freier und leichter in dieser erhabnen Stille und Einsamkeit, von der
wir auf der Erde, auch auf Bergeshöhen, kaum eine Ahnung haben können.
Sogar der Lärm einer großen Stadt dringt zunächst nur gedämpft an unser
Ohr, dann verstummt er ganz, und eine Höhe von etwa drei- bis viertausend
Metern vermag auch der zudringlichste Laut, der schrillste Lokomotivenpfiff
nicht mehr zu erreichen. Wie feierlich und zur Andacht stimmend das ist, auch
der Heiterste von Natur, hier wird er ernst. Die Gedanken nehmen den höhern
Flug mit auf und suchen in die Unendlichkeit des Weltalls einzudringen, sie
möchten den höchsten Fragen nachsinnen, die den Menschen bewegen können.
Also wagen wirs nur, uns diesen einzigartigen Genuß, diese wahre Erhebung
auch für Geist und Herz zu verschaffen, mag auch der oder jener deswegen
an uns irre werden, vielleicht gar vermuten, daß an dem über unserm eignen
Rumpf schwebenden Fesselballon die Reißleine gezogen sei.

Wie glücklich wäre Goethe gewesen, wenn ers so leicht gehabt hätte wie
wir, seinen sehnlicher Wunsch sich zu erfüllen, den er so oft in Prosa und
Versen ausspricht, mit Fittichen des Adlers auffahren und die Welt aus der
Höhe betrachten zu können:


Ach, zu des Geistes Flügeln wird so leicht
Kein körperlicher Flügel sich gesellen.

Ihm blieb nur der schwache Ersatz:


Grenzboten I 1905 18
von der Neichshauptstcidt nach dem Riesengebirge durch die Luft

Reizen gegenüber, ja davon läßt sich durch Worte nur eine schwache Vor¬
stellung geben!

Was das Erklimmen von Alpengipfeln so verlockend macht, „auf den
Bergen ist Freiheit," das gilt in viel höherm Maße von der Luftschiffahrt.
Nicht bloß für das leibliche Auge erweitert sich der Gesichtskreis. Die Erde
scheint immer mehr zurückzuweichen, wenn sich der Ballon erhebt, immer kleiner
werden die Gegenstände, als wenn wir, durch ein Fernrohr schauend, dieses
langsam schärfer stellen, mächtige Gebäude schwinden zu winzigen Figürchen
zusammen und verflachen sich, nnr ihr Schattenbild läßt bei schrägstchender
Sonne auf ihr Höheuverhültnis einen Schluß zu, immer ausgedehnter wird
die Reliefkarte, die sich zu unsern Füßen ausbreitet, nach der Mitte zu schein¬
bar etwas vertieft, nach den Rändern sanft ansteigend, immer weniger haftet
das Auge an Einzelheiten, sondern wendet sich entzückt der Betrachtung
größerer Landschaftsbilder zu, vou denen Städte, weite Forste und umfang¬
reiche Seen nur kleine Bestandteile sind. Da schwinden auch all die kleinlichen
Sorgen und Rücksichten, die uns da unten bewegten, mehr und mehr. Mag
das Herz von Kummer und Leid noch so schwer niedergebeugt sein, hier fühlt
es sich freier und leichter in dieser erhabnen Stille und Einsamkeit, von der
wir auf der Erde, auch auf Bergeshöhen, kaum eine Ahnung haben können.
Sogar der Lärm einer großen Stadt dringt zunächst nur gedämpft an unser
Ohr, dann verstummt er ganz, und eine Höhe von etwa drei- bis viertausend
Metern vermag auch der zudringlichste Laut, der schrillste Lokomotivenpfiff
nicht mehr zu erreichen. Wie feierlich und zur Andacht stimmend das ist, auch
der Heiterste von Natur, hier wird er ernst. Die Gedanken nehmen den höhern
Flug mit auf und suchen in die Unendlichkeit des Weltalls einzudringen, sie
möchten den höchsten Fragen nachsinnen, die den Menschen bewegen können.
Also wagen wirs nur, uns diesen einzigartigen Genuß, diese wahre Erhebung
auch für Geist und Herz zu verschaffen, mag auch der oder jener deswegen
an uns irre werden, vielleicht gar vermuten, daß an dem über unserm eignen
Rumpf schwebenden Fesselballon die Reißleine gezogen sei.

Wie glücklich wäre Goethe gewesen, wenn ers so leicht gehabt hätte wie
wir, seinen sehnlicher Wunsch sich zu erfüllen, den er so oft in Prosa und
Versen ausspricht, mit Fittichen des Adlers auffahren und die Welt aus der
Höhe betrachten zu können:


Ach, zu des Geistes Flügeln wird so leicht
Kein körperlicher Flügel sich gesellen.

Ihm blieb nur der schwache Ersatz:


Grenzboten I 1905 18
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0101" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/87578"/>
          <fw type="header" place="top"> von der Neichshauptstcidt nach dem Riesengebirge durch die Luft</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_347" prev="#ID_346"> Reizen gegenüber, ja davon läßt sich durch Worte nur eine schwache Vor¬<lb/>
stellung geben!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_348"> Was das Erklimmen von Alpengipfeln so verlockend macht, &#x201E;auf den<lb/>
Bergen ist Freiheit," das gilt in viel höherm Maße von der Luftschiffahrt.<lb/>
Nicht bloß für das leibliche Auge erweitert sich der Gesichtskreis. Die Erde<lb/>
scheint immer mehr zurückzuweichen, wenn sich der Ballon erhebt, immer kleiner<lb/>
werden die Gegenstände, als wenn wir, durch ein Fernrohr schauend, dieses<lb/>
langsam schärfer stellen, mächtige Gebäude schwinden zu winzigen Figürchen<lb/>
zusammen und verflachen sich, nnr ihr Schattenbild läßt bei schrägstchender<lb/>
Sonne auf ihr Höheuverhültnis einen Schluß zu, immer ausgedehnter wird<lb/>
die Reliefkarte, die sich zu unsern Füßen ausbreitet, nach der Mitte zu schein¬<lb/>
bar etwas vertieft, nach den Rändern sanft ansteigend, immer weniger haftet<lb/>
das Auge an Einzelheiten, sondern wendet sich entzückt der Betrachtung<lb/>
größerer Landschaftsbilder zu, vou denen Städte, weite Forste und umfang¬<lb/>
reiche Seen nur kleine Bestandteile sind. Da schwinden auch all die kleinlichen<lb/>
Sorgen und Rücksichten, die uns da unten bewegten, mehr und mehr. Mag<lb/>
das Herz von Kummer und Leid noch so schwer niedergebeugt sein, hier fühlt<lb/>
es sich freier und leichter in dieser erhabnen Stille und Einsamkeit, von der<lb/>
wir auf der Erde, auch auf Bergeshöhen, kaum eine Ahnung haben können.<lb/>
Sogar der Lärm einer großen Stadt dringt zunächst nur gedämpft an unser<lb/>
Ohr, dann verstummt er ganz, und eine Höhe von etwa drei- bis viertausend<lb/>
Metern vermag auch der zudringlichste Laut, der schrillste Lokomotivenpfiff<lb/>
nicht mehr zu erreichen. Wie feierlich und zur Andacht stimmend das ist, auch<lb/>
der Heiterste von Natur, hier wird er ernst. Die Gedanken nehmen den höhern<lb/>
Flug mit auf und suchen in die Unendlichkeit des Weltalls einzudringen, sie<lb/>
möchten den höchsten Fragen nachsinnen, die den Menschen bewegen können.<lb/>
Also wagen wirs nur, uns diesen einzigartigen Genuß, diese wahre Erhebung<lb/>
auch für Geist und Herz zu verschaffen, mag auch der oder jener deswegen<lb/>
an uns irre werden, vielleicht gar vermuten, daß an dem über unserm eignen<lb/>
Rumpf schwebenden Fesselballon die Reißleine gezogen sei.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_349" next="#ID_350"> Wie glücklich wäre Goethe gewesen, wenn ers so leicht gehabt hätte wie<lb/>
wir, seinen sehnlicher Wunsch sich zu erfüllen, den er so oft in Prosa und<lb/>
Versen ausspricht, mit Fittichen des Adlers auffahren und die Welt aus der<lb/>
Höhe betrachten zu können:</p><lb/>
          <quote> Ach, zu des Geistes Flügeln wird so leicht<lb/>
Kein körperlicher Flügel sich gesellen.</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_350" prev="#ID_349"> Ihm blieb nur der schwache Ersatz:</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_1" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1905 18</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0101] von der Neichshauptstcidt nach dem Riesengebirge durch die Luft Reizen gegenüber, ja davon läßt sich durch Worte nur eine schwache Vor¬ stellung geben! Was das Erklimmen von Alpengipfeln so verlockend macht, „auf den Bergen ist Freiheit," das gilt in viel höherm Maße von der Luftschiffahrt. Nicht bloß für das leibliche Auge erweitert sich der Gesichtskreis. Die Erde scheint immer mehr zurückzuweichen, wenn sich der Ballon erhebt, immer kleiner werden die Gegenstände, als wenn wir, durch ein Fernrohr schauend, dieses langsam schärfer stellen, mächtige Gebäude schwinden zu winzigen Figürchen zusammen und verflachen sich, nnr ihr Schattenbild läßt bei schrägstchender Sonne auf ihr Höheuverhültnis einen Schluß zu, immer ausgedehnter wird die Reliefkarte, die sich zu unsern Füßen ausbreitet, nach der Mitte zu schein¬ bar etwas vertieft, nach den Rändern sanft ansteigend, immer weniger haftet das Auge an Einzelheiten, sondern wendet sich entzückt der Betrachtung größerer Landschaftsbilder zu, vou denen Städte, weite Forste und umfang¬ reiche Seen nur kleine Bestandteile sind. Da schwinden auch all die kleinlichen Sorgen und Rücksichten, die uns da unten bewegten, mehr und mehr. Mag das Herz von Kummer und Leid noch so schwer niedergebeugt sein, hier fühlt es sich freier und leichter in dieser erhabnen Stille und Einsamkeit, von der wir auf der Erde, auch auf Bergeshöhen, kaum eine Ahnung haben können. Sogar der Lärm einer großen Stadt dringt zunächst nur gedämpft an unser Ohr, dann verstummt er ganz, und eine Höhe von etwa drei- bis viertausend Metern vermag auch der zudringlichste Laut, der schrillste Lokomotivenpfiff nicht mehr zu erreichen. Wie feierlich und zur Andacht stimmend das ist, auch der Heiterste von Natur, hier wird er ernst. Die Gedanken nehmen den höhern Flug mit auf und suchen in die Unendlichkeit des Weltalls einzudringen, sie möchten den höchsten Fragen nachsinnen, die den Menschen bewegen können. Also wagen wirs nur, uns diesen einzigartigen Genuß, diese wahre Erhebung auch für Geist und Herz zu verschaffen, mag auch der oder jener deswegen an uns irre werden, vielleicht gar vermuten, daß an dem über unserm eignen Rumpf schwebenden Fesselballon die Reißleine gezogen sei. Wie glücklich wäre Goethe gewesen, wenn ers so leicht gehabt hätte wie wir, seinen sehnlicher Wunsch sich zu erfüllen, den er so oft in Prosa und Versen ausspricht, mit Fittichen des Adlers auffahren und die Welt aus der Höhe betrachten zu können: Ach, zu des Geistes Flügeln wird so leicht Kein körperlicher Flügel sich gesellen. Ihm blieb nur der schwache Ersatz: Grenzboten I 1905 18

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/101
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/101>, abgerufen am 22.12.2024.