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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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ZVichern und die Gefängnisreform

er ihm nur dann etwas sein kann, wenn der tiefste Klang der Menschenseele
auch in ihm klingt, wenn er ein religiöser Mensch ist. Doch wird er mit dem
religiösen Wort vorsichtig umgehn müssen, es mit der zarten Scheu eines Mannes
anwenden, der solche Dinge nicht berufsmäßig, sondern nur etwa im engen
Familienkreise oder unter nahestehenden Menschen bespricht. Und sein Wort
wird dann um so tiefer wirken, je deutlicher der Gefangne fühlt: jetzt redet
nicht der Beamte zum Gefangnen, sondern der Mensch zum Menschen, der
Christ zum Christen. Das Kapitel der Pflege religiösen Lebens ist eins der
schwierigsten Kapitel, wie des Buches vom Menschenleben überhaupt, so be¬
sonders auch des Buchs vom gefangnen Menschen. Auch die kirchliche Gefangnen-
Pflege wird erst dann ihren vollen Segen entfalten, wenn sie von dem Gefangnen
als eine Lebensäußerung der außerhalb des Strafvollzugs stehenden Kirche und
Gemeinde aufgefaßt wird.

Es steht nun allerdings fest, daß Wiehern ganz und gar nicht daran
dachte, seine Aufseher zu Missionaren zu machen, er wünschte nur, daß sie Per¬
sonen von festem religiösem Halt seien, im übrigen aber sollten sie, sowie sie
soldatische oder vielmehr obrigkeitliche Kleidung trugen, auch eine soldatische und
obrigkeitliche Haltung haben. Der Strafanstaltsdienst ist ein obrigkeitlicher
Dienst, so sagt er, und er kann nicht im Frack und auch wohl nicht in der
Kutte geschehen, sondern muß als Strafanstaltsdienst in militärischer Haltung
ausgeführt werden.

Ist Wieherns Schöpfung an dieser Stelle zusammengebrochen, so ist sein
Wirken dennoch auch hier nicht vergeblich gewesen. Er hat in den Strafvollzug
einen neuen Geist getragen und eine neue Anschauung von der schweren und
ernsten Aufgabe, die die Vollstreckung der Freiheitsstrafe stellt. Und er hat auf
dem allerdings kleinen, aber weithin sichtbaren Versuchsfelde der Strafanstalt
in Moabit in vorbildlicher Weise gezeigt, was geleistet werden muß, und was
geleistet werden kann.

Die starken Anregungen, die Wiehern dem Gefängniswesen gegeben hat,
sind zunächst in der Verwaltung, der er selbst angehörte, der des Ministeriums
des Innern, wirksam geworden. Das Einzelhaftsystem nach den Richtlinien,
die König Friedrich Wilhelm der Vierte gezogen hatte, so weit als möglich
durchzuführen, haben sich seine Nachfolger in der Gefängnisleitung vielfach unter
den Hemmnissen ungünstiger politischer und finanzieller Verhältnisse zum festen
Ziele gemacht, und die Weiterführung des Gefäugniswesens und sein Anpassen
an die Aufgaben der neuen Zeiten ist im wesentlichen ein Ausführen des gro߬
artigen königlichen Programms gewesen, das die Gefängnisreform in Preußen
in Gang gebracht hat.") Die Ausbreitung der Wichernschen Gedanken über
das gesamte preußische Gefängniswesen hin hinderte dagegen der bekannte
Dualismus in der Leitung der preußischen Gefängnisverwaltung, den Wiehern
als einen der größten Mängel der bisherigen Gefängniseinrichtung bezeichnet.
Er hat sich über diese neuerdings wieder eifrig erörterte Angelegenheit ebenfalls



Krohne, Die Strafanstalten und Gefängnisse in Preußen. Berlin, Heumanns Ver¬
lag. 1901.
ZVichern und die Gefängnisreform

er ihm nur dann etwas sein kann, wenn der tiefste Klang der Menschenseele
auch in ihm klingt, wenn er ein religiöser Mensch ist. Doch wird er mit dem
religiösen Wort vorsichtig umgehn müssen, es mit der zarten Scheu eines Mannes
anwenden, der solche Dinge nicht berufsmäßig, sondern nur etwa im engen
Familienkreise oder unter nahestehenden Menschen bespricht. Und sein Wort
wird dann um so tiefer wirken, je deutlicher der Gefangne fühlt: jetzt redet
nicht der Beamte zum Gefangnen, sondern der Mensch zum Menschen, der
Christ zum Christen. Das Kapitel der Pflege religiösen Lebens ist eins der
schwierigsten Kapitel, wie des Buches vom Menschenleben überhaupt, so be¬
sonders auch des Buchs vom gefangnen Menschen. Auch die kirchliche Gefangnen-
Pflege wird erst dann ihren vollen Segen entfalten, wenn sie von dem Gefangnen
als eine Lebensäußerung der außerhalb des Strafvollzugs stehenden Kirche und
Gemeinde aufgefaßt wird.

Es steht nun allerdings fest, daß Wiehern ganz und gar nicht daran
dachte, seine Aufseher zu Missionaren zu machen, er wünschte nur, daß sie Per¬
sonen von festem religiösem Halt seien, im übrigen aber sollten sie, sowie sie
soldatische oder vielmehr obrigkeitliche Kleidung trugen, auch eine soldatische und
obrigkeitliche Haltung haben. Der Strafanstaltsdienst ist ein obrigkeitlicher
Dienst, so sagt er, und er kann nicht im Frack und auch wohl nicht in der
Kutte geschehen, sondern muß als Strafanstaltsdienst in militärischer Haltung
ausgeführt werden.

Ist Wieherns Schöpfung an dieser Stelle zusammengebrochen, so ist sein
Wirken dennoch auch hier nicht vergeblich gewesen. Er hat in den Strafvollzug
einen neuen Geist getragen und eine neue Anschauung von der schweren und
ernsten Aufgabe, die die Vollstreckung der Freiheitsstrafe stellt. Und er hat auf
dem allerdings kleinen, aber weithin sichtbaren Versuchsfelde der Strafanstalt
in Moabit in vorbildlicher Weise gezeigt, was geleistet werden muß, und was
geleistet werden kann.

Die starken Anregungen, die Wiehern dem Gefängniswesen gegeben hat,
sind zunächst in der Verwaltung, der er selbst angehörte, der des Ministeriums
des Innern, wirksam geworden. Das Einzelhaftsystem nach den Richtlinien,
die König Friedrich Wilhelm der Vierte gezogen hatte, so weit als möglich
durchzuführen, haben sich seine Nachfolger in der Gefängnisleitung vielfach unter
den Hemmnissen ungünstiger politischer und finanzieller Verhältnisse zum festen
Ziele gemacht, und die Weiterführung des Gefäugniswesens und sein Anpassen
an die Aufgaben der neuen Zeiten ist im wesentlichen ein Ausführen des gro߬
artigen königlichen Programms gewesen, das die Gefängnisreform in Preußen
in Gang gebracht hat.") Die Ausbreitung der Wichernschen Gedanken über
das gesamte preußische Gefängniswesen hin hinderte dagegen der bekannte
Dualismus in der Leitung der preußischen Gefängnisverwaltung, den Wiehern
als einen der größten Mängel der bisherigen Gefängniseinrichtung bezeichnet.
Er hat sich über diese neuerdings wieder eifrig erörterte Angelegenheit ebenfalls



Krohne, Die Strafanstalten und Gefängnisse in Preußen. Berlin, Heumanns Ver¬
lag. 1901.
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[0695] ZVichern und die Gefängnisreform er ihm nur dann etwas sein kann, wenn der tiefste Klang der Menschenseele auch in ihm klingt, wenn er ein religiöser Mensch ist. Doch wird er mit dem religiösen Wort vorsichtig umgehn müssen, es mit der zarten Scheu eines Mannes anwenden, der solche Dinge nicht berufsmäßig, sondern nur etwa im engen Familienkreise oder unter nahestehenden Menschen bespricht. Und sein Wort wird dann um so tiefer wirken, je deutlicher der Gefangne fühlt: jetzt redet nicht der Beamte zum Gefangnen, sondern der Mensch zum Menschen, der Christ zum Christen. Das Kapitel der Pflege religiösen Lebens ist eins der schwierigsten Kapitel, wie des Buches vom Menschenleben überhaupt, so be¬ sonders auch des Buchs vom gefangnen Menschen. Auch die kirchliche Gefangnen- Pflege wird erst dann ihren vollen Segen entfalten, wenn sie von dem Gefangnen als eine Lebensäußerung der außerhalb des Strafvollzugs stehenden Kirche und Gemeinde aufgefaßt wird. Es steht nun allerdings fest, daß Wiehern ganz und gar nicht daran dachte, seine Aufseher zu Missionaren zu machen, er wünschte nur, daß sie Per¬ sonen von festem religiösem Halt seien, im übrigen aber sollten sie, sowie sie soldatische oder vielmehr obrigkeitliche Kleidung trugen, auch eine soldatische und obrigkeitliche Haltung haben. Der Strafanstaltsdienst ist ein obrigkeitlicher Dienst, so sagt er, und er kann nicht im Frack und auch wohl nicht in der Kutte geschehen, sondern muß als Strafanstaltsdienst in militärischer Haltung ausgeführt werden. Ist Wieherns Schöpfung an dieser Stelle zusammengebrochen, so ist sein Wirken dennoch auch hier nicht vergeblich gewesen. Er hat in den Strafvollzug einen neuen Geist getragen und eine neue Anschauung von der schweren und ernsten Aufgabe, die die Vollstreckung der Freiheitsstrafe stellt. Und er hat auf dem allerdings kleinen, aber weithin sichtbaren Versuchsfelde der Strafanstalt in Moabit in vorbildlicher Weise gezeigt, was geleistet werden muß, und was geleistet werden kann. Die starken Anregungen, die Wiehern dem Gefängniswesen gegeben hat, sind zunächst in der Verwaltung, der er selbst angehörte, der des Ministeriums des Innern, wirksam geworden. Das Einzelhaftsystem nach den Richtlinien, die König Friedrich Wilhelm der Vierte gezogen hatte, so weit als möglich durchzuführen, haben sich seine Nachfolger in der Gefängnisleitung vielfach unter den Hemmnissen ungünstiger politischer und finanzieller Verhältnisse zum festen Ziele gemacht, und die Weiterführung des Gefäugniswesens und sein Anpassen an die Aufgaben der neuen Zeiten ist im wesentlichen ein Ausführen des gro߬ artigen königlichen Programms gewesen, das die Gefängnisreform in Preußen in Gang gebracht hat.") Die Ausbreitung der Wichernschen Gedanken über das gesamte preußische Gefängniswesen hin hinderte dagegen der bekannte Dualismus in der Leitung der preußischen Gefängnisverwaltung, den Wiehern als einen der größten Mängel der bisherigen Gefängniseinrichtung bezeichnet. Er hat sich über diese neuerdings wieder eifrig erörterte Angelegenheit ebenfalls Krohne, Die Strafanstalten und Gefängnisse in Preußen. Berlin, Heumanns Ver¬ lag. 1901.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/695>, abgerufen am 27.09.2024.