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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Die politischen Parteien in Rußland Lüde Juli ^9^5

Zusammenhang mit der mangelhaften Entwicklung nationalen Bewußtseins
beim russische!? Volk eine große Gefahr für den Bestand des russischen Reichs.
Ihre abstoßende Wirkung ist größer als die zentripetale Kraft des russischen
Volks. Ihre augenblickliche Politik geht dahin, das russische Volk gegen die
Deutschen, Polen, Juden und Armenier zu verhetzen, und wo solches, wie in
Litauen und Polen, nicht möglich ist, die christliche Bevölkerung gegen die
jüdische mobil zu machen. Sie glauben durch die Vernichtung oder die Aus¬
treibung der Juden Rußland von allen gegenwärtigen und künftigen Gefahren
zu retten. Es ist das die Gruppe der russischen Gesellschaft, die bei jeder
Reform nur verlieren kann.


5. Nachwort

In den voraufgegangnen Ausführungen ist versucht worden, dem Leser
ein Bild der Gruppen der russischen Gesellschaft zu geben, aus denen sich im
künftigen Parlament die politischen Parteien bilden werden. Sollte das
Projekt Bulygin tatsächlich in seiner heutigen Form ins Leben treten, dann
würden in die Staatsduma nur Vertreter des Adels, der Bauern und der
besitzenden Klassen aus den Städten kommen. Die Intelligenz, die nicht
imstande ist, in Petersburg 1800 Rubel Wohnungsmiete zu zahlen, und die
gesamte städtische Arbeiter- und Handwerkcrbevölkerung ist dagegen vom aktiven
und passiven Wahlrecht ausgeschlossen. Von den geschilderten Gruppen sind
demgemäß ausgeschlossen: die Sozialrevolutionäre, die Sozialdemokraten, die
Oswoboshdjenee und die Mehrzahl des Lvjns soMmv, wogegen der demo¬
kratische Sjemstwoverband und die absolutistischen Gruppen, ferner die sich
neu formierenden Vereinigungen aus kaufmännischen und aus industriellen
Kreisen Sitz und Stimme in der Duma haben können -- notabene, wenn die
Duma überhaupt zustande kommt.

Die Frage ist nun: Wie werden sich die vom politischen Leben zurück-
gehaltnem Kreise zur Duma stellen? Aus den mir vorliegenden Protokollen
der letzten Sitzungen der sozialdemokratischen Organisation geht hervor, daß
die organisierten Arbeiter entschlossen sind, mit allen erlaubten und unerlaubten
Mitteln die Wahlen zu sprengen. Sie wenden sich an die Vertreter der demo¬
kratischen Intelligenz, der Sjemstwo und der Städte mit einem Aufruf, worin
sie fordern, der Sjemstwokongreß vom 6./19. Juli 1905 solle sich als konsti¬
tuierender proklamieren; die Arbeiter würden mit ihrem Leben für die Sicher¬
heit eintreten. Der LoM sojüscnv hat folgende Beschlüsse gefaßt: Die Mit¬
glieder sollen das Projekt, gleichgiltig, ob es bestätigt wird oder nicht, mit
allen Mitteln diskreditieren und im Volke Stimmung dagegen machen. Sollte
die Wahlkampagne für die Staatsduma dennoch auf der Basis des Projekts
Bulygins beginnen, dann sei es Aufgabe jedes einzelnen Mitgliedes des
Zentralverbandes, ein Zustandekommen der Wahlen zu verhindern. Sollte es
dennoch der Zufall mit sich bringen, daß hier und dort Mitglieder des Ver¬
bandes in die Duma gewählt werden, dann sollen sie in die Duma gehn, dort
erklären, daß sie sich mit Rücksicht auf den voraufgenommnen Wahlmodus
uicht "Vertreter des Volks" nennen können, und die Duma verlassen. Außerhalb
der Duma würde der Kampf alsdann wie heute fortgesetzt werden müssen.


Die politischen Parteien in Rußland Lüde Juli ^9^5

Zusammenhang mit der mangelhaften Entwicklung nationalen Bewußtseins
beim russische!? Volk eine große Gefahr für den Bestand des russischen Reichs.
Ihre abstoßende Wirkung ist größer als die zentripetale Kraft des russischen
Volks. Ihre augenblickliche Politik geht dahin, das russische Volk gegen die
Deutschen, Polen, Juden und Armenier zu verhetzen, und wo solches, wie in
Litauen und Polen, nicht möglich ist, die christliche Bevölkerung gegen die
jüdische mobil zu machen. Sie glauben durch die Vernichtung oder die Aus¬
treibung der Juden Rußland von allen gegenwärtigen und künftigen Gefahren
zu retten. Es ist das die Gruppe der russischen Gesellschaft, die bei jeder
Reform nur verlieren kann.


5. Nachwort

In den voraufgegangnen Ausführungen ist versucht worden, dem Leser
ein Bild der Gruppen der russischen Gesellschaft zu geben, aus denen sich im
künftigen Parlament die politischen Parteien bilden werden. Sollte das
Projekt Bulygin tatsächlich in seiner heutigen Form ins Leben treten, dann
würden in die Staatsduma nur Vertreter des Adels, der Bauern und der
besitzenden Klassen aus den Städten kommen. Die Intelligenz, die nicht
imstande ist, in Petersburg 1800 Rubel Wohnungsmiete zu zahlen, und die
gesamte städtische Arbeiter- und Handwerkcrbevölkerung ist dagegen vom aktiven
und passiven Wahlrecht ausgeschlossen. Von den geschilderten Gruppen sind
demgemäß ausgeschlossen: die Sozialrevolutionäre, die Sozialdemokraten, die
Oswoboshdjenee und die Mehrzahl des Lvjns soMmv, wogegen der demo¬
kratische Sjemstwoverband und die absolutistischen Gruppen, ferner die sich
neu formierenden Vereinigungen aus kaufmännischen und aus industriellen
Kreisen Sitz und Stimme in der Duma haben können — notabene, wenn die
Duma überhaupt zustande kommt.

Die Frage ist nun: Wie werden sich die vom politischen Leben zurück-
gehaltnem Kreise zur Duma stellen? Aus den mir vorliegenden Protokollen
der letzten Sitzungen der sozialdemokratischen Organisation geht hervor, daß
die organisierten Arbeiter entschlossen sind, mit allen erlaubten und unerlaubten
Mitteln die Wahlen zu sprengen. Sie wenden sich an die Vertreter der demo¬
kratischen Intelligenz, der Sjemstwo und der Städte mit einem Aufruf, worin
sie fordern, der Sjemstwokongreß vom 6./19. Juli 1905 solle sich als konsti¬
tuierender proklamieren; die Arbeiter würden mit ihrem Leben für die Sicher¬
heit eintreten. Der LoM sojüscnv hat folgende Beschlüsse gefaßt: Die Mit¬
glieder sollen das Projekt, gleichgiltig, ob es bestätigt wird oder nicht, mit
allen Mitteln diskreditieren und im Volke Stimmung dagegen machen. Sollte
die Wahlkampagne für die Staatsduma dennoch auf der Basis des Projekts
Bulygins beginnen, dann sei es Aufgabe jedes einzelnen Mitgliedes des
Zentralverbandes, ein Zustandekommen der Wahlen zu verhindern. Sollte es
dennoch der Zufall mit sich bringen, daß hier und dort Mitglieder des Ver¬
bandes in die Duma gewählt werden, dann sollen sie in die Duma gehn, dort
erklären, daß sie sich mit Rücksicht auf den voraufgenommnen Wahlmodus
uicht „Vertreter des Volks" nennen können, und die Duma verlassen. Außerhalb
der Duma würde der Kampf alsdann wie heute fortgesetzt werden müssen.


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[0647] Die politischen Parteien in Rußland Lüde Juli ^9^5 Zusammenhang mit der mangelhaften Entwicklung nationalen Bewußtseins beim russische!? Volk eine große Gefahr für den Bestand des russischen Reichs. Ihre abstoßende Wirkung ist größer als die zentripetale Kraft des russischen Volks. Ihre augenblickliche Politik geht dahin, das russische Volk gegen die Deutschen, Polen, Juden und Armenier zu verhetzen, und wo solches, wie in Litauen und Polen, nicht möglich ist, die christliche Bevölkerung gegen die jüdische mobil zu machen. Sie glauben durch die Vernichtung oder die Aus¬ treibung der Juden Rußland von allen gegenwärtigen und künftigen Gefahren zu retten. Es ist das die Gruppe der russischen Gesellschaft, die bei jeder Reform nur verlieren kann. 5. Nachwort In den voraufgegangnen Ausführungen ist versucht worden, dem Leser ein Bild der Gruppen der russischen Gesellschaft zu geben, aus denen sich im künftigen Parlament die politischen Parteien bilden werden. Sollte das Projekt Bulygin tatsächlich in seiner heutigen Form ins Leben treten, dann würden in die Staatsduma nur Vertreter des Adels, der Bauern und der besitzenden Klassen aus den Städten kommen. Die Intelligenz, die nicht imstande ist, in Petersburg 1800 Rubel Wohnungsmiete zu zahlen, und die gesamte städtische Arbeiter- und Handwerkcrbevölkerung ist dagegen vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen. Von den geschilderten Gruppen sind demgemäß ausgeschlossen: die Sozialrevolutionäre, die Sozialdemokraten, die Oswoboshdjenee und die Mehrzahl des Lvjns soMmv, wogegen der demo¬ kratische Sjemstwoverband und die absolutistischen Gruppen, ferner die sich neu formierenden Vereinigungen aus kaufmännischen und aus industriellen Kreisen Sitz und Stimme in der Duma haben können — notabene, wenn die Duma überhaupt zustande kommt. Die Frage ist nun: Wie werden sich die vom politischen Leben zurück- gehaltnem Kreise zur Duma stellen? Aus den mir vorliegenden Protokollen der letzten Sitzungen der sozialdemokratischen Organisation geht hervor, daß die organisierten Arbeiter entschlossen sind, mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln die Wahlen zu sprengen. Sie wenden sich an die Vertreter der demo¬ kratischen Intelligenz, der Sjemstwo und der Städte mit einem Aufruf, worin sie fordern, der Sjemstwokongreß vom 6./19. Juli 1905 solle sich als konsti¬ tuierender proklamieren; die Arbeiter würden mit ihrem Leben für die Sicher¬ heit eintreten. Der LoM sojüscnv hat folgende Beschlüsse gefaßt: Die Mit¬ glieder sollen das Projekt, gleichgiltig, ob es bestätigt wird oder nicht, mit allen Mitteln diskreditieren und im Volke Stimmung dagegen machen. Sollte die Wahlkampagne für die Staatsduma dennoch auf der Basis des Projekts Bulygins beginnen, dann sei es Aufgabe jedes einzelnen Mitgliedes des Zentralverbandes, ein Zustandekommen der Wahlen zu verhindern. Sollte es dennoch der Zufall mit sich bringen, daß hier und dort Mitglieder des Ver¬ bandes in die Duma gewählt werden, dann sollen sie in die Duma gehn, dort erklären, daß sie sich mit Rücksicht auf den voraufgenommnen Wahlmodus uicht „Vertreter des Volks" nennen können, und die Duma verlassen. Außerhalb der Duma würde der Kampf alsdann wie heute fortgesetzt werden müssen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/647>, abgerufen am 27.09.2024.