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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Unter Runden, Komödianten und wilden Tieren

Böhmen, kehrten dort in einem Gasthaus ein und kauften eine Anzahl Flaschen
Tokaier und andre Weine, große Mengen Tabak und Zigarren, brachten diese
Vorräte in unsern Kleidern unter und kehrten nach Hause zurück, wobei wir
jedesmal, wenn wir das Zollhaus passierten, laut sangen und Pfiffen, was zur
Folge hatte, daß sich kein Zollbeamter sehen ließ.

Über Ane reisten wir nach Schneeberg, wo wir des entsetzlichen November¬
wetters wegen ein schlechtes Geschäft machten und die Tournee beendeten. Das
Karussell wurde verladen und nach Zschopau geschickt, und die Angestellten wurden
entlassen mit dem Bemerken, daß sie zum Frühjahr wieder antreten könnten. Zum
Glück erhielt ich eine Einladung von dem Knopffabrikanten in Schmölln, der mich
als Maschinist zu einem Wochenlohn von achtzehn Mark engagierte. Ich reiste hin
und trat meine Stelle an. An Sonntagen fuhr ich zuweilen zu meiner Frau nach
Apolda. Nachdem ich mit diesen Besuchen etwa fünf Wochen ausgesetzt, dabei aber
nicht versäumt hatte, regelmäßig Geld nach Hause zu schicken, kam ich eines Mittags
mit meinem Prinzipal in Meinungsverschiedenheiten und trat aus. Ich reiste nach
Apolda und wollte in meine Wohnung gehn. Als ich mich dem Hause näherte,
bemerkte ich, daß die Blumenstöcke an den Fenstern fehlten, genau so, wie ich es
in Stargard geträumt hatte, und sah zu meinem Erstaunen, daß an meiner Tür
ein andres Namensschild angebracht war. Ich fragte den Hauswirt, was geschehen
sei, und hörte, meine Frau wäre vor acht Tagen mit einem Andern durchgegangen
und habe alle Möbel, Hausgeräte usw. teils mitgenommen, teils verkauft. Mit
dem Erlös habe sie in Gesellschaft ihres Verehrers eine Rheinreise gemacht. Die
Überraschung kam mir um so ungelegner, als ich nur noch acht Pfennige bares
Geld hatte, eine sehr zerrissene Kluft trug und starken Hunger verspürte. Meine
Frau hatte die Wohnung so rein ausgeräumt, daß auch keiner meiner guten Anzüge
mehr vorhanden war. Zum Glück hatte sie aber die zarte Rücksicht gehabt, in
einen Sack mit schmutziger Wäsche, den ich nebst vier meiner alten Hüte im Keller
fand, meine Papiere zu stecken, worunter sämtliche Zeugnisse waren. Der Haus¬
wirt, ein Strumpfwirker, suchte mich zu trösten und meiner Stimmung durch eine
leibliche Stärkung wieder aufzuhelfen. Er ließ mir Speise und Trank vorsetzen
und erklärte, daß ich so lange bei ihm wohnen und essen könne, bis ich wieder
Arbeit gefunden hätte. Er lieh mir auch sogleich eine Mark, für die ich Schreib¬
papier und Briefmarken kaufte, worauf ich einen Brief an den Karussellfabrikauten
Stuhr in Hamburg schrieb und ihm meine Dienste als Maschinist anbot. Nach
zwei Tagen erhielt ich eine zusagende Antwort und das Reisegeld nach Hamburg.
Bei meiner Abreise erfuhr ich zufällig, daß meine Frau wieder in Erfurt sei.

Am nächsten Tage kam ich gegen halb elf Uhr am Abend in Hamburg an
und begab mich nach dem Schaubudenplatz zu Se. Pauli. Bei der Stuhrschen
Berg- und Talbahn, die hinter dem Zirkus Nerz stand, traf ich einen Angestellten,
den ich schon kannte, und bei dem ich mich mit den Worten: Du, Emil, Segg mol,
wo is de Otte? nach dem Prinzipal erkundigte. Er antwortete, indem er mit dem
Finger in die Ferne wies: Der steiht da unten. Ich stellte mich dein Prinzipal
Vor, und dieser drückte mir, ohne mich erst von oben bis unten zu betrachten, seine
Freude darüber aus, daß ich da sei, worauf er mich einlud, in seinem Hanse zu
übernachten. Ich wurde in eine große Stube geführt, wo eine große Anzahl An¬
gestellter zum Nachtquartier Platz hatten, und wo die Betten, ähnlich wie in den
Wohnwagen, übereinander angebracht waren. Frau Stuhr brachte mir Bier und
einige Butterbrode mit Lormzä hohl, die ich mir munden ließ. Nach Schluß des
Geschäfts fanden sich die Angestellten der Berg- und Talbahn ein, und ich feierte
mit dem mir bekannten Maschinisten das Wiedersehen in einer benachbarten
Wirtschaft.

Unser Prinzipal war ein Mann von großem Unternehmungsgeist, der nicht
nur etwa achtzehn reisende Geschäfte, wie Karussells, Nadbahnen und dergleichen,
die alle von Geschäftsführern geleitet wurden, sondern in Hamburg auch ein fest-


Unter Runden, Komödianten und wilden Tieren

Böhmen, kehrten dort in einem Gasthaus ein und kauften eine Anzahl Flaschen
Tokaier und andre Weine, große Mengen Tabak und Zigarren, brachten diese
Vorräte in unsern Kleidern unter und kehrten nach Hause zurück, wobei wir
jedesmal, wenn wir das Zollhaus passierten, laut sangen und Pfiffen, was zur
Folge hatte, daß sich kein Zollbeamter sehen ließ.

Über Ane reisten wir nach Schneeberg, wo wir des entsetzlichen November¬
wetters wegen ein schlechtes Geschäft machten und die Tournee beendeten. Das
Karussell wurde verladen und nach Zschopau geschickt, und die Angestellten wurden
entlassen mit dem Bemerken, daß sie zum Frühjahr wieder antreten könnten. Zum
Glück erhielt ich eine Einladung von dem Knopffabrikanten in Schmölln, der mich
als Maschinist zu einem Wochenlohn von achtzehn Mark engagierte. Ich reiste hin
und trat meine Stelle an. An Sonntagen fuhr ich zuweilen zu meiner Frau nach
Apolda. Nachdem ich mit diesen Besuchen etwa fünf Wochen ausgesetzt, dabei aber
nicht versäumt hatte, regelmäßig Geld nach Hause zu schicken, kam ich eines Mittags
mit meinem Prinzipal in Meinungsverschiedenheiten und trat aus. Ich reiste nach
Apolda und wollte in meine Wohnung gehn. Als ich mich dem Hause näherte,
bemerkte ich, daß die Blumenstöcke an den Fenstern fehlten, genau so, wie ich es
in Stargard geträumt hatte, und sah zu meinem Erstaunen, daß an meiner Tür
ein andres Namensschild angebracht war. Ich fragte den Hauswirt, was geschehen
sei, und hörte, meine Frau wäre vor acht Tagen mit einem Andern durchgegangen
und habe alle Möbel, Hausgeräte usw. teils mitgenommen, teils verkauft. Mit
dem Erlös habe sie in Gesellschaft ihres Verehrers eine Rheinreise gemacht. Die
Überraschung kam mir um so ungelegner, als ich nur noch acht Pfennige bares
Geld hatte, eine sehr zerrissene Kluft trug und starken Hunger verspürte. Meine
Frau hatte die Wohnung so rein ausgeräumt, daß auch keiner meiner guten Anzüge
mehr vorhanden war. Zum Glück hatte sie aber die zarte Rücksicht gehabt, in
einen Sack mit schmutziger Wäsche, den ich nebst vier meiner alten Hüte im Keller
fand, meine Papiere zu stecken, worunter sämtliche Zeugnisse waren. Der Haus¬
wirt, ein Strumpfwirker, suchte mich zu trösten und meiner Stimmung durch eine
leibliche Stärkung wieder aufzuhelfen. Er ließ mir Speise und Trank vorsetzen
und erklärte, daß ich so lange bei ihm wohnen und essen könne, bis ich wieder
Arbeit gefunden hätte. Er lieh mir auch sogleich eine Mark, für die ich Schreib¬
papier und Briefmarken kaufte, worauf ich einen Brief an den Karussellfabrikauten
Stuhr in Hamburg schrieb und ihm meine Dienste als Maschinist anbot. Nach
zwei Tagen erhielt ich eine zusagende Antwort und das Reisegeld nach Hamburg.
Bei meiner Abreise erfuhr ich zufällig, daß meine Frau wieder in Erfurt sei.

Am nächsten Tage kam ich gegen halb elf Uhr am Abend in Hamburg an
und begab mich nach dem Schaubudenplatz zu Se. Pauli. Bei der Stuhrschen
Berg- und Talbahn, die hinter dem Zirkus Nerz stand, traf ich einen Angestellten,
den ich schon kannte, und bei dem ich mich mit den Worten: Du, Emil, Segg mol,
wo is de Otte? nach dem Prinzipal erkundigte. Er antwortete, indem er mit dem
Finger in die Ferne wies: Der steiht da unten. Ich stellte mich dein Prinzipal
Vor, und dieser drückte mir, ohne mich erst von oben bis unten zu betrachten, seine
Freude darüber aus, daß ich da sei, worauf er mich einlud, in seinem Hanse zu
übernachten. Ich wurde in eine große Stube geführt, wo eine große Anzahl An¬
gestellter zum Nachtquartier Platz hatten, und wo die Betten, ähnlich wie in den
Wohnwagen, übereinander angebracht waren. Frau Stuhr brachte mir Bier und
einige Butterbrode mit Lormzä hohl, die ich mir munden ließ. Nach Schluß des
Geschäfts fanden sich die Angestellten der Berg- und Talbahn ein, und ich feierte
mit dem mir bekannten Maschinisten das Wiedersehen in einer benachbarten
Wirtschaft.

Unser Prinzipal war ein Mann von großem Unternehmungsgeist, der nicht
nur etwa achtzehn reisende Geschäfte, wie Karussells, Nadbahnen und dergleichen,
die alle von Geschäftsführern geleitet wurden, sondern in Hamburg auch ein fest-


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[0616] Unter Runden, Komödianten und wilden Tieren Böhmen, kehrten dort in einem Gasthaus ein und kauften eine Anzahl Flaschen Tokaier und andre Weine, große Mengen Tabak und Zigarren, brachten diese Vorräte in unsern Kleidern unter und kehrten nach Hause zurück, wobei wir jedesmal, wenn wir das Zollhaus passierten, laut sangen und Pfiffen, was zur Folge hatte, daß sich kein Zollbeamter sehen ließ. Über Ane reisten wir nach Schneeberg, wo wir des entsetzlichen November¬ wetters wegen ein schlechtes Geschäft machten und die Tournee beendeten. Das Karussell wurde verladen und nach Zschopau geschickt, und die Angestellten wurden entlassen mit dem Bemerken, daß sie zum Frühjahr wieder antreten könnten. Zum Glück erhielt ich eine Einladung von dem Knopffabrikanten in Schmölln, der mich als Maschinist zu einem Wochenlohn von achtzehn Mark engagierte. Ich reiste hin und trat meine Stelle an. An Sonntagen fuhr ich zuweilen zu meiner Frau nach Apolda. Nachdem ich mit diesen Besuchen etwa fünf Wochen ausgesetzt, dabei aber nicht versäumt hatte, regelmäßig Geld nach Hause zu schicken, kam ich eines Mittags mit meinem Prinzipal in Meinungsverschiedenheiten und trat aus. Ich reiste nach Apolda und wollte in meine Wohnung gehn. Als ich mich dem Hause näherte, bemerkte ich, daß die Blumenstöcke an den Fenstern fehlten, genau so, wie ich es in Stargard geträumt hatte, und sah zu meinem Erstaunen, daß an meiner Tür ein andres Namensschild angebracht war. Ich fragte den Hauswirt, was geschehen sei, und hörte, meine Frau wäre vor acht Tagen mit einem Andern durchgegangen und habe alle Möbel, Hausgeräte usw. teils mitgenommen, teils verkauft. Mit dem Erlös habe sie in Gesellschaft ihres Verehrers eine Rheinreise gemacht. Die Überraschung kam mir um so ungelegner, als ich nur noch acht Pfennige bares Geld hatte, eine sehr zerrissene Kluft trug und starken Hunger verspürte. Meine Frau hatte die Wohnung so rein ausgeräumt, daß auch keiner meiner guten Anzüge mehr vorhanden war. Zum Glück hatte sie aber die zarte Rücksicht gehabt, in einen Sack mit schmutziger Wäsche, den ich nebst vier meiner alten Hüte im Keller fand, meine Papiere zu stecken, worunter sämtliche Zeugnisse waren. Der Haus¬ wirt, ein Strumpfwirker, suchte mich zu trösten und meiner Stimmung durch eine leibliche Stärkung wieder aufzuhelfen. Er ließ mir Speise und Trank vorsetzen und erklärte, daß ich so lange bei ihm wohnen und essen könne, bis ich wieder Arbeit gefunden hätte. Er lieh mir auch sogleich eine Mark, für die ich Schreib¬ papier und Briefmarken kaufte, worauf ich einen Brief an den Karussellfabrikauten Stuhr in Hamburg schrieb und ihm meine Dienste als Maschinist anbot. Nach zwei Tagen erhielt ich eine zusagende Antwort und das Reisegeld nach Hamburg. Bei meiner Abreise erfuhr ich zufällig, daß meine Frau wieder in Erfurt sei. Am nächsten Tage kam ich gegen halb elf Uhr am Abend in Hamburg an und begab mich nach dem Schaubudenplatz zu Se. Pauli. Bei der Stuhrschen Berg- und Talbahn, die hinter dem Zirkus Nerz stand, traf ich einen Angestellten, den ich schon kannte, und bei dem ich mich mit den Worten: Du, Emil, Segg mol, wo is de Otte? nach dem Prinzipal erkundigte. Er antwortete, indem er mit dem Finger in die Ferne wies: Der steiht da unten. Ich stellte mich dein Prinzipal Vor, und dieser drückte mir, ohne mich erst von oben bis unten zu betrachten, seine Freude darüber aus, daß ich da sei, worauf er mich einlud, in seinem Hanse zu übernachten. Ich wurde in eine große Stube geführt, wo eine große Anzahl An¬ gestellter zum Nachtquartier Platz hatten, und wo die Betten, ähnlich wie in den Wohnwagen, übereinander angebracht waren. Frau Stuhr brachte mir Bier und einige Butterbrode mit Lormzä hohl, die ich mir munden ließ. Nach Schluß des Geschäfts fanden sich die Angestellten der Berg- und Talbahn ein, und ich feierte mit dem mir bekannten Maschinisten das Wiedersehen in einer benachbarten Wirtschaft. Unser Prinzipal war ein Mann von großem Unternehmungsgeist, der nicht nur etwa achtzehn reisende Geschäfte, wie Karussells, Nadbahnen und dergleichen, die alle von Geschäftsführern geleitet wurden, sondern in Hamburg auch ein fest-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/616>, abgerufen am 27.09.2024.