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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

junger Leute, die es hier nicht einmal zu elementaren Leistungen gebracht haben.
Es soll mit dieser Feststellung nach keiner Richtung ein Tadel verknüpft werden,
am allerwenigsten gegen die Turnlehrer; es tragen an diesem beklagenswerten
Mißstände so viele in den Zeitverhältnissen gelegene, sachliche und auch Persönliche
Faktoren, worunter Eltern und Schüler nicht die letzten sind, eine Mitschuld, sodaß
es richtiger ist, sich mit dieser gar nicht zu befassen, sondern nur mit der Frage,
auf welchem Wege man zur Besserung gelangen könne."

Schonend, fast schüchtern geht der Kritiker an den Mängeln der Schule vorüber,
die nicht allein, aber vor allem die Schuld an der körperlichen Schwäche ihrer
Zöglinge trägt. Es muß allerdings anerkannt werden, daß in der Schulverwaltung
und in den Kreisen der Gymnasiallehrer selbst die Erkenntnis der Schäden unsers
Erziehungswesens und der Wunsch, zu bessern, allmählich immer wacher und lauter
wird. Wie einst in Preußen Kultusminister von Goßler die verödeten, verwilderten
Turnplätze seiner Knabenzeit wieder in Dienst stellte und von fröhlicher Jugend
ihre Dornröschenhecke durchbrechen ließ, hat der jetzige bayrische Kultusminister
Dr. von Wehner am 17. Dezember 1903 in einem Erlaß an die Rektorate der
Mittelschulen angeordnet, "den Schülern, soweit es nach den örtlichen Verhältnissen
irgendwie geschehen kann, Gelegenheit zu körperlichen Übungen außerhalb der Turn¬
stunden zu geben." Turnlehrer und wissenschaftliche Lehrer regten die Einführung
des Ruderns an den Mittelschulen an, auf dem Main bei Aschaffenburg und auf
der Donau bei Straubing laufen fünfundzwanzig Jahre, nachdem in Rendsburg
der erste deutsche Schülerruderverein gegründet worden ist, die ersten bayrischen
Schülerboote, Schülerwanderungen werden von Gymnasiallehrern befürwortet und
gefördert. Das sind lauter sehr erfreuliche Tatsachen, aber es sind auch Anfänge
neuer Lehrfächer, die zum Gedeihen Raum brauchen und als kraftverbrauchende
Arbeit anerkannt werden müssen. Der Münchner Jrrenarzt Professor Dr. Kraepelin
hat beobachtet, daß ein zweistündiger Spaziergang die geistige Leistungsfähigkeit in
demselben Maße herabsetzt wie eine einstündige Addition. Diese Beobachtung er¬
klärt den von vielen Eltern beklagten und von vielen Lehrern als Beweis unge¬
nügender Begabung gedeuteten Übelstand, daß Schüler oft dreimal so viel Zeit
über den Büchern zubringen, als sie bei stetiger Arbeit brauchen sollten. Dieser
nicht in der Schwierigkeit und in dem Maß der Aufgaben begründete Zeitaufwand
kommt nicht selten davon, daß sich die Schüler nach dem Unterricht vor der Er¬
ledigung der Hausaufgaben durch einen nicht ganz vorsichtig bemessenen Spazier¬
gang erholt haben. Diese Erholung war mit einem Kräfteverbrauch verbunden.
Durch den Unterricht und durch den Spaziergang geistig und körperlich ermüdet
sind sie an die Arbeit gegangen. Nun träumen sie über den Büchern.

Ich bin der festen, unerschütterlichen Überzeugung, daß an den Gymnasien
viel Schülerkraft durch übertriebne, nicht der Fassungskraft des Durchschnitts der
Schüler angepaßte Forderungen vergeudet wird. Nicht nur Geistes- und Körper¬
kraft, sondern auch sittliche. Wenn ich aus deu Jahresberichten unsrer Gymnasien
ersehe, was alles in dem abgelaufnen Jahre gelesen worden ist, drängt sich mir
immer der Gedanke auf: Ja, das ist alles gelesen worden, aber nur von dem
Lehrer und ein Paar für das Studium der alten Sprachen begabten Schülern, für
die übrigen war die Lektüre dreier Gesänge Homers in der Untersekunda oder der
Miloniana in der Prima nichts als ein Zwang, sich bei der Vorbereitung uner¬
laubter Hilfsmittel zu bedienen oder sich tage-, Wochen-, monatelang unvorbereitet
"durchzuschwindeln." Wo von der Untersekunda bis zur Oberprima alle Gesänge
Homers gelesen werden und so ein Ideal der Schulordnung erfüllt wird, da ver¬
läßt der größte Teil der Schüler nicht an Geist und Körper und Gemüt gerade
gewachsen wie Hektor und Achilles, sondern mit odysseischer Verschlagenheit behaftet
die Schule. Man wundre sich nicht, daß es unter den Literaten und Künstlern
der Witzblätter soviele Thersitesgestalten gibt. Die meisten von ihnen hat die
hin", water ihrer Knabenzeit, das Gymnasium, mit Gift statt mit Milch genährt.
Es ist unbegreiflich, daß man sich den Mißerfolg der Klassikerlektüre an den Gym-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

junger Leute, die es hier nicht einmal zu elementaren Leistungen gebracht haben.
Es soll mit dieser Feststellung nach keiner Richtung ein Tadel verknüpft werden,
am allerwenigsten gegen die Turnlehrer; es tragen an diesem beklagenswerten
Mißstände so viele in den Zeitverhältnissen gelegene, sachliche und auch Persönliche
Faktoren, worunter Eltern und Schüler nicht die letzten sind, eine Mitschuld, sodaß
es richtiger ist, sich mit dieser gar nicht zu befassen, sondern nur mit der Frage,
auf welchem Wege man zur Besserung gelangen könne."

Schonend, fast schüchtern geht der Kritiker an den Mängeln der Schule vorüber,
die nicht allein, aber vor allem die Schuld an der körperlichen Schwäche ihrer
Zöglinge trägt. Es muß allerdings anerkannt werden, daß in der Schulverwaltung
und in den Kreisen der Gymnasiallehrer selbst die Erkenntnis der Schäden unsers
Erziehungswesens und der Wunsch, zu bessern, allmählich immer wacher und lauter
wird. Wie einst in Preußen Kultusminister von Goßler die verödeten, verwilderten
Turnplätze seiner Knabenzeit wieder in Dienst stellte und von fröhlicher Jugend
ihre Dornröschenhecke durchbrechen ließ, hat der jetzige bayrische Kultusminister
Dr. von Wehner am 17. Dezember 1903 in einem Erlaß an die Rektorate der
Mittelschulen angeordnet, „den Schülern, soweit es nach den örtlichen Verhältnissen
irgendwie geschehen kann, Gelegenheit zu körperlichen Übungen außerhalb der Turn¬
stunden zu geben." Turnlehrer und wissenschaftliche Lehrer regten die Einführung
des Ruderns an den Mittelschulen an, auf dem Main bei Aschaffenburg und auf
der Donau bei Straubing laufen fünfundzwanzig Jahre, nachdem in Rendsburg
der erste deutsche Schülerruderverein gegründet worden ist, die ersten bayrischen
Schülerboote, Schülerwanderungen werden von Gymnasiallehrern befürwortet und
gefördert. Das sind lauter sehr erfreuliche Tatsachen, aber es sind auch Anfänge
neuer Lehrfächer, die zum Gedeihen Raum brauchen und als kraftverbrauchende
Arbeit anerkannt werden müssen. Der Münchner Jrrenarzt Professor Dr. Kraepelin
hat beobachtet, daß ein zweistündiger Spaziergang die geistige Leistungsfähigkeit in
demselben Maße herabsetzt wie eine einstündige Addition. Diese Beobachtung er¬
klärt den von vielen Eltern beklagten und von vielen Lehrern als Beweis unge¬
nügender Begabung gedeuteten Übelstand, daß Schüler oft dreimal so viel Zeit
über den Büchern zubringen, als sie bei stetiger Arbeit brauchen sollten. Dieser
nicht in der Schwierigkeit und in dem Maß der Aufgaben begründete Zeitaufwand
kommt nicht selten davon, daß sich die Schüler nach dem Unterricht vor der Er¬
ledigung der Hausaufgaben durch einen nicht ganz vorsichtig bemessenen Spazier¬
gang erholt haben. Diese Erholung war mit einem Kräfteverbrauch verbunden.
Durch den Unterricht und durch den Spaziergang geistig und körperlich ermüdet
sind sie an die Arbeit gegangen. Nun träumen sie über den Büchern.

Ich bin der festen, unerschütterlichen Überzeugung, daß an den Gymnasien
viel Schülerkraft durch übertriebne, nicht der Fassungskraft des Durchschnitts der
Schüler angepaßte Forderungen vergeudet wird. Nicht nur Geistes- und Körper¬
kraft, sondern auch sittliche. Wenn ich aus deu Jahresberichten unsrer Gymnasien
ersehe, was alles in dem abgelaufnen Jahre gelesen worden ist, drängt sich mir
immer der Gedanke auf: Ja, das ist alles gelesen worden, aber nur von dem
Lehrer und ein Paar für das Studium der alten Sprachen begabten Schülern, für
die übrigen war die Lektüre dreier Gesänge Homers in der Untersekunda oder der
Miloniana in der Prima nichts als ein Zwang, sich bei der Vorbereitung uner¬
laubter Hilfsmittel zu bedienen oder sich tage-, Wochen-, monatelang unvorbereitet
„durchzuschwindeln." Wo von der Untersekunda bis zur Oberprima alle Gesänge
Homers gelesen werden und so ein Ideal der Schulordnung erfüllt wird, da ver¬
läßt der größte Teil der Schüler nicht an Geist und Körper und Gemüt gerade
gewachsen wie Hektor und Achilles, sondern mit odysseischer Verschlagenheit behaftet
die Schule. Man wundre sich nicht, daß es unter den Literaten und Künstlern
der Witzblätter soviele Thersitesgestalten gibt. Die meisten von ihnen hat die
hin», water ihrer Knabenzeit, das Gymnasium, mit Gift statt mit Milch genährt.
Es ist unbegreiflich, daß man sich den Mißerfolg der Klassikerlektüre an den Gym-


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[0060] Maßgebliches und Unmaßgebliches junger Leute, die es hier nicht einmal zu elementaren Leistungen gebracht haben. Es soll mit dieser Feststellung nach keiner Richtung ein Tadel verknüpft werden, am allerwenigsten gegen die Turnlehrer; es tragen an diesem beklagenswerten Mißstände so viele in den Zeitverhältnissen gelegene, sachliche und auch Persönliche Faktoren, worunter Eltern und Schüler nicht die letzten sind, eine Mitschuld, sodaß es richtiger ist, sich mit dieser gar nicht zu befassen, sondern nur mit der Frage, auf welchem Wege man zur Besserung gelangen könne." Schonend, fast schüchtern geht der Kritiker an den Mängeln der Schule vorüber, die nicht allein, aber vor allem die Schuld an der körperlichen Schwäche ihrer Zöglinge trägt. Es muß allerdings anerkannt werden, daß in der Schulverwaltung und in den Kreisen der Gymnasiallehrer selbst die Erkenntnis der Schäden unsers Erziehungswesens und der Wunsch, zu bessern, allmählich immer wacher und lauter wird. Wie einst in Preußen Kultusminister von Goßler die verödeten, verwilderten Turnplätze seiner Knabenzeit wieder in Dienst stellte und von fröhlicher Jugend ihre Dornröschenhecke durchbrechen ließ, hat der jetzige bayrische Kultusminister Dr. von Wehner am 17. Dezember 1903 in einem Erlaß an die Rektorate der Mittelschulen angeordnet, „den Schülern, soweit es nach den örtlichen Verhältnissen irgendwie geschehen kann, Gelegenheit zu körperlichen Übungen außerhalb der Turn¬ stunden zu geben." Turnlehrer und wissenschaftliche Lehrer regten die Einführung des Ruderns an den Mittelschulen an, auf dem Main bei Aschaffenburg und auf der Donau bei Straubing laufen fünfundzwanzig Jahre, nachdem in Rendsburg der erste deutsche Schülerruderverein gegründet worden ist, die ersten bayrischen Schülerboote, Schülerwanderungen werden von Gymnasiallehrern befürwortet und gefördert. Das sind lauter sehr erfreuliche Tatsachen, aber es sind auch Anfänge neuer Lehrfächer, die zum Gedeihen Raum brauchen und als kraftverbrauchende Arbeit anerkannt werden müssen. Der Münchner Jrrenarzt Professor Dr. Kraepelin hat beobachtet, daß ein zweistündiger Spaziergang die geistige Leistungsfähigkeit in demselben Maße herabsetzt wie eine einstündige Addition. Diese Beobachtung er¬ klärt den von vielen Eltern beklagten und von vielen Lehrern als Beweis unge¬ nügender Begabung gedeuteten Übelstand, daß Schüler oft dreimal so viel Zeit über den Büchern zubringen, als sie bei stetiger Arbeit brauchen sollten. Dieser nicht in der Schwierigkeit und in dem Maß der Aufgaben begründete Zeitaufwand kommt nicht selten davon, daß sich die Schüler nach dem Unterricht vor der Er¬ ledigung der Hausaufgaben durch einen nicht ganz vorsichtig bemessenen Spazier¬ gang erholt haben. Diese Erholung war mit einem Kräfteverbrauch verbunden. Durch den Unterricht und durch den Spaziergang geistig und körperlich ermüdet sind sie an die Arbeit gegangen. Nun träumen sie über den Büchern. Ich bin der festen, unerschütterlichen Überzeugung, daß an den Gymnasien viel Schülerkraft durch übertriebne, nicht der Fassungskraft des Durchschnitts der Schüler angepaßte Forderungen vergeudet wird. Nicht nur Geistes- und Körper¬ kraft, sondern auch sittliche. Wenn ich aus deu Jahresberichten unsrer Gymnasien ersehe, was alles in dem abgelaufnen Jahre gelesen worden ist, drängt sich mir immer der Gedanke auf: Ja, das ist alles gelesen worden, aber nur von dem Lehrer und ein Paar für das Studium der alten Sprachen begabten Schülern, für die übrigen war die Lektüre dreier Gesänge Homers in der Untersekunda oder der Miloniana in der Prima nichts als ein Zwang, sich bei der Vorbereitung uner¬ laubter Hilfsmittel zu bedienen oder sich tage-, Wochen-, monatelang unvorbereitet „durchzuschwindeln." Wo von der Untersekunda bis zur Oberprima alle Gesänge Homers gelesen werden und so ein Ideal der Schulordnung erfüllt wird, da ver¬ läßt der größte Teil der Schüler nicht an Geist und Körper und Gemüt gerade gewachsen wie Hektor und Achilles, sondern mit odysseischer Verschlagenheit behaftet die Schule. Man wundre sich nicht, daß es unter den Literaten und Künstlern der Witzblätter soviele Thersitesgestalten gibt. Die meisten von ihnen hat die hin», water ihrer Knabenzeit, das Gymnasium, mit Gift statt mit Milch genährt. Es ist unbegreiflich, daß man sich den Mißerfolg der Klassikerlektüre an den Gym-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/60>, abgerufen am 27.09.2024.