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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

wesentlich gebildeter, arbeitslustiger sein als heute. Erst in hundert bis hundert-
fünfzig Jahren wird er sein lebendes und totes Inventar auf eine Stufe gebracht
haben, die ihm eine intensive Wirtschaft annähernd wie die heutige deutsche erlaubt.
Das Kapital, das zur Erreichung einer solchen Intensität nötig ist, "schätzt" der
Verfasser (Seite 57) auf "hundert Milliarden Mark" und rechnet (Seite 59), also
nur zwei Seiten später, schon mit diesem also geschätzten Betrage als mit einer
Tatsache. Auf Grund solcher und ähnlicher unbewiesener Annahmen wird die
Hoffnungslosigkeit der russischen Landwirtschaft dargetan. Wiederholt vergleicht der
Verfasser die russischen agrarischen Zustände mit denen vor der französischen Revolution.
Ohne irgendwelchen Anhaltepunkt für seine Behauptungen darzubringen, wird auf
Seite 87 die Tatsache verkündet: "Der Russe handelt kaum halbmal so schnell wie der
Franzose." Bezüglich der agrarischen Zustände im heutigen Rußland findet der Ver¬
fasser eine erschreckende Ähnlichkeit mit denen Frankreichs vor der großen Revolution
(Seite 149). Sie erscheint ihm so groß, daß er ausspricht, die heutigen agrarischen
Zustände seien "nur eine Photographie der französischen am Vorabende der großen
Revolution." Die Behauptung des Verfassers, daß der Durchschnittsertrag pro Hektar
Land damals in Frankreich besser gewesen wäre als jetzt in Rußland, daß der russische
Bauer von heute frei, der damalige französische aber stark mit Fronten belastet ge¬
wesen sei, daß die Rückständigkeit der Landwirtschaft in Frankreich nicht annähernd so
groß gewesen sei als die der jetzigen russischen, daß die ländliche Bevölkerung des
revolutionären Frankreichs einem stärkern Steuerdruck unterlege" habe als die heutige
russische, daß den russischen Bauern die Erbitterung der französischen gegenüber den
Privilegierten fehle, daß die Notwendigkeit zum Übergang der Frnchtwechselwirtschaft
in Rußland viel größer sei als damals in Frankreich usw., alle diese und ähnliche
Behauptungen des Verfassers machen es dem Leser schwer, die von ihm behauptete
photographische Ähnlichkeit herauszufinden. Auch das schlechteste Bild eines Amateur¬
photographen muß größere Ähnlichkeiten aufweisen, wenn es einigermaßen befriedigen
soll. Nach Seite 179 weiß der Verfasser ganz genau, daß "im Jahre 1915 der
eherne Finger der Hungersnot einer ländlichen Bevölkerung von mehr als hundert-
dreißig Millionen Köpfen an die Tore des russischen Weltreichs klopfen" wird.
Also genau im Jahre 1915! Mit derselben Sicherheit wird Seite 101 verkündet:
"Rußland bleibt für die nächsten Jahrhunderte ein Agrarstaat." Trotzdem wird
wenig Zeilen vorher davon gesprochen, daß die russische Industrie "in den letzten
dreißig Jahren Erstaunliches erreicht" habe, und Seite 139 wird betont, daß "seit
dem Jahre 1881 die Industrialisierung erhebliche Fortschritte" gemacht habe.

Mit zahlreichen beweislosen Annahmen werden die russischen Finanzverhältnisse
behandelt. Es kann dahingestellt bleiben, inwieweit des Verfassers allgemeine
Voraussetzung, daß das russische Nationalvermögen nicht höher als etwa 120 Mil¬
liarden Mark zu schätzen sei (S. 126), und daß eine nennenswerte Steigerung der
Staatseinnahmen nicht zu erwarten sei (S. 113 f.) der Wirklichkeit entspricht; hier
interessiert nur die völlig unwissenschaftliche Art der Beweisführung. Die jetzige
russische Staatsschuld berechnet der Verfasser auf 16^ Milliarden Mark. Nach
dem Friedensschluß "dürfte" die Staatsschuld auf 20 Millionen Mark anschwellen
(S. 147). "Nach meiner Schätzung, führt der Verfasser Seite 68 aus, wird Ru߬
land innerhalb von fünf Jahren mindestens 9 Milliarden Mark (11 Milliarden Franken)
aufnehmen," in den nächsten zehn Jahren werde es 19 Milliarden Franken auf¬
nehmen müssen (S. 127). In fünf bis sechs Jahren nach dem Friedensschluß
"dürfte" also die gesamte Staatsschuld auf 25 Milliarden Mark wachsen. In
zehn Jahren "wird" Nußland 30 Milliarden Mark zu verzinsen haben (S. 147).
In zwanzig Jahren "müssen" allein für den Schuldendienst 25 Milliarden Mark
aufgenommen werden, und in etwa dreißig Jahren werde die Schuld auf etwa
50 Milliarden Mark anschwellen (S. 3). Dabei ist zu beachten, daß die Grund¬
lage dieser Angaben eine Schätzung ist (S. 68), und daß die auf die Schätzung
gegründeten Berechnungen von der gänzlichen Unmöglichkeit, die Zinsen im Lande


Maßgebliches und Unmaßgebliches

wesentlich gebildeter, arbeitslustiger sein als heute. Erst in hundert bis hundert-
fünfzig Jahren wird er sein lebendes und totes Inventar auf eine Stufe gebracht
haben, die ihm eine intensive Wirtschaft annähernd wie die heutige deutsche erlaubt.
Das Kapital, das zur Erreichung einer solchen Intensität nötig ist, „schätzt" der
Verfasser (Seite 57) auf „hundert Milliarden Mark" und rechnet (Seite 59), also
nur zwei Seiten später, schon mit diesem also geschätzten Betrage als mit einer
Tatsache. Auf Grund solcher und ähnlicher unbewiesener Annahmen wird die
Hoffnungslosigkeit der russischen Landwirtschaft dargetan. Wiederholt vergleicht der
Verfasser die russischen agrarischen Zustände mit denen vor der französischen Revolution.
Ohne irgendwelchen Anhaltepunkt für seine Behauptungen darzubringen, wird auf
Seite 87 die Tatsache verkündet: „Der Russe handelt kaum halbmal so schnell wie der
Franzose." Bezüglich der agrarischen Zustände im heutigen Rußland findet der Ver¬
fasser eine erschreckende Ähnlichkeit mit denen Frankreichs vor der großen Revolution
(Seite 149). Sie erscheint ihm so groß, daß er ausspricht, die heutigen agrarischen
Zustände seien „nur eine Photographie der französischen am Vorabende der großen
Revolution." Die Behauptung des Verfassers, daß der Durchschnittsertrag pro Hektar
Land damals in Frankreich besser gewesen wäre als jetzt in Rußland, daß der russische
Bauer von heute frei, der damalige französische aber stark mit Fronten belastet ge¬
wesen sei, daß die Rückständigkeit der Landwirtschaft in Frankreich nicht annähernd so
groß gewesen sei als die der jetzigen russischen, daß die ländliche Bevölkerung des
revolutionären Frankreichs einem stärkern Steuerdruck unterlege» habe als die heutige
russische, daß den russischen Bauern die Erbitterung der französischen gegenüber den
Privilegierten fehle, daß die Notwendigkeit zum Übergang der Frnchtwechselwirtschaft
in Rußland viel größer sei als damals in Frankreich usw., alle diese und ähnliche
Behauptungen des Verfassers machen es dem Leser schwer, die von ihm behauptete
photographische Ähnlichkeit herauszufinden. Auch das schlechteste Bild eines Amateur¬
photographen muß größere Ähnlichkeiten aufweisen, wenn es einigermaßen befriedigen
soll. Nach Seite 179 weiß der Verfasser ganz genau, daß „im Jahre 1915 der
eherne Finger der Hungersnot einer ländlichen Bevölkerung von mehr als hundert-
dreißig Millionen Köpfen an die Tore des russischen Weltreichs klopfen" wird.
Also genau im Jahre 1915! Mit derselben Sicherheit wird Seite 101 verkündet:
„Rußland bleibt für die nächsten Jahrhunderte ein Agrarstaat." Trotzdem wird
wenig Zeilen vorher davon gesprochen, daß die russische Industrie „in den letzten
dreißig Jahren Erstaunliches erreicht" habe, und Seite 139 wird betont, daß „seit
dem Jahre 1881 die Industrialisierung erhebliche Fortschritte" gemacht habe.

Mit zahlreichen beweislosen Annahmen werden die russischen Finanzverhältnisse
behandelt. Es kann dahingestellt bleiben, inwieweit des Verfassers allgemeine
Voraussetzung, daß das russische Nationalvermögen nicht höher als etwa 120 Mil¬
liarden Mark zu schätzen sei (S. 126), und daß eine nennenswerte Steigerung der
Staatseinnahmen nicht zu erwarten sei (S. 113 f.) der Wirklichkeit entspricht; hier
interessiert nur die völlig unwissenschaftliche Art der Beweisführung. Die jetzige
russische Staatsschuld berechnet der Verfasser auf 16^ Milliarden Mark. Nach
dem Friedensschluß „dürfte" die Staatsschuld auf 20 Millionen Mark anschwellen
(S. 147). „Nach meiner Schätzung, führt der Verfasser Seite 68 aus, wird Ru߬
land innerhalb von fünf Jahren mindestens 9 Milliarden Mark (11 Milliarden Franken)
aufnehmen," in den nächsten zehn Jahren werde es 19 Milliarden Franken auf¬
nehmen müssen (S. 127). In fünf bis sechs Jahren nach dem Friedensschluß
„dürfte" also die gesamte Staatsschuld auf 25 Milliarden Mark wachsen. In
zehn Jahren „wird" Nußland 30 Milliarden Mark zu verzinsen haben (S. 147).
In zwanzig Jahren „müssen" allein für den Schuldendienst 25 Milliarden Mark
aufgenommen werden, und in etwa dreißig Jahren werde die Schuld auf etwa
50 Milliarden Mark anschwellen (S. 3). Dabei ist zu beachten, daß die Grund¬
lage dieser Angaben eine Schätzung ist (S. 68), und daß die auf die Schätzung
gegründeten Berechnungen von der gänzlichen Unmöglichkeit, die Zinsen im Lande


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[0572] Maßgebliches und Unmaßgebliches wesentlich gebildeter, arbeitslustiger sein als heute. Erst in hundert bis hundert- fünfzig Jahren wird er sein lebendes und totes Inventar auf eine Stufe gebracht haben, die ihm eine intensive Wirtschaft annähernd wie die heutige deutsche erlaubt. Das Kapital, das zur Erreichung einer solchen Intensität nötig ist, „schätzt" der Verfasser (Seite 57) auf „hundert Milliarden Mark" und rechnet (Seite 59), also nur zwei Seiten später, schon mit diesem also geschätzten Betrage als mit einer Tatsache. Auf Grund solcher und ähnlicher unbewiesener Annahmen wird die Hoffnungslosigkeit der russischen Landwirtschaft dargetan. Wiederholt vergleicht der Verfasser die russischen agrarischen Zustände mit denen vor der französischen Revolution. Ohne irgendwelchen Anhaltepunkt für seine Behauptungen darzubringen, wird auf Seite 87 die Tatsache verkündet: „Der Russe handelt kaum halbmal so schnell wie der Franzose." Bezüglich der agrarischen Zustände im heutigen Rußland findet der Ver¬ fasser eine erschreckende Ähnlichkeit mit denen Frankreichs vor der großen Revolution (Seite 149). Sie erscheint ihm so groß, daß er ausspricht, die heutigen agrarischen Zustände seien „nur eine Photographie der französischen am Vorabende der großen Revolution." Die Behauptung des Verfassers, daß der Durchschnittsertrag pro Hektar Land damals in Frankreich besser gewesen wäre als jetzt in Rußland, daß der russische Bauer von heute frei, der damalige französische aber stark mit Fronten belastet ge¬ wesen sei, daß die Rückständigkeit der Landwirtschaft in Frankreich nicht annähernd so groß gewesen sei als die der jetzigen russischen, daß die ländliche Bevölkerung des revolutionären Frankreichs einem stärkern Steuerdruck unterlege» habe als die heutige russische, daß den russischen Bauern die Erbitterung der französischen gegenüber den Privilegierten fehle, daß die Notwendigkeit zum Übergang der Frnchtwechselwirtschaft in Rußland viel größer sei als damals in Frankreich usw., alle diese und ähnliche Behauptungen des Verfassers machen es dem Leser schwer, die von ihm behauptete photographische Ähnlichkeit herauszufinden. Auch das schlechteste Bild eines Amateur¬ photographen muß größere Ähnlichkeiten aufweisen, wenn es einigermaßen befriedigen soll. Nach Seite 179 weiß der Verfasser ganz genau, daß „im Jahre 1915 der eherne Finger der Hungersnot einer ländlichen Bevölkerung von mehr als hundert- dreißig Millionen Köpfen an die Tore des russischen Weltreichs klopfen" wird. Also genau im Jahre 1915! Mit derselben Sicherheit wird Seite 101 verkündet: „Rußland bleibt für die nächsten Jahrhunderte ein Agrarstaat." Trotzdem wird wenig Zeilen vorher davon gesprochen, daß die russische Industrie „in den letzten dreißig Jahren Erstaunliches erreicht" habe, und Seite 139 wird betont, daß „seit dem Jahre 1881 die Industrialisierung erhebliche Fortschritte" gemacht habe. Mit zahlreichen beweislosen Annahmen werden die russischen Finanzverhältnisse behandelt. Es kann dahingestellt bleiben, inwieweit des Verfassers allgemeine Voraussetzung, daß das russische Nationalvermögen nicht höher als etwa 120 Mil¬ liarden Mark zu schätzen sei (S. 126), und daß eine nennenswerte Steigerung der Staatseinnahmen nicht zu erwarten sei (S. 113 f.) der Wirklichkeit entspricht; hier interessiert nur die völlig unwissenschaftliche Art der Beweisführung. Die jetzige russische Staatsschuld berechnet der Verfasser auf 16^ Milliarden Mark. Nach dem Friedensschluß „dürfte" die Staatsschuld auf 20 Millionen Mark anschwellen (S. 147). „Nach meiner Schätzung, führt der Verfasser Seite 68 aus, wird Ru߬ land innerhalb von fünf Jahren mindestens 9 Milliarden Mark (11 Milliarden Franken) aufnehmen," in den nächsten zehn Jahren werde es 19 Milliarden Franken auf¬ nehmen müssen (S. 127). In fünf bis sechs Jahren nach dem Friedensschluß „dürfte" also die gesamte Staatsschuld auf 25 Milliarden Mark wachsen. In zehn Jahren „wird" Nußland 30 Milliarden Mark zu verzinsen haben (S. 147). In zwanzig Jahren „müssen" allein für den Schuldendienst 25 Milliarden Mark aufgenommen werden, und in etwa dreißig Jahren werde die Schuld auf etwa 50 Milliarden Mark anschwellen (S. 3). Dabei ist zu beachten, daß die Grund¬ lage dieser Angaben eine Schätzung ist (S. 68), und daß die auf die Schätzung gegründeten Berechnungen von der gänzlichen Unmöglichkeit, die Zinsen im Lande

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/572>, abgerufen am 27.09.2024.