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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Die politischen Parteien in Rußland Ende Juli 1.905

Vom 6. bis 9. November 1904 (a. Se.). Aus zweiunddreißig von vierunddreißig
Gouvernements kamen hundertundvier Männer ohne jedes Mandat in Peters¬
burg zusammen, um ihr politisches Glaubensbekenntnis abzulegen. Es geschah
das in der Form von elf Thesen, die ähnlich wie seinerzeit los clroits as
1'Iioromk in Frankreich der russischen Gesellschaft fernerhin zur Richtschnur
dienen sollten.

Sämtliche Mitglieder der Versammlung einigten sich dahin, daß Rußland
nur dann gesund werden könne, wenn als Grundprinzipien des Staatslebens
die demokratischen Lehrsätze der großen Revolution anerkannt würden: gleiches
Recht für alle, Glaubensfreiheit, Freiheit des gesprochnen und des geschriebnen
Worts, Vereins- und Versammlungsfreiheit. Dementsprechend sollten die
Wahlen für die notwendig gewordne Volksvertretung nach einem Wahlgesetz
vorgenommen werden, das garantiert: gleiche, direkte und geheime Wahlen.
Die Meinungen der Mitglieder der Versammlung gingen erst prinzipiell
auseinander bei der Frage, ob Nußland eine konstitutionelle Regierungsform
haben müsse oder seine autokratische behalten könne. Es kam das zum Aus¬
druck in der verschiednen Abfassung der These 10, die bei den Konstitutionalisten
so lautet:

"Für die Herstellung und die Sicherung eines immer lebendigen und
engen Zusammenwirkens und der Einheitlichkeit der Staatsgewalt mit der
Gesellschaft auf der angegebnen Grundlage und zur Sicherstellung einer ge¬
regelten Entwicklung des staatlichen und des gesellschaftlichen Lebens ist aber
die regelrechte Beteiligung einer Volksvertretung in Form einer besonders ge¬
wählten gesetzgebenden, mit der Aufstellung des Staatsbudgets und mit der
Kontrolle der Administration zu betrauenden Körperschaft unbedingt not¬
wendig."

Diese These wurde von einundsiebzig Stimmen votiere. Gegen sie trat
D. N. Schipow und I. I. Stachowisch mit fünfundzwanzig Anhängern auf,
die folgende These polierten:

"Für die Herstellung und die Sicherung eines immer lebendigen und
engen Zusammenwirkens und der Einheitlichkeit der Staatsgewalt mit der
Gesellschaft auf der angegebnen Grundlage und zur Sicherstellung einer ge¬
regelten Entwicklung des staatlichen und des gesellschaftlichen Lebens ist aber
die regelrechte Beteiligung einer Volksvertretung in Form einer besonders ge¬
wählten Körperschaft (Instituts) an der Beratung der Gesetze unbedingt not¬
wendig."

Der Hauptunterschied zwischen den beiden Gruppen liegt in der Forderung
einer gesetzgebenden Körperschaft bei der Mehrheit und einer solchen mit be¬
ratender Stimme bei der Minderheit. Zu einem offnen Bruch kam es jedoch
nicht. Denn beide Gruppen wollten bis zu dem Augenblick gemeinsam arbeiten,
wo die Bureaukratie -- "die Schranke zwischen Zar und Volk" -- beseitigt
sein würde. Aber schon in den ersten Tagen des Mürz 1905, d. h. nach der
Schaffung der Kommission Bulijgin, erfolgte der Bruch, den jeder aufrichtige
Freund des russischen Volks auf das tiefste beklagen muß. Die Gründe dafür
sind mannigfaltig; sie sind zugleich die Geschichte der Entwicklung der konsti-


Grenzboten III 190S 67
Die politischen Parteien in Rußland Ende Juli 1.905

Vom 6. bis 9. November 1904 (a. Se.). Aus zweiunddreißig von vierunddreißig
Gouvernements kamen hundertundvier Männer ohne jedes Mandat in Peters¬
burg zusammen, um ihr politisches Glaubensbekenntnis abzulegen. Es geschah
das in der Form von elf Thesen, die ähnlich wie seinerzeit los clroits as
1'Iioromk in Frankreich der russischen Gesellschaft fernerhin zur Richtschnur
dienen sollten.

Sämtliche Mitglieder der Versammlung einigten sich dahin, daß Rußland
nur dann gesund werden könne, wenn als Grundprinzipien des Staatslebens
die demokratischen Lehrsätze der großen Revolution anerkannt würden: gleiches
Recht für alle, Glaubensfreiheit, Freiheit des gesprochnen und des geschriebnen
Worts, Vereins- und Versammlungsfreiheit. Dementsprechend sollten die
Wahlen für die notwendig gewordne Volksvertretung nach einem Wahlgesetz
vorgenommen werden, das garantiert: gleiche, direkte und geheime Wahlen.
Die Meinungen der Mitglieder der Versammlung gingen erst prinzipiell
auseinander bei der Frage, ob Nußland eine konstitutionelle Regierungsform
haben müsse oder seine autokratische behalten könne. Es kam das zum Aus¬
druck in der verschiednen Abfassung der These 10, die bei den Konstitutionalisten
so lautet:

„Für die Herstellung und die Sicherung eines immer lebendigen und
engen Zusammenwirkens und der Einheitlichkeit der Staatsgewalt mit der
Gesellschaft auf der angegebnen Grundlage und zur Sicherstellung einer ge¬
regelten Entwicklung des staatlichen und des gesellschaftlichen Lebens ist aber
die regelrechte Beteiligung einer Volksvertretung in Form einer besonders ge¬
wählten gesetzgebenden, mit der Aufstellung des Staatsbudgets und mit der
Kontrolle der Administration zu betrauenden Körperschaft unbedingt not¬
wendig."

Diese These wurde von einundsiebzig Stimmen votiere. Gegen sie trat
D. N. Schipow und I. I. Stachowisch mit fünfundzwanzig Anhängern auf,
die folgende These polierten:

„Für die Herstellung und die Sicherung eines immer lebendigen und
engen Zusammenwirkens und der Einheitlichkeit der Staatsgewalt mit der
Gesellschaft auf der angegebnen Grundlage und zur Sicherstellung einer ge¬
regelten Entwicklung des staatlichen und des gesellschaftlichen Lebens ist aber
die regelrechte Beteiligung einer Volksvertretung in Form einer besonders ge¬
wählten Körperschaft (Instituts) an der Beratung der Gesetze unbedingt not¬
wendig."

Der Hauptunterschied zwischen den beiden Gruppen liegt in der Forderung
einer gesetzgebenden Körperschaft bei der Mehrheit und einer solchen mit be¬
ratender Stimme bei der Minderheit. Zu einem offnen Bruch kam es jedoch
nicht. Denn beide Gruppen wollten bis zu dem Augenblick gemeinsam arbeiten,
wo die Bureaukratie — „die Schranke zwischen Zar und Volk" — beseitigt
sein würde. Aber schon in den ersten Tagen des Mürz 1905, d. h. nach der
Schaffung der Kommission Bulijgin, erfolgte der Bruch, den jeder aufrichtige
Freund des russischen Volks auf das tiefste beklagen muß. Die Gründe dafür
sind mannigfaltig; sie sind zugleich die Geschichte der Entwicklung der konsti-


Grenzboten III 190S 67
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[0537] Die politischen Parteien in Rußland Ende Juli 1.905 Vom 6. bis 9. November 1904 (a. Se.). Aus zweiunddreißig von vierunddreißig Gouvernements kamen hundertundvier Männer ohne jedes Mandat in Peters¬ burg zusammen, um ihr politisches Glaubensbekenntnis abzulegen. Es geschah das in der Form von elf Thesen, die ähnlich wie seinerzeit los clroits as 1'Iioromk in Frankreich der russischen Gesellschaft fernerhin zur Richtschnur dienen sollten. Sämtliche Mitglieder der Versammlung einigten sich dahin, daß Rußland nur dann gesund werden könne, wenn als Grundprinzipien des Staatslebens die demokratischen Lehrsätze der großen Revolution anerkannt würden: gleiches Recht für alle, Glaubensfreiheit, Freiheit des gesprochnen und des geschriebnen Worts, Vereins- und Versammlungsfreiheit. Dementsprechend sollten die Wahlen für die notwendig gewordne Volksvertretung nach einem Wahlgesetz vorgenommen werden, das garantiert: gleiche, direkte und geheime Wahlen. Die Meinungen der Mitglieder der Versammlung gingen erst prinzipiell auseinander bei der Frage, ob Nußland eine konstitutionelle Regierungsform haben müsse oder seine autokratische behalten könne. Es kam das zum Aus¬ druck in der verschiednen Abfassung der These 10, die bei den Konstitutionalisten so lautet: „Für die Herstellung und die Sicherung eines immer lebendigen und engen Zusammenwirkens und der Einheitlichkeit der Staatsgewalt mit der Gesellschaft auf der angegebnen Grundlage und zur Sicherstellung einer ge¬ regelten Entwicklung des staatlichen und des gesellschaftlichen Lebens ist aber die regelrechte Beteiligung einer Volksvertretung in Form einer besonders ge¬ wählten gesetzgebenden, mit der Aufstellung des Staatsbudgets und mit der Kontrolle der Administration zu betrauenden Körperschaft unbedingt not¬ wendig." Diese These wurde von einundsiebzig Stimmen votiere. Gegen sie trat D. N. Schipow und I. I. Stachowisch mit fünfundzwanzig Anhängern auf, die folgende These polierten: „Für die Herstellung und die Sicherung eines immer lebendigen und engen Zusammenwirkens und der Einheitlichkeit der Staatsgewalt mit der Gesellschaft auf der angegebnen Grundlage und zur Sicherstellung einer ge¬ regelten Entwicklung des staatlichen und des gesellschaftlichen Lebens ist aber die regelrechte Beteiligung einer Volksvertretung in Form einer besonders ge¬ wählten Körperschaft (Instituts) an der Beratung der Gesetze unbedingt not¬ wendig." Der Hauptunterschied zwischen den beiden Gruppen liegt in der Forderung einer gesetzgebenden Körperschaft bei der Mehrheit und einer solchen mit be¬ ratender Stimme bei der Minderheit. Zu einem offnen Bruch kam es jedoch nicht. Denn beide Gruppen wollten bis zu dem Augenblick gemeinsam arbeiten, wo die Bureaukratie — „die Schranke zwischen Zar und Volk" — beseitigt sein würde. Aber schon in den ersten Tagen des Mürz 1905, d. h. nach der Schaffung der Kommission Bulijgin, erfolgte der Bruch, den jeder aufrichtige Freund des russischen Volks auf das tiefste beklagen muß. Die Gründe dafür sind mannigfaltig; sie sind zugleich die Geschichte der Entwicklung der konsti- Grenzboten III 190S 67

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/537>, abgerufen am 20.10.2024.