Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.Die politischen Parteien in Rußland Lüde Juli ^YVS Phantastereien auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet, die sie sich zuschulden Die politischen Parteien in Rußland Lüde Juli ^YVS Phantastereien auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet, die sie sich zuschulden <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0532" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/298051"/> <fw type="header" place="top"> Die politischen Parteien in Rußland Lüde Juli ^YVS</fw><lb/> <p xml:id="ID_2696" prev="#ID_2695"> Phantastereien auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet, die sie sich zuschulden<lb/> haben kommen lassen, hauptsächlich ein Zeichen der Unfähigkeit der Regierungs-<lb/> vertreter. Es wäre aber dennoch ungerecht, wollte man die beiden genannten<lb/> Minister allein für die Bedrückung der Selbstverwaltung verantwortlich machen.<lb/> Diese hatte einen weit gefährlichern, heimlichen Gegner in der Person des<lb/> Finanzministers Witte. Es dürfte nicht allgemein bekannt sein, daß sich der<lb/> Vorgänger Sypjagins, Goremykin, große Mühe gegeben hat, ganz Rußland<lb/> mit dem Institut der Sjemstwv zu Versehen. Witte paßte das nicht, aus dem<lb/> einfachen Grunde, weil mit der Sjemstwo ein neuer Stcuererhcber als Kon¬<lb/> kurrent des Finanzministers aufgetreten wäre. Darum beschloß er kurzerhand<lb/> die Sjemstwo als „staatsgefährlich" anzuschwärzen und den Kaiser Nikolaus<lb/> den Zweiten vor die Alternative zu stellen, entweder die Sjemstwo oder die<lb/> Selbstherrschaft aufzugeben. Er reichte im Jahre 1899 dem Zaren eine<lb/> umfangreiche Denkschrift darüber ein, die besonders lebhaften Beifall bei der<lb/> Zarin-Mutter und deren Schwager, dem Großfürsten Sergej Alexandrowitsch<lb/> fand, und in deren Folge nicht nur die Sjemstwo nicht allgemein eingeführt,<lb/> sondern auch Goremykin in den Reichsrat berufen wurde. Nachdem von so<lb/> „anerkannt liberaler" Seite die Schädlichkeit der Sjemstwo nachgewiesen<lb/> worden war, hatten Sypjagin und Plehwe leichtes Spiel, beim Zaren selbst<lb/> die widersinnigsten Maßnahmen gegen die einzelnen Vertreter der Selbstver¬<lb/> waltung auszuwirken. Hätte sich Witte damals nicht aus engherzigen fis¬<lb/> kalischen Gründen in die Speichen des Fortschrittswagens geworfen, dann<lb/> wäre vor allen Dingen das geschehen, was heute, acht bis neun Jahre später,<lb/> nachgeholt werden soll: die Agrarreform wäre nach den ausgezeichneten Vor¬<lb/> schlägen Goremykins durchgeführt worden, und die Agrarfrage wäre keine<lb/> Existenzfrage für Rußland geworden, wie sie es heute ist. Mit Rücksicht auf<lb/> die Verschärfung der Agrarfrage durch die Politik Wildes scheint es mir<lb/> — ohne daß ich an dieser Stelle in eine Beweisführung eintreten möchte —<lb/> nicht übertrieben, wenn ich behaupte, die Ära Sypjagin-Plehwe wäre über<lb/> Rußland nicht mit dieser furchtbar zerstörenden Gewalt hereingebrochen, wenn<lb/> Witte nicht das Land auch wirtschaftlich ausgehöhlt und ausgepreßt und damit<lb/> der Selbstverwaltung die Möglichkeit, zu wirtschaften, genommen hätte. So<lb/> aber wurden die tüchtigsten Vertreter der Selbstverwaltung — Adelsmarschällc<lb/> und Verwaltungspräsidenten — ihrer Ämter entsetzt, in entfernte Gouverne-<lb/> ments, in das Ausland und nach Sibirien verbannt, sobald sie es wagten,<lb/> mit den Verhältnissen unzufrieden zu sein und dieser Unzufriedenheit offnen<lb/> Ausdruck zu geben. Sogar Reden, die in den Kommissionen der Gouverne¬<lb/> ments, also in vertraulicher Form gehalten worden waren, wurden Gründe<lb/> zur Verfolgung. Die berüchtigten Revisionen des Ministergehilfen Sinowjew<lb/> beleidigten alle, auch die politisch gleichgiltigsten Mitglieder der Sjemstwo.<lb/> Die Redefreiheit, sogar in den geheimen Versammlungen, wurde vollständig<lb/> unterbunden, und so blieb diesen recht eigentlich konservativen Kreisen nichts<lb/> andres übrig, als sich entweder tatenlos vom öffentlichen Leben zurückzuziehn<lb/> oder aber konspirativ zu wirken. Die besten Männer entschlossen sich zu dem<lb/> letzten.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0532]
Die politischen Parteien in Rußland Lüde Juli ^YVS
Phantastereien auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet, die sie sich zuschulden
haben kommen lassen, hauptsächlich ein Zeichen der Unfähigkeit der Regierungs-
vertreter. Es wäre aber dennoch ungerecht, wollte man die beiden genannten
Minister allein für die Bedrückung der Selbstverwaltung verantwortlich machen.
Diese hatte einen weit gefährlichern, heimlichen Gegner in der Person des
Finanzministers Witte. Es dürfte nicht allgemein bekannt sein, daß sich der
Vorgänger Sypjagins, Goremykin, große Mühe gegeben hat, ganz Rußland
mit dem Institut der Sjemstwv zu Versehen. Witte paßte das nicht, aus dem
einfachen Grunde, weil mit der Sjemstwo ein neuer Stcuererhcber als Kon¬
kurrent des Finanzministers aufgetreten wäre. Darum beschloß er kurzerhand
die Sjemstwo als „staatsgefährlich" anzuschwärzen und den Kaiser Nikolaus
den Zweiten vor die Alternative zu stellen, entweder die Sjemstwo oder die
Selbstherrschaft aufzugeben. Er reichte im Jahre 1899 dem Zaren eine
umfangreiche Denkschrift darüber ein, die besonders lebhaften Beifall bei der
Zarin-Mutter und deren Schwager, dem Großfürsten Sergej Alexandrowitsch
fand, und in deren Folge nicht nur die Sjemstwo nicht allgemein eingeführt,
sondern auch Goremykin in den Reichsrat berufen wurde. Nachdem von so
„anerkannt liberaler" Seite die Schädlichkeit der Sjemstwo nachgewiesen
worden war, hatten Sypjagin und Plehwe leichtes Spiel, beim Zaren selbst
die widersinnigsten Maßnahmen gegen die einzelnen Vertreter der Selbstver¬
waltung auszuwirken. Hätte sich Witte damals nicht aus engherzigen fis¬
kalischen Gründen in die Speichen des Fortschrittswagens geworfen, dann
wäre vor allen Dingen das geschehen, was heute, acht bis neun Jahre später,
nachgeholt werden soll: die Agrarreform wäre nach den ausgezeichneten Vor¬
schlägen Goremykins durchgeführt worden, und die Agrarfrage wäre keine
Existenzfrage für Rußland geworden, wie sie es heute ist. Mit Rücksicht auf
die Verschärfung der Agrarfrage durch die Politik Wildes scheint es mir
— ohne daß ich an dieser Stelle in eine Beweisführung eintreten möchte —
nicht übertrieben, wenn ich behaupte, die Ära Sypjagin-Plehwe wäre über
Rußland nicht mit dieser furchtbar zerstörenden Gewalt hereingebrochen, wenn
Witte nicht das Land auch wirtschaftlich ausgehöhlt und ausgepreßt und damit
der Selbstverwaltung die Möglichkeit, zu wirtschaften, genommen hätte. So
aber wurden die tüchtigsten Vertreter der Selbstverwaltung — Adelsmarschällc
und Verwaltungspräsidenten — ihrer Ämter entsetzt, in entfernte Gouverne-
ments, in das Ausland und nach Sibirien verbannt, sobald sie es wagten,
mit den Verhältnissen unzufrieden zu sein und dieser Unzufriedenheit offnen
Ausdruck zu geben. Sogar Reden, die in den Kommissionen der Gouverne¬
ments, also in vertraulicher Form gehalten worden waren, wurden Gründe
zur Verfolgung. Die berüchtigten Revisionen des Ministergehilfen Sinowjew
beleidigten alle, auch die politisch gleichgiltigsten Mitglieder der Sjemstwo.
Die Redefreiheit, sogar in den geheimen Versammlungen, wurde vollständig
unterbunden, und so blieb diesen recht eigentlich konservativen Kreisen nichts
andres übrig, als sich entweder tatenlos vom öffentlichen Leben zurückzuziehn
oder aber konspirativ zu wirken. Die besten Männer entschlossen sich zu dem
letzten.
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