Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.haben, eigentlich grundlegend gewesen sind. Was wäre zum Beispiel heute Geht man die Verzeichnisse der Ja- und Neinabstimmnngen sowie der Die stärkere Beteiligung während der letzten Jahre läßt eher der Annahme haben, eigentlich grundlegend gewesen sind. Was wäre zum Beispiel heute Geht man die Verzeichnisse der Ja- und Neinabstimmnngen sowie der Die stärkere Beteiligung während der letzten Jahre läßt eher der Annahme <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0530" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/298049"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_2690" prev="#ID_2689"> haben, eigentlich grundlegend gewesen sind. Was wäre zum Beispiel heute<lb/> die Sozialdemokratie ohne die Freizügigkeit! Später, in der zweiten Hälfte<lb/> der achtziger Jahre und namentlich nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes<lb/> wird die Beteiligung an der gesetzgeberischen Arbeit reger. Da sind es dann<lb/> namentlich die Interessen des Kaufmannsstandes und des „kapitalistischen"<lb/> Publikums sowie die des Heeres, die die Sozialdemokratie gleichgiltig lassen.<lb/> Seltsam ist, daß die Unfallversicherung der bei Bauten beschäftigten Personen<lb/> das Interesse der Partei scheinbar nicht im geringsten berührte, obwohl die<lb/> Bauarbeiter mit das stärkste und zuverlässigste Kontingent in der sozialdemo¬<lb/> kratischen Armee stellen. Gegen die Vorlage zu stimmen, ging nicht gut an,<lb/> f ü r die Vorlage zu stimmen wäre gleichbedeutend gewesen mit der Anerkennung<lb/> der staatlichen Fürsorge. So schwieg man lieber. Nachdem die Partei gegen<lb/> die Unfallversicherung wie gegen alle andern Versicherungszweige gestimmt<lb/> hatte, Hütte sie konsequenterweise auch gegen die Ausdehnung der Unfall¬<lb/> versicherung auf die Bauten stimmen müssen. Das wäre ihr aber doch vielleicht<lb/> zu sehr verdacht worden, und so zog sie eine unauffindbare Haltung vor.</p><lb/> <p xml:id="ID_2691"> Geht man die Verzeichnisse der Ja- und Neinabstimmnngen sowie der<lb/> Stimmenthaltungen prüfend durch, so füllt es doch schwer, prinzipielle Ursachen<lb/> für das Verhalten der Partei den einzelnen Gesetzen gegenüber aufzufinden.<lb/> Abgesehen davon, daß in den ersten Jahren eine Beteiligung an der positiven<lb/> Arbeit für den gehaßten „kapitalistischen" Staat überhaupt abgelehnt wurde,<lb/> machen die meisten spätern Abstimmungen den Eindruck, als wären sie mehr<lb/> durch das zufällige Ergebnis der vorhergehenden Fraktionsberatung als durch<lb/> geläuterte Anschauungen über die Aufgaben der Partei oder gar die Interessen<lb/> der Nation hervorgerufen worden. Eine Auflehnung gegen die Fraktions¬<lb/> tyrannei und ihre jeweilige Stellung spricht aus der Erklärung des Abgeordneten<lb/> Kayser zum Wuchergesetz. Vom Jahre 1899 an läßt sich eine Zunahme der<lb/> bejahenden Abstimmungen erkennen. Die „Nein" werden seltner, die Ent¬<lb/> haltung hört ganz auf. Will man hierin ein positives Mitarbeiten gegenüber<lb/> der absoluten Verneinung der ersten Jahre erkennen, so läßt sich dagegen<lb/> nichts einwenden. Ausschlaggebend für diese Wandlung scheint zu sein, daß<lb/> mit der Zunahme der sozialdemokratischen Wähler der von der Parteileitung<lb/> zu schonende Interessenkreis zu groß wird, und mit der Zunahme der Er¬<lb/> wählten die Neigung in demselben Maße abnimmt, der Tyrannis der Partei¬<lb/> leitung regelmäßig das Opfer des Intellekts zu bringen. Mit der reaktionären<lb/> Rückstündigkeit der Partei, wie der Reichskanzler sie so treffend gekennzeichnet<lb/> hat, geht es eben auf die Dauer doch nicht.</p><lb/> <p xml:id="ID_2692"> Die stärkere Beteiligung während der letzten Jahre läßt eher der Annahme<lb/> Raum, daß die bis in das letzte Jahrzehnt hinein revolutionäre Partei<lb/> — als solche war sie geboren und groß geworden —, wenigstens zum Teil<lb/> und sehr allmählich den Charakter einer radikalen Reformpartei anzunehmen<lb/> beginnt, und zwar unter dem Druck innerer, nicht äußerer Nötigung.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0530]
haben, eigentlich grundlegend gewesen sind. Was wäre zum Beispiel heute
die Sozialdemokratie ohne die Freizügigkeit! Später, in der zweiten Hälfte
der achtziger Jahre und namentlich nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes
wird die Beteiligung an der gesetzgeberischen Arbeit reger. Da sind es dann
namentlich die Interessen des Kaufmannsstandes und des „kapitalistischen"
Publikums sowie die des Heeres, die die Sozialdemokratie gleichgiltig lassen.
Seltsam ist, daß die Unfallversicherung der bei Bauten beschäftigten Personen
das Interesse der Partei scheinbar nicht im geringsten berührte, obwohl die
Bauarbeiter mit das stärkste und zuverlässigste Kontingent in der sozialdemo¬
kratischen Armee stellen. Gegen die Vorlage zu stimmen, ging nicht gut an,
f ü r die Vorlage zu stimmen wäre gleichbedeutend gewesen mit der Anerkennung
der staatlichen Fürsorge. So schwieg man lieber. Nachdem die Partei gegen
die Unfallversicherung wie gegen alle andern Versicherungszweige gestimmt
hatte, Hütte sie konsequenterweise auch gegen die Ausdehnung der Unfall¬
versicherung auf die Bauten stimmen müssen. Das wäre ihr aber doch vielleicht
zu sehr verdacht worden, und so zog sie eine unauffindbare Haltung vor.
Geht man die Verzeichnisse der Ja- und Neinabstimmnngen sowie der
Stimmenthaltungen prüfend durch, so füllt es doch schwer, prinzipielle Ursachen
für das Verhalten der Partei den einzelnen Gesetzen gegenüber aufzufinden.
Abgesehen davon, daß in den ersten Jahren eine Beteiligung an der positiven
Arbeit für den gehaßten „kapitalistischen" Staat überhaupt abgelehnt wurde,
machen die meisten spätern Abstimmungen den Eindruck, als wären sie mehr
durch das zufällige Ergebnis der vorhergehenden Fraktionsberatung als durch
geläuterte Anschauungen über die Aufgaben der Partei oder gar die Interessen
der Nation hervorgerufen worden. Eine Auflehnung gegen die Fraktions¬
tyrannei und ihre jeweilige Stellung spricht aus der Erklärung des Abgeordneten
Kayser zum Wuchergesetz. Vom Jahre 1899 an läßt sich eine Zunahme der
bejahenden Abstimmungen erkennen. Die „Nein" werden seltner, die Ent¬
haltung hört ganz auf. Will man hierin ein positives Mitarbeiten gegenüber
der absoluten Verneinung der ersten Jahre erkennen, so läßt sich dagegen
nichts einwenden. Ausschlaggebend für diese Wandlung scheint zu sein, daß
mit der Zunahme der sozialdemokratischen Wähler der von der Parteileitung
zu schonende Interessenkreis zu groß wird, und mit der Zunahme der Er¬
wählten die Neigung in demselben Maße abnimmt, der Tyrannis der Partei¬
leitung regelmäßig das Opfer des Intellekts zu bringen. Mit der reaktionären
Rückstündigkeit der Partei, wie der Reichskanzler sie so treffend gekennzeichnet
hat, geht es eben auf die Dauer doch nicht.
Die stärkere Beteiligung während der letzten Jahre läßt eher der Annahme
Raum, daß die bis in das letzte Jahrzehnt hinein revolutionäre Partei
— als solche war sie geboren und groß geworden —, wenigstens zum Teil
und sehr allmählich den Charakter einer radikalen Reformpartei anzunehmen
beginnt, und zwar unter dem Druck innerer, nicht äußerer Nötigung.
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