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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Die deutsche Socialdemokratie und die sozialpolitische
Gesetzgebung
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KP>le verhält es sich nun mit den 44 Ja-Abstimmungen? Gleich
bei der ersten ist ein Beweis überhaupt nicht zu erbringen. Es
handelt sich um das Gesetz vom 8. April 1868 betreffend die
Unterstützung der bedürftigen Familien zum Dienst ein-
! berufner Mannschaften der Ersatzreserve. Eine nament¬
liche Abstimmung fand nicht statt, doch wurde das Gesetz "einstimmig" ange¬
nommen. Wenn von den vier Sozialdemokraten, die damals im Reichstage
saßen, in der Sitzung der eine oder der andre anwesend war, hat er wohl
für die Vorlage gestimmt. Ein Beweis, daß keiner von ihnen anwesend war,
läßt sich nicht erbringen. Das nächste "Ja" finden wir erst am 18. Dezember 1884.
Es handelt sich um die Abänderung des Krankenversicherungsgesetzes
dahin, daß der Versicherte in den Hilfskasscn bleiben könne, auch wenn diese
bisher noch nicht die Forderungen des Krankenversicherungsgesetzes erfüllt
hatten. Die Sozialdemokratie hatte gegen das Krankenversicherungsgesetz ge¬
stimmt, stimmte aber nun für diese Abänderung. Wenigstens erklärte der
Abgeordnete Kayser, daß "ein Notstand vorliege." Daß die Sozialdemokratie
für die Vorlage gestimmt hat (Gesetz vom 28. Januar 1885), läßt sich danach
annehmen, mangels einer namentlicher Abstimmung aber ebenfalls nicht be¬
weisen. Am 1. Mai 1885 erklärte derselbe Abgeordnete bei der Ausdehnung
der von seiner Partei abgelehnten Unfall- und Krankenversicherung auf
Post, Eisenbahn, Fuhrwerk, Binnenschiffahrt usw.: "Ich darf von
vornherein erklären, daß meine Partei nur einer Notlage folgt, und weil
wir glauben, daß die in Paragraph 1 aufgeführten Personen, Industrien usw.
auch sehr wohl unfallversicherungsbedürftig sind, wollen wir für diesen Gesetz¬
entwurf, wie er vorliegt, stimmen" (S. 2464 des stenographischen Berichts).
Man sieht, mit der Logik hat sich die Partei nie aufgehalten, sobald das
Parteiinteresse in Frage kam. Dieses wäre freilich schwer geschädigt worden,
wenn man durch Ablehnung der Vorlage die davon betroffnen Kreise gegen die
Sozialdemokratie eingenommen hätte. Eine namentliche Abstimmung hat in
der entscheidenden Sitzung vom 6. Mai nicht stattgefunden. Ebensowenig bei
dem Gesetz vom 23. April 1886, das den Jnnungsverbänden die Korpo¬
rationsrechte verleiht. Nach der Rede des Abgeordneten Kranker vom
23. März 1886 ist die Annahme jedoch gerechtfertigt, daß die Partei für den
Gesetzentwurf gestimmt hat: "Ich habe im Namen meiner Partei zu erklären,
daß wir gar keinen Anstand nehmen, das Gesetz zu genehmigen." Auch über
das Gesetz vom 12. Juli 1887 betreffend den Verkehr mit Ersatzmitteln
für Butter hat keine namentliche Abstimmung stattgefunden, doch liegt die
Rede des Abgeordneten Sabor vom 26. März vor, in der es heißt: "Wir




Die deutsche Socialdemokratie und die sozialpolitische
Gesetzgebung
3

KP>le verhält es sich nun mit den 44 Ja-Abstimmungen? Gleich
bei der ersten ist ein Beweis überhaupt nicht zu erbringen. Es
handelt sich um das Gesetz vom 8. April 1868 betreffend die
Unterstützung der bedürftigen Familien zum Dienst ein-
! berufner Mannschaften der Ersatzreserve. Eine nament¬
liche Abstimmung fand nicht statt, doch wurde das Gesetz „einstimmig" ange¬
nommen. Wenn von den vier Sozialdemokraten, die damals im Reichstage
saßen, in der Sitzung der eine oder der andre anwesend war, hat er wohl
für die Vorlage gestimmt. Ein Beweis, daß keiner von ihnen anwesend war,
läßt sich nicht erbringen. Das nächste „Ja" finden wir erst am 18. Dezember 1884.
Es handelt sich um die Abänderung des Krankenversicherungsgesetzes
dahin, daß der Versicherte in den Hilfskasscn bleiben könne, auch wenn diese
bisher noch nicht die Forderungen des Krankenversicherungsgesetzes erfüllt
hatten. Die Sozialdemokratie hatte gegen das Krankenversicherungsgesetz ge¬
stimmt, stimmte aber nun für diese Abänderung. Wenigstens erklärte der
Abgeordnete Kayser, daß „ein Notstand vorliege." Daß die Sozialdemokratie
für die Vorlage gestimmt hat (Gesetz vom 28. Januar 1885), läßt sich danach
annehmen, mangels einer namentlicher Abstimmung aber ebenfalls nicht be¬
weisen. Am 1. Mai 1885 erklärte derselbe Abgeordnete bei der Ausdehnung
der von seiner Partei abgelehnten Unfall- und Krankenversicherung auf
Post, Eisenbahn, Fuhrwerk, Binnenschiffahrt usw.: „Ich darf von
vornherein erklären, daß meine Partei nur einer Notlage folgt, und weil
wir glauben, daß die in Paragraph 1 aufgeführten Personen, Industrien usw.
auch sehr wohl unfallversicherungsbedürftig sind, wollen wir für diesen Gesetz¬
entwurf, wie er vorliegt, stimmen" (S. 2464 des stenographischen Berichts).
Man sieht, mit der Logik hat sich die Partei nie aufgehalten, sobald das
Parteiinteresse in Frage kam. Dieses wäre freilich schwer geschädigt worden,
wenn man durch Ablehnung der Vorlage die davon betroffnen Kreise gegen die
Sozialdemokratie eingenommen hätte. Eine namentliche Abstimmung hat in
der entscheidenden Sitzung vom 6. Mai nicht stattgefunden. Ebensowenig bei
dem Gesetz vom 23. April 1886, das den Jnnungsverbänden die Korpo¬
rationsrechte verleiht. Nach der Rede des Abgeordneten Kranker vom
23. März 1886 ist die Annahme jedoch gerechtfertigt, daß die Partei für den
Gesetzentwurf gestimmt hat: „Ich habe im Namen meiner Partei zu erklären,
daß wir gar keinen Anstand nehmen, das Gesetz zu genehmigen." Auch über
das Gesetz vom 12. Juli 1887 betreffend den Verkehr mit Ersatzmitteln
für Butter hat keine namentliche Abstimmung stattgefunden, doch liegt die
Rede des Abgeordneten Sabor vom 26. März vor, in der es heißt: „Wir


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[0523] [Abbildung] Die deutsche Socialdemokratie und die sozialpolitische Gesetzgebung 3 KP>le verhält es sich nun mit den 44 Ja-Abstimmungen? Gleich bei der ersten ist ein Beweis überhaupt nicht zu erbringen. Es handelt sich um das Gesetz vom 8. April 1868 betreffend die Unterstützung der bedürftigen Familien zum Dienst ein- ! berufner Mannschaften der Ersatzreserve. Eine nament¬ liche Abstimmung fand nicht statt, doch wurde das Gesetz „einstimmig" ange¬ nommen. Wenn von den vier Sozialdemokraten, die damals im Reichstage saßen, in der Sitzung der eine oder der andre anwesend war, hat er wohl für die Vorlage gestimmt. Ein Beweis, daß keiner von ihnen anwesend war, läßt sich nicht erbringen. Das nächste „Ja" finden wir erst am 18. Dezember 1884. Es handelt sich um die Abänderung des Krankenversicherungsgesetzes dahin, daß der Versicherte in den Hilfskasscn bleiben könne, auch wenn diese bisher noch nicht die Forderungen des Krankenversicherungsgesetzes erfüllt hatten. Die Sozialdemokratie hatte gegen das Krankenversicherungsgesetz ge¬ stimmt, stimmte aber nun für diese Abänderung. Wenigstens erklärte der Abgeordnete Kayser, daß „ein Notstand vorliege." Daß die Sozialdemokratie für die Vorlage gestimmt hat (Gesetz vom 28. Januar 1885), läßt sich danach annehmen, mangels einer namentlicher Abstimmung aber ebenfalls nicht be¬ weisen. Am 1. Mai 1885 erklärte derselbe Abgeordnete bei der Ausdehnung der von seiner Partei abgelehnten Unfall- und Krankenversicherung auf Post, Eisenbahn, Fuhrwerk, Binnenschiffahrt usw.: „Ich darf von vornherein erklären, daß meine Partei nur einer Notlage folgt, und weil wir glauben, daß die in Paragraph 1 aufgeführten Personen, Industrien usw. auch sehr wohl unfallversicherungsbedürftig sind, wollen wir für diesen Gesetz¬ entwurf, wie er vorliegt, stimmen" (S. 2464 des stenographischen Berichts). Man sieht, mit der Logik hat sich die Partei nie aufgehalten, sobald das Parteiinteresse in Frage kam. Dieses wäre freilich schwer geschädigt worden, wenn man durch Ablehnung der Vorlage die davon betroffnen Kreise gegen die Sozialdemokratie eingenommen hätte. Eine namentliche Abstimmung hat in der entscheidenden Sitzung vom 6. Mai nicht stattgefunden. Ebensowenig bei dem Gesetz vom 23. April 1886, das den Jnnungsverbänden die Korpo¬ rationsrechte verleiht. Nach der Rede des Abgeordneten Kranker vom 23. März 1886 ist die Annahme jedoch gerechtfertigt, daß die Partei für den Gesetzentwurf gestimmt hat: „Ich habe im Namen meiner Partei zu erklären, daß wir gar keinen Anstand nehmen, das Gesetz zu genehmigen." Auch über das Gesetz vom 12. Juli 1887 betreffend den Verkehr mit Ersatzmitteln für Butter hat keine namentliche Abstimmung stattgefunden, doch liegt die Rede des Abgeordneten Sabor vom 26. März vor, in der es heißt: „Wir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/523>, abgerufen am 27.09.2024.