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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Holland und die Holländer

Bibelübersetzung, ein oberdeutscher Dialekt, die sächsische Kanzleisprache, zur
herrschenden Sprache erhoben, und in dieser Sprache wurde gepredigt und
wurden in der Folge obrigkeitliche Erlasse verkündigt; in dieser Sprache konnte
sich jeder Deutsche dem andern verständlich machen. Deshalb wurde sie in der
Schule gelehrt und verdrängte in jedem neuen Geschlecht vollständiger die
lokalen Dialekte, die daneben nur noch für das intimere heimische Leben be¬
halten blieben.

Im Norden war die neue Sprache so abweichend von dem gebräuchlichen
Dialekt, daß sie sich ganz von ihm abtrennte, und er als ein niedriger stehendes
Platt ein gesondertes Dasein führte. Der Süd- und der Mitteldeutsche aber
verstanden das seinem Idiom verwandte Hochdeutsch unmittelbar und hand¬
habten es sogleich, während sie die gewohnten Abweichungen aber nur unvoll¬
ständig ausmerzten. Daher kommt es dann, daß der norddeutsche das Hoch¬
deutsche wie eine fremde Sprache korrekter spricht, aber weit seltner sprachschöpferisch
bereichert.

Die niederdeutschen Dialekte Hollands unterwarfen sich nun aber nicht der
Vorherrschaft des Hochdeutschen, da dieses Land inzwischen auch politisch eine
selbständige und rühmliche Geschichte erlebte, die zu einem großen Teil auch
wieder auf den schon angedeuteten Charakter seiner Bewohner zurückgeführt
werden kann. Der niederdeutsche Dialekt wurde sonach zu einer vollständigen
Sprache, die alle Kennzeichen einer solchen hat. Als solche muß bekanntlich
gelten, daß man alle und jeden menschlichen Gedanken bequem darin aus¬
drücken kann, was mit einem Dialekt ja nicht der Fall ist. Eine philosophische
Abhandlung läßt sich weder im flämischen noch im mecklenburgischen Dialekt
schreiben, und ebensowenig in der pfälzischen oder der oberbayrischen Mundart,
wenigstens nicht ohne fortwährend von den wirklichen, nach allen Richtungen
ausgebauten Sprachen die wichtigsten Ausdrücke zu entlehnen.

Es ist merkwürdig, wie häufig dieses so einfache Verhältnis in dem uns
interessierenden Falle verkannt wird. Von holländischer Seite aus wird manch¬
mal die nahe Verwandtschaft mit dem Deutschen geleugnet, offenbar in der
freilich zunächst verschwiegnen Absicht, daß nicht ungewünschte politische Folge¬
rungen aus dieser Beziehung gezogen werden sollen; und von deutscher Seite,
auf der das Übelwollen kleiner, aber die Unkenntnis des Zustandes oft noch
größer ist, wird zuweilen das Holländische als bloßer plattdeutscher Dialekt
oder gar als verdorbnes Deutsch bezeichnet. Man will es dem Hochdeutschen
unterordnen statt beiordnen, was natürlich ebenso verkehrt ist.

Hierzu mag allerdings beitragen, daß das Holländische, soweit es vom
deutschen Ohr unmittelbar verstanden wird, oder besser gesagt, soweit man es
zu verstehn glaubt -- denn es laufen bei der Identität der Wurzeln manche
Mißverständnisse mit unter --, oft recht läppisch klingt. Das ist aber, wenn¬
schon in geringerm Grade, auch umgekehrt der Fall und rührt daher, daß das
holländische Idiom, das mehr unmittelbar aus dem Leben schöpft, das naivere
ist. Es kommt darin dem Englischen nahe und eignet sich deshalb besonders
zur Intimität des Ausdrucks, während das abstraktere Hochdeutsch mehr zur
volltönenden Rhetorik und namentlich zur wissenschaftlichen Ausdrucksweise


Holland und die Holländer

Bibelübersetzung, ein oberdeutscher Dialekt, die sächsische Kanzleisprache, zur
herrschenden Sprache erhoben, und in dieser Sprache wurde gepredigt und
wurden in der Folge obrigkeitliche Erlasse verkündigt; in dieser Sprache konnte
sich jeder Deutsche dem andern verständlich machen. Deshalb wurde sie in der
Schule gelehrt und verdrängte in jedem neuen Geschlecht vollständiger die
lokalen Dialekte, die daneben nur noch für das intimere heimische Leben be¬
halten blieben.

Im Norden war die neue Sprache so abweichend von dem gebräuchlichen
Dialekt, daß sie sich ganz von ihm abtrennte, und er als ein niedriger stehendes
Platt ein gesondertes Dasein führte. Der Süd- und der Mitteldeutsche aber
verstanden das seinem Idiom verwandte Hochdeutsch unmittelbar und hand¬
habten es sogleich, während sie die gewohnten Abweichungen aber nur unvoll¬
ständig ausmerzten. Daher kommt es dann, daß der norddeutsche das Hoch¬
deutsche wie eine fremde Sprache korrekter spricht, aber weit seltner sprachschöpferisch
bereichert.

Die niederdeutschen Dialekte Hollands unterwarfen sich nun aber nicht der
Vorherrschaft des Hochdeutschen, da dieses Land inzwischen auch politisch eine
selbständige und rühmliche Geschichte erlebte, die zu einem großen Teil auch
wieder auf den schon angedeuteten Charakter seiner Bewohner zurückgeführt
werden kann. Der niederdeutsche Dialekt wurde sonach zu einer vollständigen
Sprache, die alle Kennzeichen einer solchen hat. Als solche muß bekanntlich
gelten, daß man alle und jeden menschlichen Gedanken bequem darin aus¬
drücken kann, was mit einem Dialekt ja nicht der Fall ist. Eine philosophische
Abhandlung läßt sich weder im flämischen noch im mecklenburgischen Dialekt
schreiben, und ebensowenig in der pfälzischen oder der oberbayrischen Mundart,
wenigstens nicht ohne fortwährend von den wirklichen, nach allen Richtungen
ausgebauten Sprachen die wichtigsten Ausdrücke zu entlehnen.

Es ist merkwürdig, wie häufig dieses so einfache Verhältnis in dem uns
interessierenden Falle verkannt wird. Von holländischer Seite aus wird manch¬
mal die nahe Verwandtschaft mit dem Deutschen geleugnet, offenbar in der
freilich zunächst verschwiegnen Absicht, daß nicht ungewünschte politische Folge¬
rungen aus dieser Beziehung gezogen werden sollen; und von deutscher Seite,
auf der das Übelwollen kleiner, aber die Unkenntnis des Zustandes oft noch
größer ist, wird zuweilen das Holländische als bloßer plattdeutscher Dialekt
oder gar als verdorbnes Deutsch bezeichnet. Man will es dem Hochdeutschen
unterordnen statt beiordnen, was natürlich ebenso verkehrt ist.

Hierzu mag allerdings beitragen, daß das Holländische, soweit es vom
deutschen Ohr unmittelbar verstanden wird, oder besser gesagt, soweit man es
zu verstehn glaubt — denn es laufen bei der Identität der Wurzeln manche
Mißverständnisse mit unter —, oft recht läppisch klingt. Das ist aber, wenn¬
schon in geringerm Grade, auch umgekehrt der Fall und rührt daher, daß das
holländische Idiom, das mehr unmittelbar aus dem Leben schöpft, das naivere
ist. Es kommt darin dem Englischen nahe und eignet sich deshalb besonders
zur Intimität des Ausdrucks, während das abstraktere Hochdeutsch mehr zur
volltönenden Rhetorik und namentlich zur wissenschaftlichen Ausdrucksweise


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[0520] Holland und die Holländer Bibelübersetzung, ein oberdeutscher Dialekt, die sächsische Kanzleisprache, zur herrschenden Sprache erhoben, und in dieser Sprache wurde gepredigt und wurden in der Folge obrigkeitliche Erlasse verkündigt; in dieser Sprache konnte sich jeder Deutsche dem andern verständlich machen. Deshalb wurde sie in der Schule gelehrt und verdrängte in jedem neuen Geschlecht vollständiger die lokalen Dialekte, die daneben nur noch für das intimere heimische Leben be¬ halten blieben. Im Norden war die neue Sprache so abweichend von dem gebräuchlichen Dialekt, daß sie sich ganz von ihm abtrennte, und er als ein niedriger stehendes Platt ein gesondertes Dasein führte. Der Süd- und der Mitteldeutsche aber verstanden das seinem Idiom verwandte Hochdeutsch unmittelbar und hand¬ habten es sogleich, während sie die gewohnten Abweichungen aber nur unvoll¬ ständig ausmerzten. Daher kommt es dann, daß der norddeutsche das Hoch¬ deutsche wie eine fremde Sprache korrekter spricht, aber weit seltner sprachschöpferisch bereichert. Die niederdeutschen Dialekte Hollands unterwarfen sich nun aber nicht der Vorherrschaft des Hochdeutschen, da dieses Land inzwischen auch politisch eine selbständige und rühmliche Geschichte erlebte, die zu einem großen Teil auch wieder auf den schon angedeuteten Charakter seiner Bewohner zurückgeführt werden kann. Der niederdeutsche Dialekt wurde sonach zu einer vollständigen Sprache, die alle Kennzeichen einer solchen hat. Als solche muß bekanntlich gelten, daß man alle und jeden menschlichen Gedanken bequem darin aus¬ drücken kann, was mit einem Dialekt ja nicht der Fall ist. Eine philosophische Abhandlung läßt sich weder im flämischen noch im mecklenburgischen Dialekt schreiben, und ebensowenig in der pfälzischen oder der oberbayrischen Mundart, wenigstens nicht ohne fortwährend von den wirklichen, nach allen Richtungen ausgebauten Sprachen die wichtigsten Ausdrücke zu entlehnen. Es ist merkwürdig, wie häufig dieses so einfache Verhältnis in dem uns interessierenden Falle verkannt wird. Von holländischer Seite aus wird manch¬ mal die nahe Verwandtschaft mit dem Deutschen geleugnet, offenbar in der freilich zunächst verschwiegnen Absicht, daß nicht ungewünschte politische Folge¬ rungen aus dieser Beziehung gezogen werden sollen; und von deutscher Seite, auf der das Übelwollen kleiner, aber die Unkenntnis des Zustandes oft noch größer ist, wird zuweilen das Holländische als bloßer plattdeutscher Dialekt oder gar als verdorbnes Deutsch bezeichnet. Man will es dem Hochdeutschen unterordnen statt beiordnen, was natürlich ebenso verkehrt ist. Hierzu mag allerdings beitragen, daß das Holländische, soweit es vom deutschen Ohr unmittelbar verstanden wird, oder besser gesagt, soweit man es zu verstehn glaubt — denn es laufen bei der Identität der Wurzeln manche Mißverständnisse mit unter —, oft recht läppisch klingt. Das ist aber, wenn¬ schon in geringerm Grade, auch umgekehrt der Fall und rührt daher, daß das holländische Idiom, das mehr unmittelbar aus dem Leben schöpft, das naivere ist. Es kommt darin dem Englischen nahe und eignet sich deshalb besonders zur Intimität des Ausdrucks, während das abstraktere Hochdeutsch mehr zur volltönenden Rhetorik und namentlich zur wissenschaftlichen Ausdrucksweise

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/520>, abgerufen am 27.09.2024.